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Ausgabe:

1970

Spalte:

767-768

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hünermann, Peter

Titel/Untertitel:

Der Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert 1970

Rezensent:

Gerdes, Hayo

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 10

768

sichts von Kap. 7 des Consensus Bremensis (Müller 756,
35ff.) fraglich wird. Entgangen sind A. die Untersuchungen
von Johannes Dantine zum Problem des Verhältnisses von
Calvin und Beza und seine Auswirkungen. Zu erwähnen
sind noch die vorzüglichen Abbildungen, die dem Bande
beigegeben sind und die von Amyraut, Cameron und du
Moulin sowie die Titelseiten von 2 Schriften Amyrauts
zeigen.

Der Untersuchung A.s kann nur größte Beachtung gewünscht
werden, zumal da sie ein wichtiges Problem nach-
reformatorischer Theologiegeschichte anzeigt und angeht.

Eisenach Ernst Koch

Brecht, Martin: Anfänger reformatorischer Kirchnordnung
und Sittenzucht bei Johannes Brenz (ZSavRGkan 86, 1969
S. 322-347).

Iserloh, Erwin: Gratia und Donum, Rechtfertigung und
Heiligung nach Luthers Schrift „Wider den Löwener
Theologen Latomus" (1521) (Cath 24, 1970 S. 67-83).

Kohls, E.-W.: Das Bild der Reformation bei Wilhelm Dil-
they, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch (NZsystTh
11, 1969 S. 269-291).

Pesch, Otto Hermann: Gesetz und Evangelium. Luthers
Lehre im Blick auf das moraltheologische Problem des
ethischen Normenzerfalls (ThQ 149, 1969 S. 313-335).

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Hünermann, Peter: Der Durchbruch geschichtlichen Denkens
im 19. Jahrhundert. Johann Gustav Droyscn, Wilhelm
Dilthey, Graf Paul Yorck von Wartenburg. Ihr Weg
und ihre Weisung für die Theologie. Freiburg-Basel-Wien:
Herder [1967]. 440 S. 8°.

Die gegenwärtige Unruhe in der katholischen Kirche
läfjt sich verstehen als die Nemesis, welche der Antimoder-
nismus der Pius-Päpste heraufbeschworen hat. Offenbar ist
die rücksichtslose Unterdrückung des Modernismus auch
im Sinne der Kirche ein schwerer Fehler gewesen, und es
fragt sich, ob die verspätete Revision dieses Fehlers überhaupt
noch etwas retten kann. Hinzu kommt die Tatsache,
daß die katholische Kirche zuerst 1830 und dann mehrfach
je nach Zweckdienlichkeit politisch das Prinzip der Legitimität
aufgegeben und den politischen Liberalismus und
die Demokratie sanktioniert hat. Diese innerlich widersprüchliche
Haltung hat zwar der Kirche im Laufe des 19.
Jahrhunderts einen erstaunlichen Machtzuwachs gebracht,
scheint aber heute dazu beizutragen, die hierarchische Herrschaftsstruktur
der katholischen Kirche in ihren Grundfesten
zu erschüttern.

Angesichts dieser Gesamtlage wird der Versuch Hü-
nermanns verständlich, unter Anknüpfung an die etwas obskure
, vor-Möhlersche katholische „Tübinger Schule" die
geschichtsphilosophische Arbeit der Droysen, Dilthey und
Yorck von Wartenburg für die katholische Geschichtstheologie
fruchtbar zu machen.

Die alte „Tübinger Schule" ist nach Hünermann gekennzeichnet
durch „die erfrischende Offenheit des Gesprächs
mit der zeitgenössischen Philosophie", während
„die breit vordringende Neuscholastik in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts eine völlig gewandelte Atmosphäre
mit sich bringt" (17). Daraus ergibt sich heute die Aufgabe,
„den hervorragenden Ansätzen des jüngeren geschichtsphi-
losophischen Denkens nachzuspüren und deren Bedeutung
für die Theologie zu erforschen" (19).

