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Ausgabe:

1970

Spalte:

675-678

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Haendler, Klaus

Titel/Untertitel:

Wort und Glaube bei Melanchthon 1970

Rezensent:

Fagerberg, Holsten

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 9

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lutherische Kirchen ein Zusammengehen mit anderen
lutherischen Kirchen verhindert, und das gleiche Bild tritt
in den südindischen Unionsbestrebungen hervor. Im östlichen
Europa ist die Zusammenarbeit zwischen den Reformierten
und Lutheranern in Zeiten gemeinsamer Not besser
geglückt, aber als die äußere Spannung aufhörte, sind
auch die Gegensätze von neuem hervorgetreten. Man darf
jedoch die beachtenswerten Einsätze nicht vergessen, die
gerade lutherische Kirchenmänner gemacht haben, die
ökumenischen Einheitsbestrebungen zu fördern. Es genügt,
den Namen Nathan Söderblom zu erwähnen.

Dieses Buch ist die erste zusammenfassende Schilderung
des Luthertums in englischer Sprache, und es entspricht
sicherlich einem starken Bedürfnis. Seine fast kompendienartige
Form gibt für Nuancen keinen Raum, zeigt aber
die große Kenntnis und Hingabe des Vf.s in Bezug auf
sein Thema.

Uppanla/Sohwcdeu HoIkIi'H Faferberg

Haendler, Klaus: Wort und Glaube bei Melanchthon. Eine
Untersuchung über die Voraussetzungen und Grundlagen
des melanchthonischen Kirchenbegriffes. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus G. Mohn 1968. 591 S. gr. 8° =
Quellen u. Forschungen z. Reformationsgeschichte, hrsg.
vom Verein für Reformationsgeschichte, 37. Lw. DM 74,-.

Daß Melanchthon (M.) durch die Confessio Augustana
und die vielen Ausgaben seiner Loci in entscheidenter Weise
zur Gestaltung des Kirchenbegriffes im Luthertum beigetragen
hat, ist klar. Viele Fachausdrücke und Begriffe, die
die lutherische Orthodoxie benutzte, können auf M. zurückgeführt
werden. Der eigentliche Kirchenbegriff und seine
wechselnden Formulierungen bei M. interessieren Haendler
jedoch nicht, sondern, wie aus dem Untertitel des Buches,
„Eine Untersuchung über die Voraussetzungen und Grundlagen
des melanchthonischen Kirchenbegriffes", hervorgeht,
sind es die theologischen Voraussetzungen des Kirchenbegriffes
, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen.

Das Problem kann ungefähr so formuliert werden:
Beruhte die lutherische Kirchenbildung auf Zufälligkeiten
oder war sie eine Folge eines von Anfang an durchdachten
theologischen Programms? Bejaht man die letztere der
beiden Fragen, so gelangt man zu dem Schluß, daß M.
schon früh an der Bildung einer evangelisch-lutherischen
Partikularkirche mitzuwirken wünschte. Dieser Schluß streitet
aber gegen M.s und Luthers oft ausgesprochenen Vorsatz,
nichts anderes als die allgemeine katholische Kirche vertreten
zu wollen. Es ist dem Vf. u a. im Anschluß an
Fraenkel, „Testimonia patrum" (1961), überzeugend gelungen
zu zeigen, daß dies auch der Fall war. Damit hat er effektiv
die von A. Ritsehl stammende These bestritten, die Bejahung
der altkirchlichen Symbole durch M. habe ausschließlich
oder in erster Linie kirchenpolitische Ursachen gehabt.
In seinem Anspruch, die Lehre und Unterweisung der allgemeinen
Kirche zu vertreten, galten die altkirchlichen
Symbole als schwerwiegendes Argument. Wenn also M.
nicht eine lutherische Kirche zu gründen beabsichtigte,
beruhte dann die geschichtliche Entwicklung auf Zufälligkeiten
?

Haendler meint, daß keine der beiden Alternativen die
richtige sei. M. habe von Anfang an ein durchdachtes
theologisches Programm besessen, an dem er konsequent
festhielt, so „daß sich durch alle Stadien seines Kirchendenkens
hindurch eine theologische Konstante als Leitmotiv
und Leitgedanke aufweisen läßt". Die theologischen
Konstanten - sie sind zwei - sind das Wort und der Glaube.

Die Aufgabe, die der Vf. sich gestellt hat, besteht darin,
das Vorhandensein dieser beiden Konstanten in M.s Werk
aufzuweisen. Aus dieser Zielsetzung folgen einige nicht
zu vermeidende Konsequenzen. In der reich mit Tatsachen
versehenen Darstellung herrscht das systematische Interesse
vor, einen geschlossenen Zusammenhang in M.s Anschauung
zu entdecken. Entwicklungslinien bei M. werden einigermaßen
beachtet, besonders in der Disposition des Buches -
Haendler unterscheidet zwischen dem frühreformatorischen
und reformatorischen M. vor und nach 1530 -, aber die
Haupttendenz liegt in dem Aufweis der Einheitlichkeit und

