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Ausgabe:

1970

Spalte:

126-127

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Geschichte des Protestantismus von 1789 - 1848 1970

Rezensent:

Kupisch, Karl

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2

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römischen Ordo Missae in dreißig Tagen ausscheiden. Freilich,
gerade im Umkreis der Ostkirche begegnen bis heute manche Gestalten
dieser Art, deren Lebensweg von großem Sendungsbewußtsein
, aber auch von mancherlei Enttäuschung gezeichnet ist. Dafür
ist Overbeck ein typisches Beispiel.

In seiner Marburger Habilitationsschrift ist Kahle den Spuren
Overbecks nachgegangen, die in Bibliotheken, Archiven und Zeitschriften
weit verstreut sind. Mit großer Sorgfalt wurden einzelne
Details zusammengetragen und ausgewertet, die sich zu einem
geschlossenen Bild der Persönlichkeit runden. Die Grundlage bildet
vor allem der im Britischen Museum in London aufbewahrte Briefwechsel
zwischen Overbeck und Olga Novikov, der Schwester des
durch seine Verbindung mit dem Altkatholizismus bekannten
russischen Generals Alexandr A. Kireev. Aus dieser Korrespondenz
werden auch längere Auszüge in den Anmerkungen und im Anhang
mitgeteilt. Außerdem hat Kahle eine Bibliographie zusammengestellt
, die auch Rezensionen und Leserzuschriften Overbecks
umschließt. Zu den Übersetzungen wäre die russische Ausgabe der
oben erwähnten Schrift zu ergänzen: Svet s vostoka. Vzglad na
kafoliceskoe pravoslavie sravnitel'no s papstvom i protestanstvom.
Wilna IC Co. Nicht aufgezählt sind die orientalistischen Arbeiten
Overbecks; sie werden jedoch im Text erwähnt.

In der Darstellung wird nun vorgeführt: 1. Overbecks Weg
und Anliegen, 2. Overbecks Begegnung und Auseinandersetzung
mit den Kirchen in West und Ost; 3. Eingliederung und Wertung
Overbecks.

Overbeck lebte von 1821 bis 1905, stammte aus Kleve und
wurde zunächst katholischer Priester, studierte vor allem Orientalistik
und hielt als Privatdozent in Bonn Vorlesungen über Altes
Testament und Patristik. 1857 gab er seine Dozentur an der katholischen
theologischen Fakultät auf und wurde evangelisch. Ausgelöst
wurde die Konversion offenbar durch die Kritik am Dogma
von der unbefleckten Empfängnis, an den Vorbereitungen zur Definition
der päpstlichen Unfehlbarkeit, und in dieser Hinsicht gehörte
Overbeck als liberaler Theologe zu den zahlreichen Vorläufern
des späteren Altkatholizismus. Ohne eine gesicherte Existenz
geht Overbeck nach London, wo er unter kümmerlichen Umständen
seine orientalischen Studien betreibt und seine Familie mühselig
über Wasser hält. Hier konvertiert er schließlich 1865 zur
orthodoxen Kirche.

Overbeck ist zeit seines Lebens auf der Suche nach der wahren
Kirche gewesen, und in der Kirche des Ostens meinte er sie gefunden
zu haben. Ob er in England auch von der Oxford-Bewegung
beeinflußt ist, ist nicht erkennbar. Mit Pusey geriet er, wie
Kahle berichtet, jedenfalls in Kollisionen, und an der römischen
Tendenz war er zweifellos nicht mehr interessiert. Die anglikanische
Zweigtheorie hat er mindestens als Prinzip der Kirchen-
vercinigung abgelehnt. Trotzdem hat er sich immer wieder energisch
und ähnlich wie aus der Oxford-Bewegung William Palmer,
bei orthodoxen Synoden und Hierarchen um die Anerkennung
seiner in der römischen Kirche empfangenen Priesterweihe bemüht
- ergebnislos.

