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Ausgabe:

1970

Spalte:

836-837

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

hrsg. v. R. Haubst, Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft

Titel/Untertitel:

7 1970

Rezensent:

Grabs, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 11

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(1946) wohl anerkannt, aber Selges Fleiß und theologischem
Scharfsinn verdanken wir nun die allseitige Ausnützung
und Beleuchtung der überaus wichtigen primären
Quelle.

Mit Recht betont S. das Sendungsbewußtsein der
Valdesschüler ihr charismatisches ministerium praedi-
cationis auszuüben, um der Vernachlässigung der Predigt
vonseiten der Geistlichkeit standzuhalten. Den apostolischen
Auftrag verstehen die ersten Waldenser im Sinne
der Verlängerung und Weiterführung jenes Kampfes
Gottes um das Heil der Menschen, dessen entscheidende
Etappen das Werk Christi, die Apostelpredigt und ihre
Erneuerung durch Valdes gewesen sind. Die apostolische
Armut erscheint nicht mehr als Ausgangspunkt, sondern
als Funktion des apostolischen Auftrages, nämlich als
völlige Bereitschaft auf alles zu verzichten, auch auf
jede stabilitas loci. „Selbst das an sich leicht zu vermutende
Motiv einer bewußten Soüdarisierung der freiwillig
Armen mit den unfreiwillig Armen der Gesellschaft",
meint S., „läßt sich aus den Quellen nicht plausibel
machen. Es bleibt die Tatsache, daß die Waldenser sich
de facto in den materiellen Status der unfreiwillig Armen
begaben, die auch, wie die freiwillig Armen, als geringste
Brüder Christi angesehen wurden" (I, S.VIII). Man darf
jedoch die Frage stellen, ob der Vf. nicht allzu sehr die
gesellschaftlichen Implikationen unterschätzt, die präsent
sind in einer „armen" Haltung, die um der Predigt und
des Heils der Mitmenschen willen eingenommen wird und
dessen Resonanz auch notwendig sozial bedingt ist. Bahnbrechendes
wird von S. über den Inhalt der Botschaft der
Waldenser gesagt, besonders dann über die innere Dialektik
ihrer Frömmigkeit, die ihren Ausdruck sucht in steter
Spannung zwischen dem Willen zur Orthodoxie und den
extremen Schlußfolgerungen eines Biblizismus, der sich
methodisch in der Polemik mit den Katharern verfestigt.

Der solide historische Befund der Arbeit, in vieler Hinsicht
neu, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden
: Um 1176 läßt der Kaufmann Valdes von Lyon einen
Teil der Bibel übersetzen, bereits mit dem Vorhaben, diese
Übersetzung in den Dienst einer volkstümlichen Predigt
zu stellen. 1179 würde er in Rom persönlich die Bestätigung
seines Propositum ersucht haben. Wenn auch die
Stellungnahme des Papstes gegenüber dieser Anfrage
ungenügend bezeugt ist, wird sie doch ersichtlich aus den
Maßnahmen seines Legaten Heinrich von Albano. Im
Frühling 1180 läßt dieser den Valdes in Lyon ein Glaubensbekenntnis
ablegen, um sich so der Rechtgläubigkeit
des Predigers und seiner Nachfolger zu versichern, besonders
im Blick auf die Katharergefahr. Die Tätigkeit
der Valdesschüler als Wanderprediger, wenn auch nicht
erwähnt, wird dabei vorausgesetzt. Sie wird ihnen aber
bald verboten, zunächst in Lyon, 1184 vom Papst in
Verona. Auch weiterhin beharrten die Waldenser in ihrer
orthodoxen Haltung, indem sie mit Katharern öffentlich
disputierten und sich als Glieder der katholischen Kirche
betrachteten. Um 1200 hält es aber Valdes für angebracht,
sich von einer wiedertäuferisch gesinnten Gruppe seiner
Nachfolger in Südfrankreich zu distanzieren, fünf Jahre
später meldet er Bedenken an gegenüber einigen Brüdern
in der Lombardei, die arnaldistische Tendenzen aufweisen.
Um 1207 stirbt Valdes. Sein Tod, wie auch die neue Methode
der Wanderpredigt in Armut und Ungeschiitztheit,
die Diego von Osma in Montpellier anleitet und die vom
Predigerorden bald praktiziert wird, der Albigenser-
Kreuzzug, diese und weitere Ereignisse bedingten eine
tiefgreifende Krisis innerhalb der Waldenserbewegung.
Ihr markantester Ausdruck war die Rückkehr der sog.
Katholischen Armen und der Versöhnten Armen in die
alte Kirche. Die Waldenser der Lombardei verfestigten
im Gegenteil ihre antikirchliche Haltung und gaben der
Bewegung eine donatistische Ausrichtung.