Leider wird Hünermanns Darstellung der drei großen
Geschichtsphilosophen durch einen Heidegger nachahmenden
Stil empfindlich beeinträchtigt. Immerhin ist verdienstlich
, daß Hünermann eindringlich hinweist auf die Eigenständigkeit
und den Eigenwert der historischen Methode
gegenüber den Naturwissenschaften, wie sie insbesondere
von Droysen, aber auch von Dilthey und Yorck von Wartenburg
vertreten wird: „Die Präponderanz der mächtig sich
entfaltenden exakten Wissenschaften und die Überlegenheit
ihres Methodenbewußtseins zeitigten die Neigung, die
naturwissenschaftliche zur universalen Methode zu erheben
. Mit Vehemenz reagiert die historische Schule darauf.
Droysen etwa kritisiert den Versuch Buckles äußerst scharf,
die Geschichte auf eine Reihe von naturwissenschaftlich
feststellbaren Prinzipien zurückzuführen und aus deren
Kausalverkettung ihren Ablauf zu bestimmen. Die Sorge,
der positivistische Geist werde auch in Deutschland Fuß
fassen, veranlagte ihn zur Abfassung seiner Historik" (62).
Hünermann zitiert dazu Droysen selbst, wonach dieser befürchtet
, dafj die materialistische Methode die allein herrschende
werde und alle anderen Wissenschaftszweige radikal
abgewertet würden. Um dem entgegenzutreten, kündigte
er eine Vorlesung mit dem Thema .Methodologie und
Enzyklopädie der historischen Wissenschaften' an (vgl. S.
62). In den gleichen Zusammenhang gehört eine von
Hünermann zitierte Stelle aus dem Briefwechsel Dilthey/
Yorck: „Der echte Philologus, der einen Begriff von Historie
hat als von einem Antiquitätenkasten. Wo keine
Palpabilität - wohin nur lebendige, psychologische Transposition
führt, da kommen die Herren nicht hin. Sie sind
eben im Innersten Naturwissenschaftler und werden noch
mehr zu Skeptikern, weil das Experiment fehlt" (314).

Droysen charakterisiert die historische Methode als
„forschend verstehend". „Objektive, feststellbare Tatsachen
gibt es in der Geschichte gar nicht: ,Was ist eine
Schlacht, ein Konzil, eine Empörung? Sie entstehen aus
dem vielfältigen Zusammenwirken von einzelnem. Was objektiv
feststellbar ist, ist immer nur dies einzelne oder Kategorien
von einzelnen, nicht deren komplexe Einheit. Nicht
die Schlacht, die Empörung war das in jenem Moment Objektive
und Reale, sondern die Tausende, die so gegeneinander
und durcheinander liefen und lärmten und sich gegenseitig
schlugen' " (112). Deshalb „ist der beste Zeuge
nicht jener, der unmittelbar in den Geschäften steht — er
ist des komplexen Geschehens vielleicht gar nicht ansichtig
geworden —, sondern der, der das Ganze erschaut hat. Das
abstrakte Prinzip des Augenzeugen ist absurd . . . Nicht
die Summe, die Addition aller Einzelheiten, sondern die
erste Zusammenfassung derselben als ein Ganzes, nach ihrem
pragmatischen Verlauf, nach ihrem maßgebenden Grunde
und Zweck: das ist die erste Quelle" (117).

So brauchbar die Darstellung Hünermanns in dieser
Hinsicht ist, so wenig gelingt es ihm, mit seinem eigentlichen
Ziel, der neuen Geschichtstheologie, den Leser zu
überzeugen. Er versteigt sich hier in reine Begriffsmythologie
: „Das Gefüge der Geschichte, klaffend mit seinem
Riß, sich je neu und neu ereignend als Fügung von Mensch
und Mensch, Mensch und Welten — DU fügst es. Und der
Riß, welcher uns aufreißt, ist der Griff DEINER Hand, mit
der DU DICH gibst, uns an DICH ziehend. Die Ausweglosigkeit
der Geschichte wird zum Jubel des Menschen —
denn wer uns den Ausweg verstellt, bist DU. Von überall
her umgibst DU mich, uns, läßt DU mich, uns, nicht entfliehen
. Meine, unsere Zeiten, Welt und Weltgezeiten, sind
geborgen in DIR. DU bist das Heil" usw. usw. (404 f.).

Das kann freilich kaum anders sein, wenn man, wie
Hünermann, den Gegensatz zwischen evangelischer und
katholischer Theologie nur als zufällige Besonderung aufgrund
bestimmter Traditionsströme begreift (425), also den
eigentümlichen Wahrheitsanspruch der Theologie nicht eigentlich
zur Geltung kommen läßt.

Kiel Hayo Gerdes