Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

839-840

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gritsch, Eric W.

Titel/Untertitel:

Reformer without a church 1970

Rezensent:

Rogge, Joachim

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

839

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 11

840

zu tun. Welche Schwierigkeiten einer solchen entgegenstanden
und -stehen, ist am Tage und oft ausgesprochen
worden:

1. Bisher fehlte eine wissenschaftlich ausreichende
Müntzer-Quellenedition. Gritsch ist vermutlich der erste,
der für ein umfassenderes Werk die damals im Entstehen
befindliche kritische Gesamtausgabe benutzen konnte
(Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe
. Unter Mitarbeit von Paul Kirn hrsg. v.
Günther Franz, Gütersloh 1968).

2. Die theologische Herkunft Müntzers schien nicht
genügend aufgehellt, so daß die Akzente zur Bestimmung
seiner Theologie nicht sicher gesetzt zu werden vermochten
.

3. Die zeitgenössische und spätere Berichterstattung
über Müntzer - das Urteil über ihn - schwankten außerordentlich
. Mit dem weit verbreiteten (besonders von
Luther mit inaugurierten) Verdammungsspruch verbunden
war verständlicherweise die Ausmerzung seiner Gedanken
- und Handlungsanstöße. Dies hatte u. a. zur
Folge, daß relativ wenig Originales von Müntzer der Nachwelt
tradiert worden ist.

Gritsch verwendet viel Mühe darauf, das Müntzerbild
von legendären Überlagerungen zu befreien. Man könnte
dieses geradezu als sein Hauptanliegen betrachten. Ihm
geht es um den wirklichen Müntzer, der keine Nachfolge
in Gestalt eines sichtbaren Kirchentums erfahren, jedoch
vielfältige Impulse vermittelt hat, die nach des Vf.s
Meinung in ihrer sachlichen Berechtigung meist nicht erkannt
und verdiktartig kritisiert oder aber nicht minder
unsachlich und unkritisch vereinnahmt bzw. in Anspruch
genommen worden sind.

Der Vf. ordnet sich mit seiner Biographie ein in die
Reihe der amerikanischen Forscher, die die Sachanliegen
des jetzt vielfach sogenannten „linken Flügels der Reformation
" (Bainton) zur Geltung bringen. Er trägt damit
bei zu der als immer notwendiger erkannten Differenzierung
zwischen denen, die von Luther und anderen
Reformatoren summarisch als .Schwärmer' bezeichnet
worden sind. Die Studienorte des Vf.s Wien, Zürich,
Basel, Yale haben ihn in die Lage versetzt, sich in die hier
signalisierte Fragestellung einzuüben.

In 5 Kapiteln zeichnet Gritsch den Lebenslauf Müntzers
nach. Das geschiebt ausschließlich chronologisch (The
Seeker from Stolberg, The Pastor of Zwickau, The Prophet
of Prague, The Reformer of Allstedt, The Rebel of
Muehlhausen). Dabei zeigt er eine erstaunliche Belesenheit
in der deutschsprachigen Literatur allgemein und
auch in ihrer besonderen Fragerichtung. Unklarheiten
und Fehler in der für Müntzers Biographie nicht ganz
unwesentlichen mitteldeutschen Topographie wird man
einem amerikanischen Autor gern nachsehen, wenn auch
manches bei einer zweiten Auflage unbedingt korrigiert
werden sollte (so muß es in Anm.34 auf S.99: Eisenach
statt Eisleben heißen; über das Verhältnis Müntzers zu
Strauß müßte man vielleicht auch anders urteilen).

Die 5 großen biographischen Kapitel haben weitere
Unterteilungen, die mit spezifizierenden Untertiteln versehen
sind. Die Gewichte sind dabei gleichmäßig entsprechend
der bisher zu konstatierenden Forschungssituation
verteilt, so daß der Leser streckenweit ein auf
dem neuesten Stand befindliches Summarium vor sich
hat, das an Hand der reichlichen Quellen- und Sekundärliteraturangaben
Weiterarbeit ermöglicht. Außerdem
sind vom Vf. ins Englische übersetzte ausführliche Partien
aus Schriften und Briefen Müntzers an vielen Stellen
in den Darstellungstext eingestreut.

