Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

685-687

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Conway, John S.

Titel/Untertitel:

Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933 - 1945 1970

Rezensent:

Meier, Kurt

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

685

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 9

686

iute, aber eben deshalb unbcgründbare Werturteile fällen
muß. Es handelt sich hier wiederum vor allem um die Welt
der Ethik, nicht aber wie früher so, daß man ethisch ist,
wenn man die Weltordnung in ihrer Unabänderlichkeit
bejaht, sondern so, daß man in absoluter Weise diese oder
jene konkreten Handlungen als gut oder böse beurteilt. Da
unsere empirische Welt eine Weit der relativen Urteile sein
muß, ist das Recht absoluter ethischer Werturteile aufzustellen
unbegründbar. „Moral predigen ist schwer, Moral
begründen unmöglich", heißt es mit einer radikalen Umänderung
der bekannten Schopenhauerschen Aussage. In der
Wissenschaft und in der Ethik handelt es sich um verschiedene
Sprachspiele, die ja nicht vermischt werden dürfen.
Moral ist eine streng personale Sache, wo man nur in
erster Person reden kann. Die Sinnlosigkeit der ethischen
Aussagen - objektiv betrachtet - ist gerade ihr Wesen.

Und so ist auch die Religion eine eigene, unablcitbare
unvergleichbare Lebensform. Ein religiöser Satz erklärt
nicht diese Lebensform, sondern ist eine Äußerung der
bestimmten Lebensform. In der ersten Phase waren Ethik
und Religion und auch Ästhetik zutiefst dasselbe, das
Bejahen der Wcltordming hinter der konstatierbaren Welt.
Jetzt aber ist Religion eine persönliche Lebensform neben
anderen. Der personale Aspekt ist das Wesentliche. Worum
es geht, ist, daß die verschiedenen „Sprachspiele" reinlich
getrennt bleiben. Deshalb ist etwa der Spiritismus, wo man
„Beweise" für eine „religiöse" Anschauung aufbringt, nach
W. keine Religion. Und auch gegen die christlichen Theologen
, die mit Beweisen operieren, wendet er sich nahezu
mit Abscheu. Wenn wir absolute Aussagen formulieren, und
es gehört zur ethischen und religiösen Lebensform, dies zu
tun, bedeutet das einen Ansturm gegen die Grenzen der
Sprache. Wir müssen schweigen und können es doch nicht.
Daher die Philosophie, die eine sprachliche Therapie auszuüben
hat. Die Grammatik erweitert nicht unsere Erkenntnisse
; sie ist nur eine Klassifikation, welche jetzt wie zuvor
die Probleme zum Aufhören bringt, alles sein läßt, wie es
ist, aber vollkommene Klarheit zuwege bringen will.

Und nun behauptet Vf. zuletzt, daß es richtig wäre zu
sagen, daß W.s Religionsphilosophie in der Tractatus-Zcit
eine idealistische Auffassung der Religion vertrete, insofern
die Religion eine Bejahung der »apriorischen" Ordnung der
Welt war. Allmählich siegt aber ein personalistischer Aspekt
als letzte Voraussetzung der verschiedenen Lebensformen.
Dieser Aspekt hängt aber so mit der Grundform der
menschlichen Existenz und Kultur zusammen1, daß auch
jetzt diese Lebensformen mit ihrem Absolutheitscharakter
eine notwendige Gegebenheit sind. Ein tiefschürfender
W.-Forscher wie N. Malcolm hat behauptet, daß bei W.
eine Möglichkeit der Religion vorhanden wäre. Vf. geht
einen großen Schritt weiter und behauptet, daß für W. die
Religion eine Notwendigkeit war.

Dies bedeutet natürlich nicht, daß W. nun eine Art
Christ gewesen wäre. Gar nicht. Gott in W.s Philosophie
hat mit der empirischen Welt nichts zu tun. Schöpfung und
Menschwerdung etc. sind ihm sinnlose Vorstellungen. Und
so nahe auch Vf. daran kommt, noch für die letzte Phase
in W.s Denken Gott als eine mit der Welt gegebene apriorische
Notwendigkeit aufzufassen, schließt er doch, ohne
daß die Begründung mir klar geworden ist, mit der Feststellung
, Gott und das metaphysische, außerweltliche Ich
fallen so weit zusammen, daß Gott nur da ist, wenn das
personale Ich das absolute Werturteil fälle. Religiös ist W.,
Christ ist er aber auf keinen Fall, konkludiert Vf.

Wichtig scheint mir diese Studie. Sie verdiente es, in
eine Hauptsprache übersetzt zu werden, um dann von
einem W.-Spezialisten gewürdigt zu werden. Das Buch ist
eigentlich ein kühnes Unternehmen. Aber so etwas muß
bisweilen auch da sein.

K0bcnhnvn N. H. S0c

Conway, John S.: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik
1933-1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge,

übers, v. C. Nicolaisen. München: Kaiser [1969]. 384 S.
gr. 8°. DM 32,-; Lw. DM 35,-.

