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Ausgabe:

1970

Spalte:

658-659

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

ʿEzrâ Ben-Šelomō mi-Gîrônā, Le commentaire d'Ezra de Gérone sur le "Cantique des Cantiques" 1970

Rezensent:

Reventlow, Henning

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657

Theologische Literaturzeitung 95 Jahrgang 1970 Nr. 9

658

fast einem Jahrzehnt die Anzeige einer Veröffentlichung,
die künftig kein Exeget übersehen darf, der sich mit dem
für die Auslegung des Alten wie des Neuen Testaments
brennend werdenden Problem der Apokalyptik beschäftigt.

Das Büchlein bringt im ersten Teil eine Untersuchung
von Coppens' Schüler Dequeker über Les Saints du Tres-
Haut eil Daniel, VII. Im zweiten Teil behandelt Coppens
selbst Le Fils de l'home Danielique et les relectures de Dan.,
VII, 13, dans les Apocryphes et les ecrits du Nouveau
Testament. Der Anhang bringt a) eine Tabelle über die
Menschensohnsteilen in den Evangelien, b) eine Auseinandersetzung
mit H. Tödt's Thesen- zum Thema, c) Hinweise
auf den sprachlichen Hintergrund der Bezeichnung
,. Menschensohn" anhand von Sjöberg und Bowman.

Im ersten Teil beginnt Dequeker mit einer gründlichen
literarkritischen Untersuchung von Daniel 7. Ergebnis (in
Anlehnung an M. Noth, aber teilweise mit neuen Argumenten
): in der Makkabäerzeit wurden zwei selbständig
umlaufende Visionen, nämlich eine über die vier Tiere und
das Weltgericht und eine andere über das Kommen des
Menschensohns, miteinander verbunden und neu interpretiert
. Genau besehen sind zwei Oberarbeiter zu unterscheiden
, der eine verklammert die beiden Visionen und
erweitert sie durch die Einführung des kleinen Horns (V. 8.
IIa. 20. (22a). 24. 25a), der andere trägt zusätzlich einen
Kampf dieses Horns mit den Heiligen ein (V. 21. 22 b. 25 b).
Dequeker geht dann zu einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung
des Ausdrucks »Die Heiligen des Höchsten" über,
unterstreicht Noths These, daß damit Engelmächte gemeint
sind und bringt eine umfassendere Behandlung der Parallelstellen
als Noth sie vorgelegt hatte. Insbesondere gelingt es
D. nachzuweisen, daß die genaue Parallele, Damaskusschrift
20, 8, wo die Wendung „Heilige des Höchsten" noch einmal
in dieser Verbindung auftaucht, ebenfalls Engel gemeint
sind. Für den Zusammenhang von Daniel 7 folgt daraus:
«Ce royaume eternel sera etabli, administre par les anges,
qui sont, pour ainsi dire, les ministres du roi divin» (51).
Allerdings meint D., daß die beiden makkabäischen Redaktoren
mit der Nennung von „Heiligen" (ohne Näherbestimmung
V. 21) und dem „Volk der Heiligen des Höchsten
" V. 27 an ihr eigenes jüdisches Volk denken, also die
alte Version nationalistisch umdeuten. Wie immer man auch
die letztgenannten Verse beurteilt, nach D.s Ausführung
dürfte es endgültig feststehen, daß die sich - gerade in
der neutestamentlichen Wissenschaft - so zäh behauptete
Idee von den „Heiligen des Höchsten" als Bezeichnung des
Volkes Israel einer zureichenden Grundlage entbehrt.

Sind aber die Heiligen des Höchsten keine Juden, kann
der Menschensohn keine kollektive Größe sein.
Diese Folgerung zieht Coppens mit begrüßenswerter Deutlichkeit
im zweiten Teil der Studie. Der Menschensohn
kommt mit den Wolken des Himmels, ist also eine transzendente
Gestalt. Er steht mit den Heiligen des Höchsten
in enger Verbindung, ist demnach einer aus der Schar der
Engel und ihr Oberhaupt (wie es die Könige im Anfang
des Kapitels im Blick auf die durch sie repräsentierten
Tiere = Reiche sind); es entspricht dieser Anschauung, daß
das Alte Testament oft von menschengestaltiger Erscheinung
bei Theo- und Angelophanien spricht (vgl. Daniel 10, 5. 16.
18; 8,15). Mit einem „Urmensch" hat die Gestalt nichts zu
tun.

Coppens' Darlegungen sind bis zu diesem Punkte nützlich
und weithin überzeugend, wenngleich das Wörtchen
bar störend bleibt, weil es doch wohl betont ein „Einzelexemplar
aus der Menschheit" und nicht nur „Menschengestalt
" bezeichnet. Die weiteren Schritte C.s überzeugen
dagegen nicht mehr. Seite 69 vertritt er die These, daß die
Menschen söhn idee vom Verfasser des Danielbuches selbst
konzipiert sei a) als Gegensatz zu den Tieren am Anfang
des Kapitels, b) in Anlehnung an die Menschengestalt bei
Erscheinungen Gottes oder himmlischer Wesen. Das aber
widerspricht C.s eigener These, die er Seite 55 A. 1 im
Anschluß an Dequeker ausdrücklich formuliert, daß der
Menschensohnabschnitt V. 9 f. 13 f. aus eigenständiger älterer
Quelle stammt I Hier schließt eines das andere aus.

