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Ausgabe:

1970

Spalte:

120-122

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Junghans, Helmar

Titel/Untertitel:

Ockham im Lichte der neueren Forschung 1970

Rezensent:

Grane, Leif

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119 Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2 120

Schirmer, Arno: Das Paulusverständnis Melanchthons 1518-1522.

Wiesbaden: Steiner 1967. XI, 104 S. 8° - Veröffentlichungen d.
Inst. f. europäische Geschichte Mainz, Bd. 44, Abt. Abendländische
Religionsgeschichte, hrsg. von J. Lortz. Lw. DM 24.-.

Der Dritte internationale Kongreß für Lutherforschung in
Finnland (1966) hatte gezeigt, daß es heute eine namhafte katholische
Lutherforschung gibt. In dem vorliegenden Buch meldet sich
nun auch ein katholischer Melanchthonforscher zu Wort und stellt
seine Vertrautheit mit den Quellen und der Sekundärliteratur unter
Beweis. Die früheste Theologie Melanchthons wird untersucht und
mit der des Erasmus und Luthers verglichen. Gesichtspunkte, die
in der bisherigen Forschung nicht schon geäußert sind, werden aufs
Ganze gesehen, nicht gewonnen. Das Buch bietet eine Zusammenfassung
der bisherigen Forschung; eine intensive Auseinandersetzung
mit den anstehenden Problemen der Melanchthonfor-
schung unterbleibt.

Der Vf. verbindet mit seiner Untersuchung eine aktuelle Frage.
Protestantischerseits ist oft geäußert worden, die Reformatoren
hätten Paulus wiederentdeckt. Trifft diese Feststellung zu? A.
Schirmer erklärt, „daß damit auch die Frage nach dem Recht der
Reformation gestellt ist" (S. X). Melanchthons Theologie bietet sich
für eine Nachprüfung besonders an, da der Praeceptor Germaniae
nicht nur die Rechtfertigungslehre, vielmehr den gesamten Römerbrief
als Schlüssel zur Bibel bezeichnet. Im Schlußkapitel (S. 90 ff.)
wird das Ergebnis der Untersuchung vorgelegt. Der Vf. formuliert:
„Die Reformatoren dachten von neuem über die Bedeutung des
Gesetzes nach. Es war ein grundsätzlicher Unterschied zur exegetischen
Tradition und auch zur erasmischen Exegese, daß das Gesetz
von ihnen im Sinne des Apostels als Gesamtheit, die die kultischen
und sittlichen Gebote umfaßt, verstanden wurde. Gesetz,
Sünde und Gnade sind die Hauptpunkte der christlichen Lehre, die
Melanchthon in dem Römerbrief gefunden hatte". Das Gesetz
deckt die Sünde auf, die „Gnade ist die Vergebung der Sünden
und die Gabe des heiligen Geistes. . . . Damit sind paulinische
Kerngedanken aufgenommen" (S. 91 f.). Melanchthons Theologie
der Frühzeit wird eine „Theologie des Geistes" genannt (S. 92). Sie
wird kritisch betrachtet: Ein „lebhaftes Interesse" an dem neuen
Leben des Glaubenden ist festzustellen, der paulinische Gedanke
der Christusgemeinschaft fehlt indessen (S. 93). Weniger als Luther
denkt Melanchthon über die im Christen verbleibende Sünde nach;
die Rechtfertigung nennt er begonnen, nicht aber vollendet. Er
nimmt daher den paulinischen Imperativ auf, doch wird „das Verhältnis
zwischen Glaubensbotschaft und Paränese, das Verhältnis
von Indikativ und Imperativ nicht beachtet" (S. 93). Alle diese
Einwände sind von Luther- und Melanchthonforschern bereits
früher erhoben worden. Sie gruppieren sich um den Begriff der
melanchthonischen Gesetzlichkeit.

