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Ausgabe:

1970

Spalte:

90-91

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gaiffier, Baudouin de

Titel/Untertitel:

Études critiques d'hagiographie et d'iconologie 1970

Rezensent:

Thümmel, Hans Georg

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2

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aus dem 2. und 3. Teil des rabbinischen Kanons auch divergierende
Formen haben konnten" (S. 217). — H. F. W e i s s trägt ein Plädoyer
für den Hebräerbrief mit dem Titel „Der Hebräerbrief als Predigttext
" vor: Da es sich bei diesem Brief selbst um eine „seelsorgerliche
Predigt in eine ganz bestimmte Zeit und Situation hinein"
handelt (S. 314), will er - im Sinne der „Analogie" nach K. Fror -
Mut machen zur Predigt auch über diese in mancher Hinsicht so
rätselhafte Schrift des Neuen Testaments (S. 318). - M. Weise
setzt sich unter dem Titel „Das Vaterunser in .konsequent'-existen-
tialer Interpretation" mit einer Predigtmeditation von Herbert
Braun über Mt 6, 5-13 auseinander, vor allem mit dessen bekannter
Formulierung: „Der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner
Mitmenschlichkeit, impliziert Gott". Dagegen wendet M. Weise ein:
„Mit dem weltlichen Umdenkungsprozeß ist bei Herbert Braun
Gott in seiner alle Wirklichkeit bestimmenden Wirklichkeit aufgegangen
, in die (wenn auch eine entscheidende!) Modalität des
je sich ereignenden Verstehens von Existenz, deren Bewußtwerdung
sich in Meditation vollzieht" (S. 309).

Zu den Grundsatzfragen der Praktischen Theologie äußert sich
J. B. Jeschke: „Zum Gespräch über das Selbstverständnis der
Praktischen Theologie". Die Aufgabe der Praktischen Theologie
„besteht darin, nach der Wirklichkeit des Wortes Gottes zu fragen",
und insbesondere „darauf zu achten, wie das Wort Gottes wirken
will" (S. 131). - M. Fischer behandelt „Probleme der Seelsorge
an Jugendlichen und Erwachsenen". Dabei wird mit Recht die
indirekte Methode der Seelsorge hervorgehoben und mit Nachdruck
betont, da5 es auf die Seelsorge Gottes am Menschen ankommt
. - Heinz Wagner erwägt mit Sachkunde und Engagement
die Gründe und Gegengründe für die „Wahrheit am Krankenbett
". Mit Recht wird in sehr übersichtlicher und überzeugender
Weise die Frage nach der Wahrheit am Krankenbett als ein Paradigma
der Seelsorge dargestellt. „In konzentrierter Weise werden
hier die Möglichkeiten, Versäumnisse, Grenzen, Siege und Niederlagen
der Seelsorge erfahren. Unsere gesamte Verkündigung ist
in dieser Feuerprobe herausgefordert" (S. 297). - H. Urner
unterrichtet unter dem Titel „Hilfreiche Theologie" über J. A. T.
Robinsons Buch „Gott ist anders" und hebt das darin enthaltene
„mutige und kühne Ja zur Welt, zu allererst zu dem anderen
Menschen" hervor (S. 276). -O. Haendler behandelt das Thema
„Gottebenbildlichkeit und Weltbildkrise" in weiten Aspekten, um
aus bisherigen Verengungen herauszurufen.

