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Ausgabe:

1970

Spalte:

846-847

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Scharlemann, Robert P.

Titel/Untertitel:

Reflection and doubt in the thought of Paul Tillich 1970

Rezensent:

Glöckner, Reinhard

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 11

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tisch, die der Vielfalt einer Bewegung nich t gerecht werden
kann, die in sich selber nicht mehr (und auch nicht weniger
) aufgefächert war, als es etwa die Reformatoren und die
Schwärmer waren. Hier wird eindeutig die systematische
Prämisse dem historischen Sachverhalt übergestülpt!
Kann man heute Doch im Ernst im Blick auf den Pietismus
von einer Einheitlichkeit der Bewegung im Ganzen'
(S. 101) sprechen? Liegen ähnliche Kritiken wie sie Spener
u.a. gegenüber der .Wirkungslosigkeit' der R-Predigt
geäußert haben, nicht schon beim späten Luther und bei
manchen anderen Theologen des 16. Jahrhunderts vor
(ich erinnere nur an Stephan Prätorius), die nichts mit
dem .Pietismus' zu tun haben? Das übliche .Aufstiegs-
Schema' scheint mir an dieser Stelle ein unpassendes
Interpretament zu sein. Die Malaise des Pietismus gegenüber
der RL muß tiefer und umfassender gesehen werden,
als Baur dies tut: sie. hängt mit einem Miß-Verhältnis zum
1. Artikel zusammen, das dann in der Folge mit der
Christologie auch den Rechtfertigungsgedanken innerlich
bricht und korrumpiert. Sind nicht vielen Pietisten an der
Frage der .Adiaphora' ernsthafte Sorgen und Probleme
mit der RL entstanden?

Das VII. Kapitel zeigt überdeutlich, wie sehr wir einer
umfassenden, aus Originalquellen und mit einer breiten
kirchen- und geistesgeschichtlichen Überschau erarbeiteten
, Geschichte des Pietismus'bedürfen. Sie würde deutlich
machen, daß der Deutung9horizont Baurs viel zu
.eng' ist und durch einen wesentlich komplexeren ersetzt
werden muß.

Ad VIII: Die Beschäftigung des Vf.s mit der Aufklärungs
-Epoche ist auffallend breit und ausladend. In
keinem Fall entspricht ihr Umfang der wirklichen Bedeutung
, die der Aufklärung im Blick auf die Geschichte
der RL zukommt.

Die systematischen Anfragen an die Arbeit sind wesentlich
wichtiger und belangvoller als die historischen Hinweise
:

1. Baur führt kein Gespräch mit der gesamten orthodox
-ostkirchlichen Tradition. Das ist im Zeitalter der
Ökumene besonders zu bedauern;

2. Während ausgesprochene Übergangsgestalten des
späten 17. und des 18. Jahrhunderts ausführlich behandelt
werden, scheint Calvin in der .Geschichte des christlichen
Heilsverständnisses' keine Rolle zu spielen!

3. Die paulinische RL wird dem historischen Faden und
der systematischen Beurteilung zugrunde gelegt, ohne
daß eine Diskussion darüber erfolgt, wie sich Paulus
zum übrigen Neuen Testament (etwa den johanneischen
Schriften oder den Deutero-Paulinen) verhält und wie das
Verhältnis des neutestamentlichen Sachverhaltes sich in
der Geschichte der Kirche widerspiegelt. Daraus entstehen
Fragen wie diese: wie verhält sich 2Tim 4,7 zu dem
auf S.104 (Mitte der Seite) zitierten Zinzendorf-Wort?
Und wie steht es mit 2Petr 1,4 im Vergleich mit dem, was
Baur S.93 (oben) u.ö. ausführt? Wenn ein Begriff oder
eine Vorstellung, die sich (wie es bei 2Petr 1,4 der Fall
ist) im Neuen Testament finden, innerhalb der Kirchengeschichte
angeblich in einen unversöhnlichen Gegensatz
zur RL treten: in welchem Verhältnis stehen sie dann im
NT selber zur RL? Was bedeutet das für die Besinnung
über Wesen und Verbindlichkeit des neutestamentlichen
Kanons?

4. Baur scheint von einer Vorstellung urchristlicher
.Lehre' auszugehen, die weniger den historischen Realitäten
als einem .Idealbild' entspricht (und damit an
J.Arnd und G.Arnold erinnert).