Einen weiteren Schritt unternimmt der Vf., wenn er schließlich
Melanchthons (und Luthers) Ansichten den exegetischen Ergebnissen
Bultmanns, Käsemanns und G. Bornkamms konfrontiert,
d. h. Ergebnissen der Erforschung paulinischer Theologie, die in
der Reformationszeit zumeist völlig unbekannt waren. Parusie-
verzögerung, Vorrang der Welt vor dem Individuum, Apokalyptik,
Paulus als Wegbereiter des Frühkapitalismus usw. (S. 95 ff.). Ihre
Anwendung auf die Melanchthonforschung kann jedoch nur unter
Vorbehalten erfolgen, weil es sich bei ihnen um Ergebnisse handelt
, über die noch heftig diskutiert wird. Es ist daher noch nicht
ausgemacht, wie groß der Abstand der Reformatoren von der
paulinischen Theologie wirklich ist.

Obgleich die Frage nach dem Recht der Reformation aufgeworfen
ist, zieht der Vf. kein Fazit. Es würde sicherlich im Sinne
der (auf S. 9 erwähnten) These J. Lortz's ausfallen, Luther sei kein
„Vollhörer der Schrift" gewesen, und sie auch für Melanchthon
bestätigen. Indessen erweist sich die Basis der Untersuchung in
doppelter Hinsicht als zu schmal. Erstens beruft sich A. Schirmer
für den Übergang Melanchthons zur Reformation auf die ältere
Forschung, beachtet aber E. Bizers Datierung - der Eindruck der
Osterpredigt Luthers vom 8. April 1520 — nicht. Bizers Melan-
chthonbuch arbeitet gerade das Wesen des reformatorischen Gnadenbegriffes
heraus: Gnade ist Gnade im Verkündigungswort. Als
Katholik sollte dem Vf. die Tragweite der Abwendung von der
gratia infusa besonders augenfällig sein. Die Erörterung des reformatorischen
Schriftverständnisses ist daher auch recht unbestimmt
(S. 37 ff.). (Des Erasmus Schriftverständnis im dritten
Kapitel stellt sich anders dar, wenn man die Untersuchung von
A. Rieh, Die Anfänge der Theologie Huldrych Zwingiis, Zürich
1949 S. 25 ff., beachtet). Obgleich der Vf. Melanchthons Ablösung
des Begriffes der Gnade durch den des Evangeliums notiert (S. 82;
jedoch schon in den Capital), läßt er sie im Schlußkapitel unbeachtet
. Melanchthons Wandlung von einer „Theologie des Geistes"
zu einer reformatorischen Theologie des Wortes bleibt unberücksichtigt
. Und doch ist gerade die Rechtfertigungslehre der Reformatoren
, auf die der Vf. immer wieder zu sprechen kommt, ohne

das neue Wortverständnis unverständlich. In seinem berühmte*
Selbstzeugnis von 1545 erklärt Luther, daß seine Entdeckung in
einem Doppelten bestanden habe: Rom. 1,17 habe ihm die iustifi-
catio als donum dei verstehen gelehrt und zwar per evangelium
(WA 54, 186; vgl. E. Bizer, Fides ex auditu, '1958 S. 147 ff.). Immerhin
wird erwähnt, daß gerade die Definition des Gesetzes und
Evangeliums in den Loci von 1521 in eine biblische Weite führe.
„Die überragende Bedeutung der Paulinen wird gemindert" (S. 83).

Der zweite Einwand ergibt sich aus dem Gesagten: Die Abwendung
von der katholischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre
erst läßt die reformatorische Lehre verständlich werden. Eine Darstellung
des frühesten melanchthonischen Paulinismus ist nicht
möglich, ohne auf die scholastische Lehre einzugehen. Der Bezug
auf Luther und Erasmus genügt nicht. Auch ist die Problemstellung
allzusehr vereinfacht, wenn man den reformatorischen Paulinismus
an heutigen exegetischen Ergebnissen mißt. Der kritisierte
Individualismus der Rechtfertigungslehre z. B. ist mittelalterliches
Erbe. Konfrontiert man die Reformatoren der scholastischen
Theologie, so ergibt sich, daß sie sehr wohl Paulus wiederentdeckt
haben, wenn auch in manchem ungenügend.

Es kann nur begrüßt werden, daß die katholische Reformationsforschung
sich jetzt auch Melanchthon zuwendet. Das vorliegende
Buch liefert darum einen wertvollen Beitrag. So mancher
Gedanke in dem knappgefaßten Werk wäre noch erwähnenswert.
Der zur Verfügung stehende Platz erlaubt es nicht.

Münster Wilhelm H. Neuser

Junghans, Helmar: Ockham im Lichte der neueren Forschung.