Konsequenz von M.s Denken. Wo die Darstellung an systematischer
Geschlossenheit gewinnt, verliert sie an geschichtlicher
Verankerung. Das geringe historische Interesse tritt
in dem Mangel an Ausblicken in bezug auf Luther und den
gleichzeitigen und älteren Katholizismus hervor. (Einige
schlagende Beispiele hierzu sind Haendlers Kommentare
zur reformatorischen Kritik der Messopferlehre [S. 423]
und zu dem facere quod in se est der Scholastik [S. 551]).
Von dem so hoffnungsvoll begonnenen Dialog zwischen den
Konfessionen kommt in diesem Buch sehr wenig zum
Ausdruck. Dagegen nimmt es reichlich Rücksicht auf die
innerprotestantische Diskussion. In den ausführlichen Anmerkungen
führt Haendler ein ständiges Gespräch mit der
wissenschaftlichen Literatur und scheut nicht davor zurück,
unverblümt seine Meinung zu sagen, so oft er Ursache
dazu findet. Die Literatur, die er zur Diskussion heranzieht,
ist leider unvollständig aufgeführt worden, mindestens ein
Zehntel der im Text genannten Arbeiten fehlen im Literaturverzeichnis
.

Das Buch ist klar und logisch in seiner Disposition.
Seine zwei Hauptteile, die M.s Theologie vor und nach 1530
behandeln, sind analog aufgebaut. Zuerst kommt eine kurze
Charakteristik über M.s Denken während respektiverPeriode
(S. 27-49 u. 125-139), danach folgt eine Darstellung vom
Wort (S. 50-92 und 140-400) und dem Glauben (S. 101-121
und S. 401-572). Rein quantitativ nimmt die Analyse der
Rolle des Wortes den größten Raum ein, systematisch und
theologisch hat das Wort auch die führende Stellung inne,
weil der Glaube auf dem Wort basiert und mit ihm korrespondiert
. Im Wort unterscheidet Haendler zwei Funktionen,
eine traditiv-testifikatorische und eine effektiv-applikative
(S. 167), das Wort ist Funktion an vergangener Geschichte,
die es überliefert und vergegenwärtigt, und es ist Funktion
des Geistes, durch den es handelt (S. 186) Dieser doppelten
Funktion entspricht der Glaube als n o t i t i a h i s t o r i a c
und fiducia misericordiae, „als Glaube also, der
sich auf das geschichtliche Heilshandeln Gottes als eine
Geschichte ,pro nomine' und ,pro me' bezieht" (S. 403).

M.s Theologie bedeutete in ihrem Ansatz eine Konzentration
zu den für das Heil notwendigen Fragen. Die Rechtfertigung
und die damit verbundenen Probleme werden in
den Vordergrund gestellt, während mehrere der traditionellen
Themen der Theologie beiseite geschoben werden.
Die Theologie geht durch einen radikalen Reduktionsprozeß
unter dem sie allein konstituierenden und legitimierenden
Kriterium des Heilsnotwendigen als des Existenz-
Notwendigen (S. 43). Diese Konzentration hätte auch eine
Verneinung der kirchlichen Tradition bedeuten können, wie
sie in den altkirchlichen Symbolen vorliegt, aber weder
Luther noch M. wählten diesen Weg. Statt dessen knüpfte
M. früh an die kirchliche Tradition an und benutzte sie als
kontroverstheologisches und exegetisches Argument. Die
Anknüpfunq an die Tradition unterstützte den Anspruch
der Reformatoren, das Erbe der wahren katholischen Kirche
weiterzuführen, und wurde eine Hilfe bei der Schriftaus-
lcgung.

Da M. nicht die ganze Tradition akzeptieren konnte,
mußte er zwischen wahrer und falscher Tradition wählen -
er übte früh Traditionskritik (S. 83). Seine Norm bei der
kritischen Prüfung war die Schrift. Die ganze Schrift war
Wort Gottes; Identität herrschte zwischen „verbum Dci" und
„scriptura", zwischen „Gotteswort" und „Schriftwort". Das
scheint ein unreflektierter Biblizismus zu sein, aber M.
faßte ebenso wie Luther, das Wort Gottes als Ausdruck
einer göttlichen Aktivität in Gesetz und Evangelium auf.
Darum ist auch die Schrift, die Gottes Reden und Handeln
als ihr eigenstes Thema hat, Gesetz und Evangelium. In
tiefster Bedeutung ist das Evangelium „das eigentliche Wort
Gottes" (S. 53).

In dieser Analyse von der Schriftauffassung M.s begegnen
drei Aussagekreise: die ganze Schrift ist das Wort Gottes,
die Schrift ist Gottes Wort als Gesetz ung Evangelium (resp.
Evangelium), die Schrift liegt legitim gedeutet in den nach
gewissen Kriterien ausgewählten kirchlichen Traditionen
vor. Es ist ganz klar, daß diese Aussagen nicht miteinander
identisch sein können. Im ersten Fall ist die ganze Schrift
das Wort Gattes, in den späteren Fällen ist die auf besondere
Weise ausgelegte Schrift das göttliche Wort. Wie ver-