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Ausgabe:

1970

Spalte:

707-708

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Die Lesepredigt 1970

Rezensent:

Doerne, Martin

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707

Theologische Literat urzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 9

708

PRAKTISCHE THEOLOGIE

.die lesepredigt". Line Handreichung. Hrsg. von H. Schnell.
Hauptschriftleiter H. Breit. 62 Predigten in 10 Lieferungen
. 2. Jg. Buchausgabe München; Kaiser 1969. VIII,
496 S. 8°. DM 34,-.

Dem 1. Jahrgang, in ThLZ 94, 1969 Sp. 310-312 besprochen
, ist die Buchausgabe des 2. Jahrgangs (Kirchenjahr
1968/69) gefolgt. In der Anlage (Predigt, anschließend
„Auslegung" und „Besinnung"), auch im Grundtypus der
vorgelegten Predigten hält der 2. Jahrgang sich auf der
Linie des vorangehenden. Es dürfte, aufs Ganze gesehen,
ein Gewinn sein, daß die Anzahl der Mitarbeiter von 50 auf
38 reduziert wurde. Mit je 4 Predigten sind LSup. Hoyer
(Stade) und P. Isermann (Göttingen), mit je 3 Sup. Grahwit
(Hannover-Kleefeld), P. Hanssen (Hamburg), P. Küchenmeister
(Kiel), P. Warmers (Wolfenbüttel) beteiligt; zehn
weitere Autoren haben je zwei Predigten beigesteuert. Den
stärksten Anteil unter den lutherischen Landeskirchen hat
auch diesmal Hannover (22); es folgen Bayern (14), Schleswig
-Holstein (12), Braunschweig (10), Hamburg (3).

Auch hier kommt eine gute Mannigfaltigkeit der theologischen
Positionen und der predigttypologischen Formen
zu Gehör, eingegrenzt allerdings durch die eigentümliche
Struktur und Funktion der Lesepredigt. - Noch mehr als
die Gemeindepredigt, die dem individuellen Charisma des
Predigers freien Spielraum gibt, fordert das Modell der
Lesepredigt die homiletische Integration, die Verdichtung
der im Predigttext gegebenen Mehrzahl von kerygmatischen
Aussagen und speziellen Applikationen zu einem zentrierten,
nach Möglichkeit einprägsamen Ganzen. Vorbildlich geleistet
ist diese Integration z. B. in den Predigten von Grahwit
über Lk 12, 32 zum Jahreswechsel („Es wird alles sehr gut
werden"), von Holze über Mt 16, 21 ff („Gott alles geben -
er gibt mehr zurück", nach einem Wort aus Bernanos'
„Tagebuch eines Landpfarrers"), von Hoyer über 1 Mos
22,1-14 (Leitwort „Versuchung", in ausdrücklicher Korrektur
der herkömmlichen Überschrift „Isaaks Opferung").
Glücklich durchmodelliert ist die Gleichniserzählung Lk 15,
11-32 von Frau P. Brückner: Gott läßt uns los - er wartet
auf uns - er wirbt um uns. Auch in dieser Hinsicht wird
die im 1. Jahrgang großenteils geübte Form der prägnant
formulierten, deshalb gut behältlichen Gliederung von
vielen Predigern dankenswert fortgesetzt. Die leidige Gefahr
des logischen Formalismus, die dieser Tradition der gegliederten
Themapredigt von Jahrhunderten her anhängt, ist
hier durchweg vermieden. - Lobend hervorzuheben ist an
manchen Predigten die treffsichere Bestimmtheit des Eingangs
: z. B. Steghöfer, Karfreitag, Lk 23, 33 ff.; Joh 7, 37-39
Voigt-Rotenburg; Mt 15, 1-11 Glaser.

Bewährt, in nicht wenigen Fällen noch vertieft und
bereichert, hat sich die Ergänzung der Predigt durch „Auslegung
" und „Besinnung". Manchen Auslegungen möchte
man wohl noch intensiveren Umgang mit der heutigen
Bibelwissenschaft wünschen. Sehr zu begrüßen ist, daß
einige Autoren dem Lektor jetzt Ermutigung, zuweilen auch
praktische Winke zu wünschbarer Ergänzung oder Abwandlung
der Predigtvorlage je nach den speziellen Erfordernissen
der Gemeinde oder der Situation geben, so z. B.
Köberle (S. 7), Hanssen (S. 72), Kern (S. 288), Jastram
(S. 320). Das hilft dem Lektor selbstverantwortlichen Anteil
an der evangelischen Freiheit und „Freydigkeit" des gepredigten
Wortes geben. - Bemerkens- und bedenkenswert
sind auch die mehrfach gebotenen Empfehlungen, den
Predigttext in einer neuen Übersetzung (Zürich, Zink, zuweilen
auch noch Pfäfflin) vorzulesen, jedenfalls aber in
der z. T. tief eingreifenden Revision der Lutherbibel von
1964. Nach der Meinung des Rez. sollte für die gottesdienstliche
Verlesung im ganzen mit der revidierten Lutherbibel
auszukommen sein,- es bleibt dem Lektor wie dem Prediger
unbenommen, innerhalb der Predigt je und dann eine neue
Übersetzung ergänzend und verdeutlichend beizuziehen.

