Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

678-679

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hollweg, Walter

Titel/Untertitel:

Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus 1970

Rezensent:

Koch, Ernst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

677

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 9

678

halten sich nun die Auslegungsprinzipien Gesetz und
Evangelium einerseits und die kirchliche Tradition andererseits
zueinander? Die naheliegende Frage ist die, ob M.
deshalb so früh an die kirchliche Tradition anknüpfte, weil
er darin die lutherische Auffassung von Gesetz und Evangelium
wiederfand, oder ob er es aus anderen Gründen tat.
Es ist ein Mangel in Haendlers Darstellung, dafj er nicht
ernstlich diese Fragen gestellt und sie mit einer seiner
Hauptthesen von Gesetz und Evangelium als dem einzigen
Schlüssel, der Mitte der Schrift, konfrontiert hat. Nur kurze
Andeutungen zu einer Diskussion dieses grundlegenden
Problems begegnen uns S. 205 und 256. Es schliefst zwei
Aspekte ein, einen historischen und einen systematischen:
teils die Frage über die sachliche Übereinstimmung zwischen
der akzeptierten altkirchlichen Tradition und der Lehre des
Luthertums von Gesetz und Evangelium (diese Frage interessiert
eigentlich Haendler nicht, siehe S. 205 Anm. 74),
teils die systematische Frage über die Prinzipien für die
Schriftauslcgnug M.s, die Haendler nicht zureichend gründlich
durchgearbeitet hat.

Solange M. sich auf die Heilsfrage konzentrierte, war es
für ihn natürlich, vom Gesetz und Evangelium als Auslegungsprinzipien
und durchgehendem Thema der ganzen
Schrift auszugehen. An diesem Thema hielt er übrigens sein
ganzes Leben lang fest (siehe z. B. Philosophia moralis
epitomes libri duo 1546, Studienausgabe III S. 158), es war
der Schlüssel, der das Verständnis für die Aussage der
Schrift über das Heil und damit nahe verbundene Aussagen
öffnete. Auf diese Weise sprach er sich auch in der bekannten
Einleitung zu Artikel 4 der Apologia Confessionis aus
(Apol. IV, 2 ff.), wo die Lehre von Gesetz und Evangelium
als Hintergrund zur reformatorischen Rechtfertigungslehre
entwickelt wird. Ohne Verständnis von Gesetz und Evangelium
werden die bisweilen widerstrebenden Aussagen der
Schrift über das Heil uneinheitlich und unbegreiflich (vgl.
auch Apol. IV, 185: nam illa regula, quam modo recitavi,
interpretantur omnia dicta, quae de lege et operibus citan-
tur). Dieses Auslegungsmodell der Rechtfertigung des Menschen
hat M. als Erbe nicht nur dem Luthertum, sondern
der ganzen Christenheit hinterlassen.

Dafj M. an die kirchliche Tradition und die altkirchlichen
Symbola anknüpfte, hatte teils kirchenpolitische, teils exegetische
Gründe. Er wollte zeigen, dafj die neue Kirchenbildung
Gedankengänge und Intentionen von der alten
Kirche verfolgte, und er brauchte Begriffe und Definitionen
für seine Schriftauslegung. In beiden Fällen half ihm die
kirchliche Lehrbildungstradition. Darum knüpfte er daran
an, aber damit ist natürlich auch gesagt, da5 Gesetz und
Evangelium allein als einziges Hilfsmittel oder Modell bei
der Schriftauslegung nicht ausreichend gewesen sein können.

Daß das Traditionsargument einen immer größeren
Platz bei M. erhielt, ist schon lange bekannt. Nach der
sicherlich richtigen Beurteilung Haendlers bedeutet dies
keine prinzipielle Abweichung von seiner früheren Auffassung
, aber wahrscheinlich einen weiteren Blick als Resultat
einer Entwicklung M.s, für die Haendler ein. nur sehr
kühles Interesse zeigt. Die immer stärkere Anknüpfung M.s
an die aristotelische Philosophie nach 1530 und deren
Konsequenzen für die Theologie M.s werden nicht diskutiert.
Stattdessen nimmt der Vf. Rücksicht darauf, daß die zwei
Funktionen des Wortes als verbum efficax und
verbum scriptum bestehen. Die Tradition repräsentiert
die traditiv-testifikatorische Seite des Wortes, sie schützt
den historischen Jesus von Nazareth, den Urheber des
Heiles. Im Festhalten M.s am altkirchlichen, christologischen
Dogma handelt es sich nicht um eine theologische Spekulation,
sondern .um die Überlieferung und Verkündigung von vorgegebener
Geschichte" (S. 259). Auf diesen Gedanken der
Rolle der Geschichte und des geschichtlichen Jesus von
Nazareth legt der Vf. das größte Gewicht. Ich habe jedoch
Schwierigkeiten, mich von dem Eindruck freizumachen, daß
Haendler hier mehr von aktuellen Problemstellungen im
deutschen Sprachgebiet geleitet ist, als von Gedanken und
Motiven, die für M. aktuell waren. Daraus folgt u. a. eine
Mißdeutung der faktischen Intentionen M.s in der Frage
des Glaubensbegriffes.