Besonders ausführlich analysiert Kahle die Kirchenkritik und
die Einigungsvorstcllung Overbecks, die unter dem Stichwort
.westliche Orthodoxie* stehen. Dabei wird Overbeck zu Recht als
ein „Orthodoxer des Dogmas" (163) bezeichnet. Denn sein Konzept
besteht in der Rückkehr des Westens zum altkirchlichen Konsensus
der sieben ersten ökumenischen Konzile, und das Filioque
gehört für ihn ebenfalls zu den wichtigsten Symptomen des westlichen
Abfalls von der kirchlichen Einheit, die nur im Osten gewahrt
wurde. Dabei begegnen überraschende Übereinstimmungen
mit der Kritik des christlichen Westens, wie sie sich in den Schriften
des russischen religiösen Philosophen A. S. Chomjakov finden.
Kahle macht S. 106 darauf aufmerksam. Vielleicht könne man hier
noch weiter vordringen, zumal diese Konzeption im vorigen Jahrhundert
des öfteren vertreten und modifiziert worden ist. Das gilt
auch für das Schlagwort der westlichen Orthodoxie, das bis heute,
besonders in Frankreich, noch sehr lebendig ist und wiederholt
zur Gründung eigener kirchlicher Gruppen mit orthodoxer Provenienz
oder Tendenz geführt hat.

Mit seiner offenbar wenig konzilianten Haltung und der
Radikalität, mit der er seine kirchlichen Einsichten durchzusetzen
versuchte, hat sich Overbeck jedoch überall z. T. sogar erbitterte
Gegner geschaffen. Dies zeigt besonders seine Rolle, die er bei
den Altkatholikenkongressen spielte, nachdem seine anfänglichen
Hoffnungen, hier die Idee einer mit dem Osten vereinigten westlichen
Orthodoxie durchzusetzen, scheiterten.

Die letzte Frage ist, wie man Overbeck historisch einordnet
und welches seine Bedeutung für die Orthodoxie und die ökumenische
Arbeit. Kahle verweist hierzu auf die Fülle persönlicher
Beziehungen, die Overbeck nachweislich gehabt hat, sowie auf
manche Ideen, die er mit anderen gemeinsam hat. Genauere Nachweise
stoßen jedoch in manchen Fällen auf Schwierigkeiten.

Wie aber steht es mit der ökumenischen Bedeutung Overbecks
? Das Urteil ist nicht einfach, und Kahle ist bemüht, zu dem
durch manche Polemik verdeckten Kern von Overbecks Anliegen
vorzudringen. Gegen Overbeck spricht nicht zuletzt sein merkwürdig
unhistorischer Dogmatismus in seiner schematisierenden
Gegenüberstellung von Ost und West. Wenn man mit Kahle auf
die Gefahren eines dogmatisch unverbindlichen „nachbarlichen
Dauergesprächs" (255) und eines dogmatischen Minimalismus
(76'255 279) blickt, die gewiß auch in der neueren ökumenischen
Bewegung nicht zu übersehen sind, dann ist Overbeck zweifellos
einer derjenigen, denen es mit tiefem Ernst darum geht, klare
Grenzen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie, zwischen Wahrheit
und Irrtum zu ziehen. Doch ob er etwas von dem „ökumenischen
Verständnis des August-Hermann-Francke-Kreises" gehabt
hat, erscheint mehr als zweifelhaft. Eher ist Overbeck Vertreter
eines Unionismus, der mit dem am Entwicklungsgedanken orientierten
Abfallsschema arbeitet und zudem eine sehr formalistische
Auffassung von Dogma und Kirche hat. Daß Overbeck damit ganze
Epochen zumal der westlichen Kirchengeschichte einfach überspringt
, zeigt auch Kahle und sagt dazu: „Das macht seine Ansicht
sektiererisch, weil er keine Auskunft über die innere Kontinuität
westlicher Kirchengeschichte zu geben vermag" (277).

Wesentlich schwerer wiegt aber wohl, daß Overbeck sehr viel
von Dogmen, orthodoxen und heterodoxen Tendenzen zu sagen
weiß, aber überhaupt nichts von der Schrift, vom Evangelium, von
der Erlösung. Selbst der in seiner Polemik gewiß nicht kleinliche
Chomjakov hat hier tiefer gesehen und ernster geurteilt. Overbecks
Anliegen mag noch so aufrichtig gewesen sein, sein Weg
war tragisch, seine Vorschläge kann man nur als eindeutig theologisch
falsch beurteilen. Aber, und darin liegt der über das bloß
Biographische hinausgehende Wert dieser Untersuchung, Gedanken
dieser Art begegnen auch heute noch und bedürfen einer
kritischen Beleuchtung ihrer Voraussetzungen und ihrer Konsequenzen
.

