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Ausgabe:

1970

Spalte:

744-747

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Braun, Herbert

Titel/Untertitel:

Jesus 1970

Rezensent:

Goppelt, Leonhard

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 10

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stammung" bei Esra (S. 42). Manches ist zu kurz gekommen
, wo die Leser ausführlicher informiert werden sollten
(z. B. wird erst S. 228 erklärt, was Chaluka (S. 7) ist. Dafür
wird oft, etwas vorschnell, zu Vergleichen ausgewichen,
die wenig einbringen (etwa S. 17. 21. 73 f. 131 f). Oder es
werden derart allgemeine Behauptungen aufgestellt, daf)
sich fast ebenso leicht und mit größerem Gewinn das Gegenteil
sagen ließe (S. 23).

Erheblicher aber ist, daß ganze wichtige Bereiche jüdischer
Kultur kühn überschlagen werden. So ist nichts zu erfahren
über die drei letzten großen jüdisch-deutschen Theologen
Baeck, Buber und Rosenzweig. Auch der zweite
Brennpunkt des gegenwärtigen Judentums (neben Israel)
in Nordamerika ist nicht behandelt, obwohl jetzt durch A.
Cohens Buch (Der natürliche und der übernatürliche Jude,
Freiburg/München 1966) der Zugang leicht gemacht ist.

Lisowskys Darstellung ist insgesamt zu harmlos und zu
unproblematisch, weil er, dem Traditionellen verhaftet,
wohl meint, genau da, wo die eigentlichen Fragen einsetzen
, entweder abbrechen oder aber in überholte Schemata
ausweichen zu können. Unergiebig bleibt darum die Behandlung
des „Gesetzes", des »Religionsgesetzes", das in
abgewerteter Weise dem Judentum überlassen wird, von
dem schlicht konstatiert wird: „Es ist Gesetzesreligion"
(S. 73, ähnlich S. 138); demgegenüber gilt das Christentum
als „Erlösungsreligion" (S. 73). Nicht eingestellt ist die
wirkliche Bedeutung des Versöhnungstages, der Berufung
auf die Väter und insbesondere auf Isaaks Bindung bei
Pharisäern, oder was die Männer von Qumran über Menschenschuld
und Gottesgnade zu sagen hatten, wie sich die
messianischen Heilsbringer, von denen Josephus berichtet,
verstanden haben und wie sie von ihren Nachfolgern verstanden
worden sind, wie die Weltoffenheit und die missionarische
Weltzugewandtheit der Hilleliten zu bewerten sei.

Ebenso schablonenhaft bleibt, was Lisowsky über Jesus,
Paulus und Josephus geschrieben hat. Es ist doch kaum
sachgemäß, in dieser Form zu sagen, daß Jesus unvermeidlich
mit den Schriftgelehrten zusammenstoßen mußte,
weil sie (nach Lisowsky) bestimmte religiöse Formen für
unantastbar hielten, er aber den Sabbat gebrochen habe
(S. 66—68). Und läßt sich so das „ganz Besondere an
Jesus von Nazareth" einfach behaupten (S. 162) und daraus
folgern, daß er „ein vorbehaltloses Bekenntnis" zu sich als
Messias verlangt habe (S. 68 f.) ? Warum wird Jesus nicht in
den innerjüdischen Kampf der Gruppen um Israel eingestellt
, die partnerschaftlich-gleichberechtigt, scharf und polemisch
sich über dem gemeinsamen Erbe streiten? Dabei
war noch alles im Fluß, weil es noch keine Orthodoxie und
noch keine allgemeinverbindliche Mischna gab, sondern
verschieden geartete legitime Möglichkeiten der Gebotsverwirklichung
nebeneinander. Zum Stil der Polemik gehörte
die Provokation, zum Messiastum aber das Geheimnis
echter Verborgenheit.

Auch Paulus („der Heidenmissionar", S. 102) ist traditio-
nell-schematisch und verkürzt dargestellt. Zwar wurde die
Spannung innerhalb der Weisung empfunden (S. 77), aber
dann doch nicht durchgehalten (S. 73). Wieder bleibt der
Leser sich selbst überlassen und muß zusehen, wie er sich
zurechtfinde. An der Stelle aber, wo des Paulus Zugehörigkeit
zum Judentum am deutlichsten blieb, nämlich beim
Gebrauche der jüdischen Bibel zum Erweis seiner Christusbotschaft
, da wird auch Paulus ganz scharf kritisiert (während
eine Stelle wie Rom 9—11 erst gar nicht behandelt
ist): „Die Schriftbeweise sind bei Paulus überhaupt ein
trübes Kapitel. An ihnen erweist sich deutlich, wie Paulus
in der Technik nicht von der rabbinischen Schule loskommt
" (S. 75). Ein derartiger Satz ist schwer erträglich,
angefangen vom Stil bis hin zur Sache. Es gab selbst unter
Pharisäern keine einheitliche „rabbinische Schule", wohl
aber gab es bei Schammaiten, Hilleliten, aber auch bei Essenern
, Zeloten, hellenistischen Juden eine große Auslegungstradition
mit exakten Regeln, wirklich ein großes,
aber nicht eigentlich trübes Kapitel. Wie sollte jemand, der
Jude unter Juden und für Juden sein und bleiben wollte,
davon loskommen sollen, solange er nicht Antijudaist sein
wollte!