Nach S., der diese Radikalisierung an der im Liber anti-
heresis bezeugten Norm des Urwaldensertums mißt,
müßte man eigentlich von einer Deformation des Ursprünglichen
sprechen. Zieht man allerdings die Weiterentwicklung
di-r Bewegung in Betracht, wird man die
Bedeutung der Lombarder höher einschätzen müssen,
d.h. als zweite Begründer des mittelalterlichen Waldenser-
tums. Gibt man zu, was ja S. auch tut, daß die Waldenser
in der ihnen aufgedrängten KJandestinität gezwungen
waren, den Augenblick abzuwarten, da das Einheitssystem
der abendländischen Christenheit einstürzen
würde, müßte man auch einsehen, daß dieser Augenblick
wenigstens im Raum eines Landes, im hussitischen Böhmen
eingetroffen ist. Die Revolution des 15. Jh.s gab der
fast in Agonie liegenden Predigt der Waldenser eine erneute
Stoßkraft. Betrachten wir das einzigartige Zeugnis
des Liber antiheresis des Durandus in der Retrospektive
des durch mehr als drei Jahrhunderte andauernden Weges
der gesamten Waldenserbewegung, dann erscheint seine
waldensische Ursprünglichkeit in einem weniger apodiktischem
Licht. Solche und ähnliche Fragen werden der
weiteren Waldenserforschung kaum erspart bleiben.
Jedenfalls wird sie an der grundlegenden Arbeit S.s nicht
ungestraft vorbeigehen dürfen. Denn sie enthält das bisher
beste und vollständigste, auf Grund sauberer Analyse
aller bekannten Quellen kritisch aufgebaute Bild des
Weges und der Krisen der ersten zwei Generationen der
Waldenser.

Prag Amedeo Molnar

Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft,

7, hrsg. v. R.Haubst. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag
1969. 192 S., 4 Taf. gr. 8°. Kart. DM 24,-.

Das Fünfhundertjahr-Gedenken des Todes von Cusanus
1964 war wohl ein Anlaß, verstärkt die Aufmerksamkeit
ihm zuzuwenden, aber unentwegt hält das Bemühen
an, Umwelt und Werk des Kardinals immer eindringender
zu erschließen. Eins der Zeugnisse hierfür ist die Herausgabe
dieser Forschungsbeiträge.

Der Band vereint außer den Mitteilungen der Cusanus-
Gesellschaft und Rezensionen acht Beiträge, deren Verfassernamen
bekunden, daß weit über den deutschen
Sprachbereich hinaus Nikolaus von Kues den Forschersinn
fesselt. Längst bekannte und bislang noch nicht
hervorgetretene Autoren sind hier vereint. Besonders
fesselnd sind die Eröffnungen über „Neue Handschriftenfunde
in London" (Hermann Hallauer, S. 146ff.), die
besagen, daß noch manches bislang Verschollenes Urständ
feiern dürfte. Der Aufsatz von Paul Sigmund, der
sich mit dem „Fortleben des Nikolaus von Kues in der
Geschichte des politischen Denkens" beschäftigt, warnt
mit Recht, die Probleme der Zeitlage des fünfzehnten
Jahrhunderts zu „modernisieren".

Außerordentlich aufschlußreich ist der Artikel von
Reinhold Weier, der die anthropologischen Ansätze des
Cusanus „als Beitrag zur Gegenwartsdiskussion um den
Menschen" zum Gegenstand hat. Es hieße Zitate häufen,
wenn der Verlockung nachgegeben würde, Kernsätze dieser
Betrachtung anzuführen. Nur ein einziger sei erwähnt
, der besonders erhellend wirkt: „Man sieht, wie es
geradezu als eine Errungenschaft moderner Forschung erscheint
, den Menschen von unten her zu deuten: sei es von
seinen unteren Seelenschichten (Siegmund Freud), sei es
von seinen primitiven Anfängen her, die auf den Zusammenhang
des Menschen mit dem Tierreich zurückverweisen
. Welch ein Gegensatz zur Cusanischen Deutung des
Menschen als lebendiges Bild Gottes!"

Eine unerwartete Bereicherung bieten die „Marginalien