Von den anderen apokalyptischen Beleaen wird IV Esr
13 leider nur summarisch behandelt. Hinsichtlich der Bilderreden
des I Hen meint C, daß die messianische Gestalt des
„Erwählten" in diesen Oberlieferungen die ältere sei, Sie

sei sekundär mit dem Danielschen Menschensohn gleichgesetzt
worden und dadurch die Vorstellung von einem
himmlischen Messias entstanden. Eine Ähnlichkeit zu den
synoptischen Aussagen ist nicht zu leugnen, eine direkte
literarische Abhängigkeit aber nicht wahrscheinlich.

Die neutestamentlichen Belege werden nur kurz gestreift.
C. hält nicht nur die Aussagen vom künftigen Menschensohn,
sondern auch diejenigen vom leidenden Menschensohn für
jesuanisch und erklärt auch diese von Daniel 7 her. Die
Kränkungen und Angriffe, denen die Heiligen des Höchsten
Dan 7, 21. 25 ausgesetzt sind, haben zu der Ansicht geführt,
daß auch der zu ihnen gehörige Menschensohn verfolgt
werden wird. Von daher wendet C. gegen Tödt ein: «Et
pourquoi refuser ä Jesus d'avoir proclame pour le Fils de
l'homme la necessite de souffrir puisque Dan., VII, avait
dejä entrevu la persecution des ,saints'?» (S. 99).

Coppens hat inzwischen seine Deutung in den Miscel-
lanees Bibliques XXVIII-XXXI (EThL 39, 1963 S. 87-113)
gegen einige Bestreiter neu bekräftigt.

HambiiTjr Klaus Koch

JUDAICA

Vajda, Georges: te commentaire d'Ezra de Gerone sur le
cantique des cantiques, traduction et notes annexes. Paris:
Aubier (1969]. 480 S. 8° = Pardes, Etudes et Textes de
Mystique Juive, dir. par G. Vajda.

Innerhalb der mittelalterlichen jüdischen Philosophie,
deren bedeutender Einfluß auf die abendländische Philosophiegeschichte
als Ganze selten ausreichend berücksichtigt
wird, stellt die theosophische Mystik, die Kabbala, eines
der unbekanntesten Gebiete dar, obwohl gerade sie als
Versuch der Aufnahme gnostischen und neuplatonischen
Denkens in die talmudische Tradition in fünf Jahrhunderten
eine reiche Literatur entwickelt, auf christliche Neuplato-
niker (wie Pico della Mirandola) eine beachtliche Anziehungskraft
entfaltet und bis in den Chassidismus der
jüngsten Vergangenheit weitergewirkt hat. Erst die Lebensarbeit
von G. Scholem1 hat eine wissenschaftliche Würdigung
der Kabbala überhaupt ermöglicht, deren Quellen meist
nur handschriftlich oder in unkritischen, fehlerhaften älteren
oder neueren Drucken vorliegen.

Die in der 1. Hälfte des 13. Jh.s in Katalanien blühende
Schule von Gerona stellt nach den Anfängen der Kabbala in
der Provence das zweite bedeutende kabbalistische Zentrum
dar. Unter den dort wirkenden Gelehrten, durch
Schülerschaft gegenüber R. Isaak dem Blinden mit den
provencalischen Traditionen verbunden, ist R. Ezra ben
Salomo (f ca. 1235) einer der bedeutensten s. Eine kritische
Textausgabe seines wichtigen Hohenlied-Kommentars ist
nach wie vor ein Desiderat *. Vajda begnügt sich deshalb
mit den ihm zugänglichen MSS (20 f.) als Grundlage für
eine französische Obersetzung des Textes (37-138).

Ein kabbalistischer Text ist für den Uneingeweihten
nicht ohne nähere Erläuterung der geschlossenen Gedankenwelt
und der geheimen Svmbolsprache verständlich, in der
alle diese Schriften gehalten sind. Diese Aufgabe versucht
der Hrsg. nach kurzen vorausgeschickten Überblicken über
Leben und Werk Ezras (17-21) und einer nützlichen Zusammenfassung
des Lehrgehaltes seines Kommentars (22-34)
vor allem in einer großen Zahl von „ergänzenden Anmerkungen
" im Anschluß an die Obersetzung zu erfüllen, die
in Wirklichkeit geschlossene, teils umfangreichere Abhandlungen
über alle wichtigen Themen und Schlüsselworte des
Kommentars darstellen und ihrerseits wieder von einem
weit ausgebreiteten Anmerkungsapparat begleitet sind. Sie
behandeln Sachgebiete wie die Kosmologie Ezras (147-194),
den kommenden Äon (265-270), die Heilsgeschichte (333-
.338), die Eschatologie (425-455), aber auch die typisch
theosonhischen Symboldeutunaen von Begriffen wie „Segen"
(195-215). „Thron Gottes" (217-247), „Thronwagen" (mer-
kabah) (339-351V „geschriebenes und mündlich übprliefertes
Gesetz" (370-380), wobei das für die Kabbahi charakteristische
System der zehn Sephirot, das neuplatonische Ema-
nationsprinzip mit seiner Entsprechung der Rückkehr alles