Auch Josephus mag umkämpft sein. Aber es scheint doch
zu einfach zu sein, über ihn zu schreiben (S. 81), daß er
„in nicht gerade würdiger Weise sein Wasser nach allen
Seiten trug, um Macht und Einfluß zu gewinnen und zu
behalten", und dann an seiner Darstellung besonders „die
Verlogenheit" herauszustellen (S. 84), wo er durch archäologische
Forschungen an Glaubwürdigkeit gewinnt und wegen
der Komplexheit der Lage, in der er sich befand,
mitfühlendes Verstehen verdiente.

Leider kann das Buch trotz guter Ansätze nicht vorbehaltlos
empfohlen werden, gerade weil es sich an Leser
wendet, die nicht genug wissen, um an entscheidenden
Stellen auch Kritik üben zu können.

Tübingen Reinhold Mayer

NEUES TESTAMENT

Braun, Herbert: Jesus. Der Mann aus Nazareth und seine
Zeit. Stuttgart-Berlin: Kreuz-Verlag (1969). 176 S. 8" =
Themen der Theologie, hrsg. v. H.-J. Schultz, 1. Pp.
DM 12.80.

Ein Jesusbuch, das „Ergebnisse fachlicher Forschung
allgemein verständlich" darstellen will (S. 9), reißt einen
Diskussionsbereich auf, der nicht in seiner Breite durchmessen
werden kann, zumal das Buch selbst keine Hinweise
auf die wissenschaftliche Diskussion enthält. So soll versucht
werden, die populär orientierten Ausführungen nach
ihrem Platz in der Forschung und vor allem nach ihrem
sachlichen Skopus zu befragen.

In der traditionskritischen Analyse der Quellen, die
S. 29—37 kurz erklärt wird, folgt Braun im wesentlichen
seinem Lehrer Bultmann, auch wo die Diskussion inzwischen
, wie z. B. in der Beurteilung der Worte vom Menschensohn
oder vom Glauben, darüber hinausgeführt hat.
Der Jesus eigene Kern der Überlieferung wird nach den
bekannten Kriterien der sachlichen Besonderheit und des
inneren Zusammenhangs ermittelt.

Die Darstellung setzt mit einem sehr schematischen
Bild des religionsgeschichtlichen Hintergrundes ein (S. 13—
28). „Zwei Bewegungen" trugen die jüdische Religion:
„Apokalyptik" und „Pharisäismus". Die „Apokalyptik" wird
so dargestellt, daß der Leser später gleichsam konstatieren
kann, daß die Zukunftserwartung Jesu (S. 53—61) im wesentlichen
gleichartig ist. Entsprechendes sagt ihm das angefügte
Bild des hellenistischen „göttlichen Mannes" für
die ntl. Aussagen über Jesu Wunderwirken, über seine Auferstehung
, seine wunderbare Geburt und seine Präexistenz-,
er erfährt freilich nicht, daß dieses Bild eine religionsphä-
nomenologische Abstraktion ist, die als historische Erscheinung
nicht zu belegen ist. Während der religionsgeschichtliche
Vergleich in diesen beiden Bereichen auf die Entsprechung
abzielt, bereitet die Kennzeichnung des Pharisäismus
als einer „peniblen" ritualistischen Gesetzlichkeit die Hervorhebung
der Ethik Jesu als des Besonderen vor. Insgesamt
werden in diesem Bild der religiösen Umwelt zu sehr
im Stil des Historismus Phänomene vergegenständlicht und
fast nie die existentialen Intentionen aufgedeckt, die ein
Verstehen ermöglichen würden. Schon durch diese Darstellungsweise
wird die Dimension des Religiösen verdrängt
und das Ethisch-Anthropologische als allein verstehbar und
relevant hervorgekehrt.

So werden Jesu Weg, insbesondere die Passion, ebenso
wie sein Wunderwirken in einem Kapitel „Biographie"
(S. 38—52) kurz als unwichtig abgetan. Ebenso werden aus