Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

62-65

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Blaha, Ottokar

Titel/Untertitel:

Die Ontologie Kants 1970

Rezensent:

Herrmann, Horst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

61

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 1

62

nen. Die Weltregierung Gottes verwirklicht sich durch dieses
System der Wechselwirkung und allseitigen Abhängigkeit und
zwar nicht mechanisch-deterministisch, sondern die Selbsttätigkeit
und Freiheit der Einzelnen einbeziehend und auf die
universale Gemeinschaft ausgehend (203). So grenzt sich Schleiermacher
vom Absolutismus und extremen Liberalismus ab, denen
eine theistische oder deistische Metaphysik entsprechen (201).
Die soziologische und theologische Grundkategorie ist das Handeln
. „Anstelle der Ontologie tritt das Modell einer Gesellschaft,
die sich aus der ununterbrochenen Tätigkeit und dem Aufeinanderwirken
der einzelnen Individuen konstituiert" (36).
Zur analogia relationis tritt die analogia operationis und die
Charakterisierung des Christentums als teleologische Richtung
der Frömmigkeit verwundert in diesem soziologischen Kontext
nicht mehr! Wichtig ist die Herausarbeitung der sozialen Dimension
im Gefühlsbegriff. Das Gefühl ist das „Medium, uns die
göttliche Einheit in der Mannigfaltigkeit der Welt erfahrbar zu
halten" (141). Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit
steht in Analogie zur absoluten Gemeinschaftlichkeit und wird
durch sie vermittelt (113). Daß Schleiermacher vom Bewußtsein
der Abhängigkeit und der Abhängigen, nicht aber vom Freiheitsbewußtsein
ausgeht, ist von großer Relevanz für das Gesell-
schaftsdenken. In der Frühphase der bürgerlichen Gesellschaft
steht die Abhängigkeit und Verflochtenheit des Einzelnen im
gesellschaftlichen Ganzen noch nicht im Schatten der Selbstentfremdungserfahrung
. Weil das Abhängigkeitsgefühl auf dem
Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit aufruht, führt es nicht zu
ideologischer Sanktionierung von Herrschaftsverhältnissen.
Vielmehr gewinnt hier die Theologie einen „radikaldemokratischen
Zug", der geeignet ist, „alle irdische Herrschaft fragwürdig
zu machen" (219f.). Wie alle Autorität für Schleiermacher
nicht aus der Transzendenz, sondern aus dem Gemeinwesen
zu legitimieren ist, so ist auch die „traditionelle Herrschaftssymbolik
" nicht mehr geeignet, die Allmacht und Un-
bedingtheit Gottes zu beschreiben (211). Totalität, Einheit und
Geist werden zu den eigentlichen Bezeichnungen Gottes. Analog
zum Gemeingeist ist die Einheit Gottes als die „Funktion" der
Einung der Gegensätze in der Totalität der Welt zu fassen (129).
So erhellt die analogia socialis auch das Problem des „pantheisti-
schen Scheins" bei Schleiermacher. Gott ist „ebensosehr und
ebensowenig transcendent wie der die Einheit stiftende Gemeingeist
in einem Gesamtleben" (130).

Von der Weltregierung Gottes ist die Herrschaft Christi zu
unterscheiden. Sie verwirklicht sich geschichtlich in der Dimension
des Gegensatzes von Geist und Natur, geistigem und sinnlichem
Bewußtsein. Hier finden daher die Herrschaftsstrukturen
in Kirche und Staat ihr Analogon. Die Herrschaft Christi ist
geistige Herrschaft, gesellschaftlich vermittelt durch die Kirche
als Organ des Geistes Christi. Grundlegend ist hier Schleiermachers
Verhältnisbestimmung von Natur und Geist. Mit Recht
wehrt der Vf. ein naturalistisches und organologisches Mißverständnis
von Schleiermachers Sozialphilosophie ab (der
Organismusbegriff ist aus der „organisierenden" Funktion der
Vernunft abzuleiten, 198). Natur steht in der Ethik von vornherein
unter der Potenz der Vernunft, andererseits aber verwirklicht
sich der Geist in der Durchdringung der Natur und
nicht in der Selbstbefreiung von ihr (Kant, Ritsehl, 256).
Schleiermacher hat die Konzeption einer dialektischen Vermittlung
von Geist und Natur, mit der Hegel die Widersprüche in
der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen suchte, abgelehnt.
Auch bei ihm spiegelt sich jedoch der innere Widerspruch der
bürgerlichen Gesellschaftstheorie, daß die prinzipielle Freiheit,
Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit aller doch erst durch die
Herrschaft einer bestimmten Klasse, die der „Gebildeten", realisiert
werden soll. Die Führungsrolle der Gebildeten in Kirche
und Staat gründet in der Funktion, das Gemeingefühl zu formulieren
und in die klare Bewußtheit des Gemeingeistes zu erheben
(Gesetzgebung im Staat, Dogmatik in der Kirche). Damit ist
zugleich die utopische Tendenz gegeben, daß sich diese Herrschaft
im geschichtlichen Prozeß der Durchdringung von Geist
und Natur und der Verbreitung des Gemeingeistes selber aufhebt
, indem sie sich erfüllt. Das zeigt sich am eindrücklichsten an
der analogen Fassung des monarchischen Prinzips und des königlichen
Amtes Christi. Wie der Monarch in der Entwicklung zur