Summa summarum: die Arbeit läßt nicht nur viele
kirchengeschichtliche, sondern auch systematische Fragen
offen, deren Klärung weiterhin ansteht. Auf diese
Tatsache nachdrücklich aufmerksam gemacht zu haben,
ist das eigentliche Verdienst des Buches.

An Druckfehlern etc. habe ich u.a. notiert: S. 13 Anm.
14 muß es wohl .Dogmengeschichte, 5. Aufl.' heißen; S.32
Anm. 103: die Arbeit von P. Althaus (1938) ist inzwischen
bereits in 4., erw. Auflage erschienen! S. 67 (drittletzte
Zeile): Wichtiges; S.110 (letzte Zeile): ,non autem';
S.154 (5.Zeile von oben): .ein Doppeltes'.

Basel und Würzburg Gotthold Müller

Scharlemann, Robert P.: Reflection and Doubt in the Thought
of Paul Tillich. New Häven-London: Yale University Press
1969. XX, 220 S. 8°. Lw. 62 s. ($ 6.75).

Robert P. Scharlemann hat aus der Sicht eines Logikers
und Gnoseologen ein für alle Theologen höchst interessantes
Buch vorgelegt. Er bietet die leider seltene Gelegenheit
, theologische Gedanken auf die Stichhaltigkeit
ihrer Logik und theologische Aussagen auf die Sauberkeit
des Hintergrundes ihrer Erkenntnisse überprüft zu sehen.
Wenn Scharlemann sich die Systematik der Gedanken
Paul Tillichs besonders herausgegriffen hat, so ist es für
die Beschäftigung mit Paul Tillich von besonderem Wert,
ja, es ist gewiß eine der scharfsinnigsten philosophischen
Auseinandersetzungen, die dem Denken Tillichs an die
Wurzel geht. Da Tillich jedoch im denkhistorischen Zusammenhang
mit z.B. Hegel, Schleiermacher und Barth
gesehen wird, enthält das Buch zugleich eine Art Geschichtsabriß
der Logik in der Dogmatik.

Im Vorwort erklärt Scharlemann seine Methodik und
Absicht. Er will nicht einfach analysieren, sondern er
bietet eine .konstruktive Analyse', deren Absicht es ist,
„einen Zugang zum Denken eines anderen Menschen zu
finden, der dessen Selbstverständnis nahe genug ist, um
ihn fair interpretieren zu können, der jedoch zugleich
genügend Abstand hat, so daß es möglich wird, das Material
zu transformieren und in eine neue systematische
Konstruktion zu übernehmen". Es ist, also nicht einfach
eine neutrale Analyse, sondern der Blick von einem um
etwas verschiedenen Standpunkt aus.

Der mit Tillich gemeinsame Ausgangspunkt aller Gedanken
wird im ersten Satz formuliert: „Welche Sicherheit
bleibt dem Denken, seit Menschen sich bewußt wurden
, daß das Denken selbst historisch ist?" Welche Aussagen
sind zuverlässig, wenn das Subjekt-Objekt Schema
des Denkens selbst geschichtlich bedingt ist? Scharlemann
geht davon aus, daß das Subjekt-Objekt Schema
des Denkens und Erkennens differenziert gesehen werden
muß. Deswegen „werde ich statt von .Subjekt' und .Objekt
' von subjektivischen und objektivischen Polen oder
Elementen des Denkens sprechen. Was mit .subjektivisch
gemeint ist, ist alles, was in der ,Ich'-Seite der Beziehungen
inbegriffen ist, wenn ich etwas denke. Was mit .objektivisch
' gemeint ist, ist alles auf der anderen Seite der
Beziehungen". So kennt Scharlemann die für seiner Geschichtlichkeit
bewußtes Denken notwendigen Unterschiede
von .subjectival subject', .objectival subject',
,subjectival objcct' und .objectival object'. So ist z.B.
Sein „die Objektivität der objektiven Sphäre, und Gott
ist ihre Subjektivität". Mit derartigem Instrument wird
nun die Methode der Korrelation bei Paul Tillich in
Reflektion und Zweifel untersucht. ,Kritische Reflektion'
müht sich, die Objektivität des Objektiven zu erfassen,
und .zweifelnde Antwort' verhält sich zu seiner Subjektivität
.

Das erste Kapitel dient einer kritischen Durchsicht verschiedener
philosophischer und theologischer Konzeptionen
, wobei jeweils versucht wird herauszustellen, wie
solche Konzeptionen ihren archimedischen Punkt gewonnen
haben, bzw. wieso dieser Punkt nicht genug ist als
Punkt, der als absolutes Objekt Reflektion und Zweifel