Wie schon in meinem Referat von Haendlers Darstellung
gesagt ist, legt er großes Gewicht auf den engen Zusammenhang
zwischen dem Glauben als notitia und

f i d u c i a . »Wichtig für den melanchthonischen Glaubensbegriff
ist das enge Mit- und Ineinander von notitia und
fiducia". Dieser doppelte Aspekt hätte „seinen Grund im
Doppelcharakter des göttlichen Heils als historisch-kontin-
genter Geschichte, die das Heil bringt und ist" (S. 406).
Der Grund für diese Behauptung ist jedoch sehr schwach.
M. verneint selbstverständlich nicht die Behauptung der
Geschichte, aber als Argument für seine theologische Auffassung
spielt sie keine Rolle. Darum berücksichtigte er
nicht besonders die notitia, sondern er betont die fiducia und
das Evangelium als Verheißung, p r o m i s s i o. Seine theologischen
Widersacher werden dafür angeklagt, den Glauben
haben auch der Teufel und die Nichtgläubigen. Auf den Glauben
als fiducia kommt es letztlich an (so z. B. Apol. IV, 48).
Haendler notiert natürlich diesen Zusammenhang (S. 404 f.),
aber es geschieht parenthetisch, der Schwerpunkt liegt auf
der Verbindung zwischen notitia und fiducia, und dies
bedeutet eine Verschiebung der Betrachtungsweise in einer
Art, die M. fremd ist. Etwas übertrieben kann gesagt werden
, daß M. notitia und fiducia eher antithetisch als svnthe-
tisch betrachtet (siehe Anol. IV, 249). Dieselbe Einwendung
gilt Haendlers positiver Deutung von dem engen Zusammenhang
zwischen fides dogmatica und f i d e s
h is t o r i c a (S. 259 f. und 408 ff.), welche auf sehr schwachem
Grund steht (vgl. Apol. IV, 383), und seine Interpretation
vom Verhältnis zwischen Verstand und Wollen, also
einer psychologischen Parallele zum Verhältnis zwischen
notitia historiae und fiducia misericordiae
(S. 501 f.). Der Glaube als fiducia muß von der Verheißung
des Evangeliums, von der Vergebung der Sünden,
nicht von einem historischen Geschehen Kenntnis haben.

Haendler hat eine systematische Methode benutzt, und
dagegen kann an und für sich kein Einwand erhoben werden
. Er hat seinen Weg gewählt und ein Buch geschrieben,
das trotz seines Umfanges und seiner dicht gedruckten
Seiten klar, übersichtlich und leicht forciert ist. Aber das,
was die Stärke des Buches ausmacht, der systematische
Griff, erscheint zuweilen als eine Zwangsjacke. Die Theologie
M.s wird in ein Schema gertreßt, und sie wird vom
festen Grund der historischen Wirklichkeit entfernt. Daß
das Buch durch die außerordentliche Belesenheit des Vf.s
einen beachtenswerten Beitrag zur Melanchthonforschung
leistet, ist zweifellos außer Frage gestellt.

UppBala/Schweden Holsten Fngcrberg

Hollweg, Walter: Neue Untersuchungen zur Geschichte und
Lehre des Heidelberger Katechismus. 2. Folqe. Neukirchen
: Neukirchener Verlag d. Erziehungsvereins 1968.
120 S. m. 1 Abb. 8° = Beiträge z. Geschichte u. Lehre
der Reformierten Kirche, hrsg. v. H. Erhart, P. Jacobs,
W. Kreck, G. W. Locher, J. Moltmann, 28. Kart. DM 14,80.

Die erste Folge dieses Titels wurde in ThLZ 88, 1963
Sp. 684 ff. besprochen. Diese zweite Folge entstand sozusagen
als Nebenfrucht aus der Arbeit des Vf.s an seinem
Buch über den Augsburger Reichstag von 1566 und seine
Bedeutung für die Entstehung der Reformierten Kirche und
ihres Bekenntnisses. Der Band vereinigt vier Untersuchungen
.

1. „Wann und wie erhielt der Heidelberger Katechismus
in den deutschen reformierten Kirchen den Charakter einer
Bekenntnisschrift? H. untersucht erneut die historischen
Zusammenhänge der Entstehung des Heidelberger Kafechis-
mus (HK), stellt fest, daß seine Einordnung in die Kirchenordnung
der Kurpfalz lutherische Tradition aufnimmt, daß
er im kirchlichen Leben zunächst ausschließlich katechetischen
Zwecken gedient hat, daß keine Sammlung reformierter
Bekenntnisschriften vor dem 19. Jh. einen reformierten
Katechismus enthalten hat und daß der HK als
quasi-Bekenntnis erst in der Heimlichen Kölnischen Gemeinde
nach 1572 verstanden wird Eine Bekenntnisverpflichtung
auf den HK findet sich erst 1604 in der Kurpfalz
und 1610 am Niederrhein. Damit rückt H. von Anschauunaen
ab, die in der Forschung auf breiter Front vertreten worden
sind und die er selbst auch noch 1961 vertreten hat.

2. „Zur Qucllenfrage des Heidelberger Katechismus".
H. präzisiert hier seine These von 1961, daß die beiden