Heidelberg Reinhard Slenczlca

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Geschichte des Protestantismus
von 1789-1848. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
[1969). 176 S. 8° = Evangelische Enzyklopädie, hrsg. von H.
Thielicke u. H. Thimme, Bd. 21. Kart. DM 8.80.

In Kantzenbachs auf acht Bände berechneten Kirchengeschichte
gilt dieser vorletzte einem für die Geschichte des Protestantismus
wichtigen Zeitalter. In diesem Zeitabschnitt sind die aus der
christlich-kirchlichen Tradition stammenden Fragen in einer
geradezu erregenden geistesgeschichtlichen Metamorphose noch
einmal auf eine Höhe gehoben worden, bevor sie nach einem
Prozeß der fortschreitenden Erstarrung der Orkan des Zeitalters
der Weltkriege und Weltrevolution in die Tiefe riß. So will der Vf.
in diesem Band auch mehr den „politischen Rahmen und institutionellen
Hintergrund" der Entwicklung aufzeigen. Ob ihm das
wirklich geglückt ist, wagt der Rez. zu bezweifeln. Man wird freilich
bei einem Werk, das nicht für den Fachmann, sondern eben
als Enzyklopädie für den nach Unterrichtung suchenden willigen
Leser gedacht ist, Zusammenraffungen und Verkürzungen berücksichtigen
müssen. So werden in Überblicken u. a. behandelt:
Hamann-Herder, Kant, die Religion der deutschen Klassiker und
des Idealismus, die Erweckung, die preußische Union, die Reaktionszeit
, Strauß, Feuerbach, Ferd. Chr. Baur, schließlich einige
Vertreter des Neuluthertums: Hengstenberg, Löhe, Vilmar und
Hofmann. Vieles ist freilich nur nebeneinander gereiht. Eine erstaunliche
Stoffülle, aber es fehlt das Senkblei, das in die Tiefe
führt. Fast nur konventionelle, oft gehörte Urteile. Worin die Bedeutung
der Zeitspanne von 1789 bis 1848 besteht, wird in ihrer
Rückwirkung auf die proteusartige Gestalt des Protestantismus als
Weltverständnis leider nicht deutlich. Da ich in einer Rezension des
Schlußbandes (ThLZ 94, 1969 Sp. 450 f.) schon einige Einwände
erhob, will ich es hier nur mit einem Hinweis bewenden lassen.
Sehr zu bedauern ist, daß ein Abschnitt über die Genesis der sozialen
Bewegungen der Zeit fehlt. Was der Anbruch des Maschinenzeitalters
für den Wandel von Familie und Gesellschaft bedeutete,
wie gerade die Frühsozialisten Bibel, Christentum und Kirche
- vergeblich! - anriefen, das dürfte in einer modernen Kirchengeschichte
nicht fehlen. Kirchengeschichte kann nicht nur vom
Hochsitz der Geistesmenschen aus betrachtet werden, sondern auch
aus der Lebenswelt derer, die sich, freilich in abnehmender Zahl,
noch immer unter den Kanzeln einfanden. Fast alle Abschnitte des
Buches hätten dem Vf. Anlaß sein können, aus der Bücherwelt in
das verdunkelte Kirchenschiff hinabzusteigen. Er hätte dort kaum
einen der geistigen Repräsentanten jenes Zeitalters angetroffen.
Auch das wäre doch eines sehr konkret zu behandelnden Abschnitts
wert gewesen. Aber auch in den Wappensälen der geistigen Elite
hätte ich mir im Interesse des unkundigen Lesers ein viel männlicheres
Auftreten gewünscht. Schließlich hätte der Vf. auch im
eigenen Hause auf den mutigen Gebrauch der kritischen Sonde