Die vorliegende Darstellung der NS-Rcliyionspolitik ist
eine von Dr. Carsten Nicolaisen (München) besorgte Übersetzung
aus dem Englischen. Die Originalausgabe erschien

1968 unter dem Titel "The Nazi Persecution of the Churches
1933-45". Der Autor ist Mitglied der historischen Abteilung
an der University of British Columbia in Vancouver (Canada),
wo er als Associate Professor Geschichte lehrt. Die deutsche
Ausgabe verzichtet auf Illustrationen, bringt aber einen
neuen Anhang zumeist unveröffentlichter Dokumente. In
Einzelfällen sind deutsche Zitate aus dem Englischen rückübersetzt
. Ein Literaturverzeichnis fehlt; doch enthalten die
Fußnoten Quellen- und Literaturangaben.

An der Erforschung, Sichtung und quellenmäßigen Darbietung
des religionspolitischen Materials der NS-Zeit wird
seit über einem Jahrzehnt gearbeitet. Während die kirchlichen
Quellen über die Zeit von 1937 bis 1945 noch zur
umfassenden Veröffentlichung anstehen, erscheint von den
schon länger zur Publikation vorbereiteten staatlichen und
parteiamtlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, aus den
Sammlungen des Bundesarchivs Koblenz zusammengestellt,
1970/71 ein erster Band: Dokumente zur Kirchenpolitik
des Dritten Reiches. I - Das Jahr 1933. Bearbeitet von
C. Nicolaisen. In Verbindung mit der Kommission für die
Geschichte des Kirchenkampfes (jetzt: Ev. Arbeitsgcmcin
schaft für Zeitgeschichte) hrsg. von Georg Kretschmar.
Man darf hoffen, daß auch die folgenden Bände dieser
kirchenpolitischen Quellen in rascher Abfolge beim Chr.
Kaiser Verlag erscheinen.

Conway verarbeitet neben dem bereits in der Literatur
erschlossenen Material vornehmlich Sammlungen des Bundesarchivs
(Aktenbestände der Reichskanzlei und des Amtes
Rosenberg). Die Akten des ehemaligen Reichs- und preußischen
Ministeriums für kirchliche Angelegenheiten waren
ihm nicht zugänglich. Während auf die Schilderung des
innerkirchlichen Geschehens weitgehend verzichtet wird,
gelingt es, das sehr differenzierte Bild der NS-Kirchenpolitik
klar zu umreißen. Die an sich dankenswerte Tatsache, daß
der Autor evangelische und katholische Kirche gleicher-
maßend behandelt, erschwert den Durchblick etwas, hat
aber manches für sich.

Das Ergebnis der Untersuchung bestätigt und belegt in
umfassender Weise die Konzeption, wie sie in den letzten
Jahren in der evangelischen Geschichtsschreibung zum
Kirchenkampf vertreten wurde (vgl. u. a. die Aufsätze von
H. Baier, Kl. Scholder, L. Wenschkewitz; früher haben schon
P. Gürtler und F. Zipfel darauf hingewiesen). Der Rez. hat
sich 1965 in Bd. 15 der Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes
dazu geäußert. Gegenüber einer Sicht der Dinge,
die den Wandel in der NS-Kirchenpolitik als eine von
vornherein eingeplante Aktion auffaßte und das evangelische
Reichskirchenprojekt lediglich als „Tarnung" verstand,
wird überzeugend dargetan, daß Hitler bei der Machtübernahme
am 30. Januar 1933 „offensichtlich keine eindeutige
politische Konzeption für die Beziehungen zwischen Staat
und Kirche" hatte, obwohl er „schon lange vor seinem
Eintritt in die Politik das Christentum grundsätzlich ablehnte
" (26). Während früher nicht selten die verschiedenen
rivalisierenden Strömungen in der NS-Hierarchie als belanglose
Varianten hingestellt wurden, erlaubt es das erdrük-
kende Belegmaterial Conways, das bisher nur teilweise
zugänglich war, nicht länger, die Geschichtslcgcnde von
dem monolithisch-homogenen Charakter der Religionspolitik
des Dritten Reiches aufrechtzuerhalten. Dieser Sachverhalt
ist um so bedeutsamer, als auch in bekenntniskirchlichen
Kreisen seinerzeit die Meinung vertreten wurde, Reichskirchenminister
Kerrl verfolgte mit seinen Maßnahmen
das gleiche Ziel wie die Religionspolitik der weltanschaulichen
Distanzierungskräfte im Nationalsozialismus (Rosenberg
, Heß, Bormann, Himmler). In Wirklichkeit war deren
Leitbild den Bestrebungen Kerrls entgegengesetzt: Kerrl
ging von der Synthese zwischen Nationalsozialismus und
Christentum aus (Art. 24 des NS-Parteiprogramms) und
versuchte so, Kirchenpolitik zu treiben. Daß zunächst eine
einheitliche Reichskirche - auch als Gegengewicht gegen
den Katholizismus, der sich mit dem Rcichskonkordat
arrangiert hatte und seine Existenz zu sichern suchte -
ernsthaft ins Auge gefaßt war, aber schließlich aus vorwiegend
außenpolitischen Gründen nicht zum Zuge kam, darf
als gesichert gelten. Der Mißerfolg des Reichskirchenprojektes
gab Ende 1934 den Kräften im NS-Regimc Auftrieb,
die auf eine Diastasc von Nationalsozialismus und Christentum
drängten, ohne in ihren vorwiegnd ideologischen oder