Wenn von der Wiedergabe des neuesten Forschungsstandes
gesprochen worden ist, dann gilt das allerdings
nicht ohne Einschränkung. Zur Begegnung Müntzers mit
Luther bzw. mit der Wittenberger Reformation ist andernorts
schon Profilierteres gesagt worden. Und eine Müntzerbiographie
müßte sich hier - vielleicht sogar über das bisher
Erarbeitete hinaus - vornehmlich engagiert zeigen.
Es erscheint bei Gritsch zu selbstverständlich und unspe-
zifiziert am Rande, daß Müntzers Theologie nur denkbar
ist auf dem Vorder- bzw. Hintergrund eines zeitweiligen
intensiven Anschlusses an Luther. Ähnliches würde hinsichtlich
anderweitiger theologiegeschichtlicher Rück-
verbindungen (Mystik) und zur Klärung der bibelherme-
neutischen Problematik bei Müntzer zu sagen sein. Wenn
der Problemkreis .Müntzer-Anabaptismus' so stark erörtert
wird, muß die Jnitialzündung' durch Luthers
Theologie ebenso exakt markiert werden. Nur so ist der
Grad der Entfernung von Luther und Luthers Urteil über
Müntzer später zu verstehen.

Gritsch verbindet die Situationsschilderung für den
unstet wandernden Müntzer in jedem Falle mit einer
Situationsanalyse des jeweiligen Ortes, an dem er wirkt.
Das ist zu begrüßen, zumal Müntzer in zum Teil noch sehr
deutlich feststellbarer Weise in die Situation hineingesprochen
hat. Daraus resultieren z.T. seine Erfolge.

Es ist außerordentlich dankenswert, daß der Vf. den
Nachdruck nicht auf die letzte Phase der Wirksamkeit
Müntzers allein legt. Die Tätigkeit als Prediger in Zwickau,
die Ereignisse um den Prager Anschlag, das reformatorische
Wirken in Allstedt (in seiner seltsamen und doch so
verständlichen Ambivalenz von liturgisch-gottesdienstlicher
und agitatorisch-öffentlicher Arbeit) sind wesentliche
zum Verständnis unerläßliche Stationen in Richtung
auf die sehr kurze Endphase seines Lebens in der Führungsrolle
im Bauernkriegsgeschehen zwischen Mühlhausen
und Frankenhausen.

In 2 Schlußkapiteln (The Scapegoat of the Reformation
, The Defender of a lost Cause) zieht Gritsch aus den
Urteilen über Müntzer bisher und aus seiner eigenen Darstellung
die Konsequenz. Er spricht dazu „The Muentzer
Myth" ebenso an wie den „Process of Demythologizing"
die Qualifizierung seines Widerstandes gegen Wittenberg
nicht minder als das generelle Müntzersche Problem von
Theologie bzw. Reich Gottes im Blick auf das Sozialengagement
. Dem 6.Kapitel (The Scapegoat...) sieht
man von seiner Überschrift her gar nicht an, daß es eine
kritische Aufarbeitung der Stellungnahmen zu Müntzer
von Luther bzw. Melanchthon bis zu den neuesten Voten
(Rupp, Williams, Hinrichs, Elliger u. a.) enthält.

Gritsch stellt in seiner Biographie den Theologen
Müntzer heraus. Als dieser ins Licht der Öffentlichkeit
trat, tat er es als Anhänger Luthers (S. 197). Der Theologe
Müntzer wurde Spiritualist, und Luther bekämpfte ihn
zuerst in seiner nicht schriftgemäßen Lehre von Wort und
Geist (S.182), die ihn zu seiner besonderen Interpretation
von „Social Gospel" (a.a.O.) führte.

Müntzer blieb zwar einsam in den Kirchentümern der
Folgezeit, aber seine Anfragen sind bis heute virulent.
„... future research will reveal his influence on the heirs
of the Reformation. Muentzer's life and thought appear so
singular, that any attempt to squeeze this rebellious re-
former into the straitjacket of a typology may inter him
in yet another grave of legend" (S.183). Das heißt:
Müntzers theologisch-apokalyptisches und daraus resultierendes
soziales Denken und Handeln sind differenziert
und gerecht zu beurteilen. Dazu mit den Weg gewiesen,
ohne doch schon alles hierzu Wesentliche im Blick gehabt
zu haben, ist Gritschs dankbar anzuerkennendes Verdienst
.

Berlin Joachim Rogge

Gail, Anton J.: Erasmiana - Rund um die Saecularfeiern

(ThRv 65, 1969 S. 439-448).
Hammer, Karl: Albrecht Ritschis Lutherbild (ThZ 26, 1970

S. 109-122).