Von systematisch-theologischer Seite liegen vier Beiträge vor.
H. Beintker erörtert „Luthers theologische Begründung der
Wortverkündigung" als „eine Anregung für die Verkündigung
heute", vor allem anhand von De servo arbitrio. Die Predigt ist
„Helfer zum Hören und Ergreifen der Heilstat Gottes" (S. 20),- das
Wort Gottes ist stets „Anrede Gottes an uns" (S. 21). Die Predigt
hat auch „Wissen und Kennen von Gott zu vermitteln", im übrigen
ist sie das „unersetzbare, sachgegebenc Mittel der Gemeinschaft". —
G. G 1 o e g e behandelt in vorbildlicher Prägnanz das vielschichtige
Thema „Schrift und Tradition in evangelischer Sicht"; für Luther
wird die in seiner Zeit gebräuchliche Formel sola scriptura dadurch
neu, daß er „aus der Schrift unmittelbar Gottes ureigenen Anruf vernahm
" (S. 90). Das heutige Problem entsteht dadurch, daß sich uns
das Alte wie das Neue Testament als „Niederschlag von Traditionen"
erweist. Die Lösung des Problems ist darin zu sehen, daß sich
Gottes „in der Schrift verwahrte Rede durch die Tradition bestimmend
durchhält" (S. 93). - In dem Beitrag von E. Wolf „Die
Bindung an das Bekenntnis. Bemerkungen zu Wesen und Funktion
des formulierten Bekenntnisses" geht es um die Unterscheidung
von Bekennen und Bekenntnis, um das Bekennen des Bekenntnisses
und nicht um das Bekennen zum Bekenntnis, um die grundsätzliche
Relativität des formulierten Bekenntnisses sowie darum, dafj nicht
das Bekenntnis, sondern das Wort allein kirchengründenden
Charakter trägt. - H.-G. Fritzsche unterscheidet in seinem
Aufsatz „Die Sorge um Eigentum" Humanes und Inhumanes am
Streben nach Besitz, genauer zwischen dem persönlichen Eigentum,
dessen der Mensch zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im
elementaren Sinn bedarf, und dem „Funktionseigentum", das „dem
Umstand der Arbeitsteilung im Kollektiv entspringt" (S. 74). Es ist
Aufgabe des Staates, dem Menschen die Sorge im Sinne der Fürsorge
abzunehmen, und es ist Sache der Kirche, „nicht nur Befreiung
von Sorgen zu predigen, sondern sich darum zu .sorgen',
dafj andere weniger zu sorgen brauchen" (S. 78).

Die Besonderheit dieser „Festgabe" besteht darin, daß sie
eine Anzahl von Beiträgen enthält, die die „Solidarität und politische
Verantwortung der Christen" zum Gegenstand haben. Der
Aufsatz von J. M. L o c h m a n, der diesen Titel trägt, spricht
von dem Prinzip der „Proexistenz": Gottes Proexistenz tritt in
Jesus Christus in Erscheinung; ihr muß unsere Proexistenz in der
Nachfolge korrespondieren. Dazu gehört, daß wir unsere Umwelt
ernst nehmen und zum Versöhnungs- und Friedensdienst bereit
sind. - M. Doerne will in seinem gehaltvollen und kenntnisreichen
Beitrag „Tolstoj als religiöser Denker. Eine Erinnerung"

den „Anteil christlichen Glaubens- und Lebenserbes an diesem
vielschichtigen Sinngefüge (des Werkes von Tolstoj) einige Grade
höher einschätzen" (S. 54), als es im allgemeinen geschieht. Denn
bei ihm geht es um die „politische Erprobung des christlichen Gehorsams
" (S. 55), auch wenn es das „wahre Christentum zuletzt ganz
und gar mit dem einzelnen zu tun" hat (S. 57). - G. C a s a 1 i s
geht „Christoph Blumhardts ,Theologie der Welt' und dem heutigen
Zeugnis von der Welt", vor allem anhand des Briefwechsels Blumhardts
mit seinem Schwiegersohn Richard Wilhelm nach: Blumhardt
fragt nach den „Spuren des nichtchristlichen Reiches Gottes
in der Welt". Das „Reich Gottes kommt auf die Gasse, dort wo die
Ärmsten sind, die Verstoßenen, die Elendesten, dort kommt das
Reich Gottes hin" (S. 33). Was Blumhardt über die politische Rolle
Europas und Chinas um 1900 sagt, zeigt ihn als einen Propheten!
Seine Haltung läßt sich als die der Solidarität mit der Welt ohne
Preisgabe des eschatologischen Zieles des Reiches Gottes bezeichnen
. Der hervorragende Aufsatz endet mit zehn Bemerkungen, in
denen C. die Summe aus den Gedanken Blumhardts für das heutige
Zeugnis der Kirche zieht. - A. D. M ü 11 e r beschäftigt sich erneut
mit „Friedrich Wilhelm Foerster und der protestantisch-kirchlichen
Erziehungstradition". Auch bei Foerster geht es um die „Solidarität
mit dem religiös entwurzelten Menschen der Gegenwart" (S. 224).
Th. L o h m a n n beurteilt das „Verhältnis Jawaharlal Nehrus zur
Religion" positiver, als es sonst geschieht, namentlich wenn man den
Standpunkt des asiatischen Religionsbegriffes zu Grunde legt.