Manche der Lesepredigt eigentümliche Schwierigkeiten
und Anfälligkeiten, auf die in der Besprechung des 1. Jahrgangs
hingedeutet wurde, ließen sich auch an Predigten
dieses 2. Jahrgangs illustrieren. Es bleibt nötig, die dort
erhobene Warnung vor einer captivitas dogmatica, grob

gesagt: vor einer Vertheologisierung der je diesem Text
eignenden perspektivischen Individualität zu wiederholen.
An der scharfen Beachtung dieser Individualität des jeweiligen
Predigttextes hängt nicht nur die Interessantheit, vielmehr
die Lebendigkeit der Predigt. Es mag entbehrlich sein,
hier auf einzelne Beispiele zu verweisen. Getrost festgestellt
sein mag aber: die für die Lesepredigt doppelt nachdrücklich
erforderte homiletische Integration ist nicht überall
überzeugend gelungen. Manche Predigten bieten „Vieles",
entweder in wohlgemeinter Ausbreitung der geschichtlichen
Situation, in die der Text eingezeichnet ist, oder in übermäßiger
Länge des Anmarschweges. Für die appellative
Energie wie für die gebotene Unmittelbarkeit des „Wortes
in den Wörtern" wird so der Raum verengt, die Freiheit
gefährdet.

Die unerfüllten Desiderien und die gebotenen Einwendungen
, die an manchen Predigten auch dieses 2. Jahrgangs
sich dem aufmerksamen Leser aufdrängen, führen größtenteils
zurück auf kritische Überlegungen hinsichtlich der
homiletischen Dienlichkeit mancher - ja ziemlich vieler
Predigttexte innerhalb der III. Reihe der „Ordnung der
Predigttexte", an die sich die vorliegenden Predigten ausnahmslos
hielten. - Es ist hier nicht der Ort, den Gesamtbau
dieser Predigttextordnung von 1958, speziell die „neuen"
Reihen III-VI, zu kritischer Diskussion zu stellen. In Entsprechung
zu Erich Hertzschs „Überlegungen zur
Neugestaltung des Lektionars für ev.-luth. Kirchen und
Gemeinden" (ThLZ 94, 1969 Sp. 163-172) wäre solche
Diskussion allerdings ernstlich zu wünschen, wohlverstanden
unter Beachtung des wesentlichen Unterschiedes zwischen
einer gottesdienstlichen Lesung und einem Predigttext. Man
mag sich allenfalls zögernd zu der Einräumung verstehen,
daß diese Texte für die Gemeindepredigt die Erprobung
mehr oder weniger gut, zumindest befriedigend bestanden
haben. Aber wenn es jetzt gilt, für die Lesepredigt eine
sachdienliche Eigenform zu suchen, so wird eine der ersten
pragmatischen „Faustregeln" auf eine erhebliche Kürzung
und Straffung der Texte hinauslaufen. Fast könnte man sich
wundern, daß kritische Überlegungen dieser Art in dem
Auslegungs- und Besinnungsteil der vorliegenden Predigten
nur vereinzelt anklingen (so Kruse zu Jer 7,1-7 bzw.
15, S. 358; behutsam auch Jürgensen zu Joh 21,1-14, S. 206).

Aus der III. Reihe mögen auswahlweise einige Texte
notiert werden, die dem Prediger die gemeindedienliche
Integration u. E. über Gebühr schwer machen. 1 Mos 19,
15-29; 2Mos 33,12-23; alttestamentliche Textkompositionen
wie Klgl Jer 3, 22 f. 39-41; nicht minder neutestamentliche
Sammel- und Übergangsperikopen wie Mk 1, 32-39; Mt 12,
30-37; am fragwürdigsten Lk 16,10-12. Die Beispiele
lassen sich häufen. Es ist kein Ruhmesblatt für die homi-
letisch-hermeneutischen Grundsatzdebatten der letzten Jahrzehnte
, daß an der Predigttextordnung von 1958 so erstaunlich
wenig konkrete Einzelkritik geübt wurde. Der Mangel
wird auch zusammenhängen mit der unüberwundenen Kluft
zwischen einem theologisch-hermeneutischen Auslegungstypus
, der von den Erträgen den form-, traditions- und
redaktionsgeschichtlichen Forschung eine geradezu reformatorische
Erneuerung der Predigt erwartete - und einer
liturgisch bzw. schlicht „erbaulich" orientierten kirchlichen
Schriftauswertung weit abseits von der wissenschaftlichen
Exegese.

Was gegenüber manchen Predigten auch dieses 2. Jahrgangs
kritisch zu erinnern wäre, kommt größtenteils hinaus
auf die Infragestellung ihrer (allzu schonsam rezipierten)
Texte hinsichtlich ihrer Gemeindedienlichkeit. Möchten nur
die starken jungen Kräfte, die, von keiner Schüchternheit
gehemmt, heute an einer integralen Reform unserer Predigt-
und Gottesdienstpraxis engagiert sind, diese Frage einer
gründlichen Durchrevision unserer „geordneten" Predigttexte
nicht abschätzig als Beschäftigung für genügsame
Pragmatiker ansehen. Das meiste was zu dem insgesamt
dankbar und respektvoll zu begrüßenden Unternehmen der
„lesepredigt" am Rand etwa kritisch zu notieren bleibt, läßt
sich in die Anmeldung des Wunsches zusammenfassen, die
Herausgeber und Mitträger dieses verdienstlichen Werkes
möchten sich die Bindung an die „Ordnung der Predigttexte"
nicht zu einem unverbrüchlichen Gesetz werden lassen.

Martin Doeruc t