Berlin-Hamburg: Lutherisches Verlagshaus 1968. 367 S„ 1 Taf.
gr. 8° = Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums,
hrsg. v. W. Maurer, K. H. Rengstorf, E. Sommerlath u. W. Zimmermann
, XXI. DM 40.-.

Dem Titel entsprechend bezeichnet der Vf. seine vorliegende
Dissertation, in Leipzig bei Franz Lau entstanden, als eine forschungsgeschichtliche
Arbeit. Das leitende Interesse war ursprünglich
: die Frage nach der Bedeutung der neuen Ockhamforschung
für das Verhältnis zwischen Luther und Ockham. Der Umfang des
zu bearbeitenden Materials führte aber mit sich, daß die Untersuchung
zunächst auf die Ockhamforschung beschränkt werden
mußte. Ja, selbst hier wurden Abgrenzungen nötig. J. konzentrierte
sich dann auf die Forschung von Philotheus Böhner. Wer eine
Übersicht über die eindrucksvolle Arbeitsleistung des deutschen
Franziskaners sucht, geht nicht vergebens zu diesem Buch. Böhner
stand aber in lebendiger Auseinandersetzung und Zusammenarbeit
mit so vielen anderen, daß das Buch zu einer breiten Einführung
in die ganze Diskussion der modernen Ockhamforschung wird.
Dadurch werden nicht nur die zahlreichen Editionen und Aufsätze
Böhners, sondern auch Bücher und Diskussionsbeiträge seiner
Gegner und Mitarbeiter ausführlich besprochen. Will man sich
schnell in der Ansicht irgendeines bedeutenden Ockhamforschers
orientieren, wird man meistens bei J. Auskunft bekommen. Das
Urteil des Vf.s ist an den meisten Stellen ruhig und wohlbedacht,
von der Bescheidenheit geprägt, die mit dem Genre der „Forschunsgeschichte
" geboten ist. Nur wenn er auf Vertreter der alten,
geläufigen Auffassung stößt, die immer noch auf dem überlieferten
Ockhambild beharren, wird er ungeduldig, was vielleicht
nicht unverständlich ist. Meint man, die Interpretation Böhners
ist in den Grundzügen korrekt, ist es mit einer gewissen Schwierigkeit
verbunden, z. B. der Lortz-Schule gegenüber, Geduld und
Toleranz aufrechtzuerhalten.

Nach einer kurzen Biographie Böhners bespricht der Vf., auch
in aller Kürze, „die Haupttypen der alten Ockhamdarstellungen",
d. h. bis auf Luther. Es folgt die Besprechung einiger Ockham-
biographischen Details, die durch Böhner und andere in neuerer
Zeit untersucht und korrigiert worden sind. Viel wichtiger ist aber
der erste Hauptteil: „Die Echtheit und die Chronologie der Ockham
zugeschriebenen Schriften" (S. 42-108). Hier liefert der Vf. eine
eingehende Darstellung der Diskussion über alle in Frage kommenden
Schriften. Bei jeder Schrift ist ein Verzeichnis der Drucke
zugefügt. Jeder, der sich mit Ockham beschäftigen will, verfügt
hier über ein vorzügliches Nachschlagewerk. Der Vf. hat sich große
selbstlose Mühe gegeben, um alles Wesentliche zu verzeichnen.

Die eigentliche Forschungsleistung dieser Arbeit liegt aber im
nächsten Hauptteil: „Fragen zur Lehre Ockhams" (S. 109-325). J.
hat seine Darstellung so disponiert, daß er eine Reihe der geläufigen
Behauptungen über Ockham, mit Fragezeichen versehen, als
Leitsätze nimmt, um dadurch die anders geartete Auffassung
Böhners und der modernen Ockhamforschung überhaupt in Relief
zu stellen, z.B.: „War Ockham in der Erkenntnistheorie ein
Skeptiker?", „War bei Ockham Realwissenschaft möglich?", „Verursachte
Ockham den Zerfall der kirchlichen Einheit?" Beim ersten
Blick wirkt es etwas merkwürdig, daß der Vf. sich offenbar so
durchgehend auf die Ablehnung der älteren Ockhamforschung
bezieht, aber gerade mit Hinblick auf Böhner muß man erkennen.