Zu den aufregendsten und erschütterndsten Beiträgen gehört der
von G. Holtz, der „Fritz Reuters Dichtung ,Kein Hüsung' inkirchen-
kundlicher Beleuchtung" untersucht. Ich halte diesen Aufsatz nicht
nur deswegen für hervorragend, weil er ein schonungsloses Bild
von den kirchlichen Verhältnissen in Mecklenburg zur Zeit Fritz
Reuters gibt, sondern weil er methodisch erkennen läfjt, wie sehr
es darauf ankommt, literarische und andere Zeugnisse heranzuziehen
, um die wirkliche Geschichte der Kirche aufzuhellen.

Schließlich seien wenigstens noch die Titel der beiden kirchengeschichtlichen
Arbeiten genannt. E. H. P ä 11 z erörtert die „Eigenart
des Spiritualismus Jacob Boehmes" und V. V i n a y die „Haltung
Pier Martire Vermiglis gegenüber dem Bauernaufstand in
Cornwall und Devonshire zur Zeit Eduards VI."

Auf das Ganze gesehen bringt diese Festgabe eine große Anzahl
von wertvollen Aufsätzen aus fast allen Gebieten der Praktischen
Theologie und darüber hinaus. Dafj eine gewisse Einheitlichkeit
sich nicht finden läßt, dürfte mit der Situation zusammenhängen
, in der sich die Disziplin der Praktischen Theologie nicht
erst seit heute befindet. Dennoch sind Einzeluntersuchungen, wie
sie der vorliegende Band vereinigt, von höchstem Wert.

Marburg/Lahn Alfred Niebergall

Gaiffier, Baudouin de: Ctudes Critiques d'Hagiographie et d'Icono-
logie. Bruxelles: Societe des Bollandistes 1967. 532 S., 45 Abb. a.
Taf. gr. 8° = Subsidia Hagiographica, 43.

Als 1643 Bollandus die ersten beiden Bände der Acta Sancto-
rum herausgab, stellte er sie unter die Motti Eruditio und Veritas.
Daß die gleichen Prinzipien historisch-kritischer Forschung auch
heute die Arbeit der Bollandisten kennzeichnen, zeigt der vorliegende
Band.

Seit einiger Zeit gibt es einen Typ von Festschriften, in dem
nicht die Kollegen, sondern der Jubilar selbst zu Worte kommt.
Meist vereinigen derartige Sammlungen die wichtigsten Aufsätze
und geben so einen Überblick über das Lebenswerk. Äußerlich
gesehen verhält es sich bei dem Band zum 70. Geburtstag von B. de
Gaiffier anders. Hier werden Aufsätze in ein Organ der Bollandisten
eingebracht, die andernorts, zumeist in Festschriften, erschienen
sind. Dennoch bietet die vorliegende Sammlung in ihrer Vielfalt
einen Querschnitt nicht nur durch ein Lebenswerk, sondern
auch durch ein Fachgebiet: die Hagiographie.

Begreiflicherweise ist in protestantischen Kreisen das hagio-
graphische Interesse nie sehr ausgeprägt gewesen. Dadurch sind
aber auch wichtige Aspekte der Kirchengeschichte kaum beachtet
worden. Gerade die vorliegende Sammlung kann aber als Einführung
in Methode und Probleme dieses Wissenschaftszweiges
anhand exemplarischer Themen dienen.

Es handelt sich um 37 Arbeiten zumeist kleineren Umfangs. In
den älteren Aufsätzen ist jeweils die wichtigste neuere Literatur
nachgetragen. Die Gliederung kennzeichnet die Schwerpunkte.
Einigen Themen allgemeinen Charakters (I) folgen Arbeiten zur
spanischen Hagiographie (II) und zur Motivgeschichte (III: Icono-
graphie et themes legendaires ou folkloriques). Teil IV und V
behandeln wissenschaftsgeschichtliche Studien über die Arbeit der
Bollandisten und Verschiedenes. Schließlich sind als Teil VI die
Resümees und die z. T. bisher nicht edierten ausgeführten Kapitel
1-3 der Thesen von 1926 angefügt. Die der belgischen Hagiographie
des 11. Jh. gewidmete Erstlingsarbeit des Vf.s wirkt wie
ein Programm. Hier ist mit der Frage nach den Verfassern der
Legenden, nach Anlaß und Motiv ihrer literarischen Tätigkeit, nach