Demokratie immer mehr zur symbolisch repräsentativen Figur
wird, so übt Christus nur eine vorläufige Herrschaft aus, die sich
in die allgemeine Herrschaft des Geistes hinein aufhebt (253). In
der rein geistigen Herrschaftsstruktur der Kirche verwirklicht
sich das bereits eindeutiger als im Staat, der noch der physischen
Gewalt bedarf (228ff.). So ist im königlichen Amt Christi „die
gesellschaftlich vorlaufende Rolle des christlichen Glaubens am
deutlichsten ausgesprochen". „Es drückt deutlich aus, was in der
bürgerlichen Klasse an utopischer Hoffnung gegenwärtig ist"
(253).

So wird abschließend der geschichtliche Ort von Schleiermachers
Denken in dem Bürgertum aufgewiesen, das im Übergang
vom Absolutismus zur liberalen Demokratie die Führung
übernimmt, dessen Eliteanspruch auf seiner Bildung beruht und
das in der preußischen Reformbürokratie politisch wirksam wird
(243ff.). Es ist das Bedeutende an Schleiermacher, daß er diesen
Übergang nicht nur nachträglich rezipiert und sanktioniert, sondern
ihn denkend und handelnd mitgestaltet. „Er verstand den
christlichen Glauben als eine bestimmende Kraft in diesem
Übergang, dessen Entwicklung und neuerliche Fixierung für ihn
erst einigermaßen unbestimmt zu erahnen waren" (213). Seine
Theologie war keine Theologie der Innerlichkeit, „sondern eine
Theologie der Schicht, die die politische Herrschaft bestimmt.
Jene ästhetisierende, gefühlsbestimmte Sicht, unter der uns
Schleiermacher bis heute überliefert wird, liegt ihr ganz fern"
(243).

Hier liegt eine Arbeit vor, die nicht nur der Schleiermacherforschung
wirkliche Förderung bringt, sondern darüber hinaus
von grundsätzlichem und höchst aktuellem systematisch-theologischem
Interesse ist. Zeigt sie doch am Modell von Schleiermachers
Denken eindrücklich die Aufgabe und das Risiko einer
Theologie, die in einer Zeit großen gesellschaftlichen Wandels
ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt und ihre Sache
geschichtsrelevant zur Sprache bringen will.

Gnadau Hcino Falcke

Blaha, Ottokar: Die Ontologie Kants. Ihr Grundriß in der
Transzendentalphilosophie. Salzburg-München: Anton Pustet
[1967]. 244 S. gr. 8° = Salzburger Studien zur Philosophie,
in Verbindung m. d. Philosophischen Institut Salzburg
hrsg. v. A.Auer, E. J.Schächer u. V.Warnach, 7. ö. S. 215,-;
DM 33,-.

I.

Das vom Vf. behandelte Thema wurde in der zeitgenössischen
Forschung stark beachtet. Ohne Vollständigkeit der Namen zu
beanspruchen sei erinnert an Heinz Heimsoeths Untersuchung
über „Chr. Wolffs Ontologie und die Prinzipienforschung I.
Kants" (Köln 1956), an das Kantbuch Gottfried Martins (Köln
1951) und dasjenige Friedrich Delekats (Heidelberg 1963). Blaha
setzt sich eingehend mit den Forschungen Martins auseinander,
diejenigen Heimsoeths erwähnt er, das Buch von Delekat nicht.
Seine erste Aufgabe sieht der Rezensent darin, die Eigentümlichkeit
des Interesses deutlich zu machen, das Vf. an seinem
Thema nimmt.

Blaha möchte zeigen, daß Kant die blinde „Naturmechanik
auf einen ihr übergeordneten, sie begründenden und rational
erfaßbaren Grund" (124) zurückführt, nämlich das Subjekt, das
in seiner Deutung in die Nähe Gottes rückt, Ontologie bedeutet
für Blaha die Lehre vom höchsten Seienden. Zufolge ihrer Begründung
im Denken Gottes ist die Welt rational erklärbar. Den
entgegengesetzten Standpunkt, nämlich die Ansicht, daß weder
das Dasein Gottes noch das der Welt logisch erklärbar sei, vertritt
zunächst allerdings für den vorkritischen Kant Horst-
Günter Redmann (Gott und Welt. Die Schöpfungstheologie der
vorkritischen Periode Kants, Göttingen 1962).

II.

Das Buch hat fünf Teile. Die gedankliche Entwicklung erfolgt
nach den Worten des Vf.s in „konzentrischen Kreisen" (90).
Teil I trägt den Titel: „Ansatz und Vorblick". In ihm versucht
Vf. die Berechtigung einer ontologischen Kantinterpretation zu