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Ausgabe:

1970

Spalte:

652-653

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Titel/Untertitel:

Die niederdeutschen Bibelfrühdrucke 1970

Rezensent:

Volz, Hans

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Ö51

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 9

652

in »bloße Varianten und minder wichtige Mitteilungen" und
.wirkliche Textänderungen und das sonst Bedeutsamere",
wie sie im Gegensatz zu BHK1 in BHK* durchgeführt
worden war, ist wieder preisgegeben - offensichtlich
darum, weil man bloße Varianten, die für den hebräischen
Text kaum Bedeutung haben und die minder wichtigen
Mitteilungen grundsätzlich überhaupt weglassen wollte. So
konnte der allein noch verbleibende Hauptteil erweitert
werden, ohne daß man den Umfang des ganzen Werkes
wesentlich erweitern mußte. Die Neubearbeitung des Apparates
drängte sich aber offensichtlich weniger aus diesem
Grund auf, weil einerseits die textkritische Arbeit im einzelnen
Fortschritte erzielte, vor allem aber, weil sich die
grundsätzliche Einschätzung des masoretischen Textes ,aber
auch die der Versionen, in der Zwischenzeit gewandelt hat.
Es war zu erwarten, daß die Neuausgabe wohl einzelne
neue Varianten und Emendationen bieten (bei Jesaja vor
allem auf Grund des Qumranschrifttums), sich aber im
Ganzen bei Konjekturen größerer Zurückhaltung befleißigen
würde. An sich wäre es zwar gewiß wünschenswert, in
einem solchen Werk alle irgendwie interessanten Varianten
beisammen zu haben, auch wenn diese für die Textkritik
im engern Sinn keinen Ertrag abwerfen (vgl. dazu A. Jepsen,
VTSuppl IX, 1963 S. 337 ff.). Aber das ist ein Postulat,
dem auch die Jerusalemer Ausgabe mit ihrem viergeteilten,
weit umfangreicheren Apparat nicht voll entsprechen kann.
Trotzdem ist der Durchschnittsstudent mit dem Apparat der
Jerusalemer Ausgabe bereits überfordert. Wenn die BHS
weiterhin dem akademischen Unterricht ihre Dienste leisten
wollte, mußte sie sich zweifellos auf das Unentbehrliche
beschränken. Und eben das war offensichtlich die Absicht
der Herausgeber der BHS. Man kann allerdings die grundsätzliche
Frage stellen, ob sich der Apparat nicht damit
begnügen sollte, einfach Varianten zu notieren und sich
jeden Urteils dazu zu enthalten. Der Benutzer wäre dann
in jedem Fall zu eigenem Nachdenken gezwungen. BHS hat
diesen Weg wie ihre Vorgängerin nicht gewählt; sie leitet,
wenn auch mit Vorsicht, zu Entscheidungen an durch
Notizen wie fortasse legendum oder einfach lege. Solche
Empfehlungen oder gar Imperative erwecken erfahrungsgemäß
leicht den Eindruck, daß gesicherte, allgemein anerkannte
und darum bedenkenlos zu übernehmende Ergebnisse
vorlägen. Man wird jedoch auch hier das Vorgehen
der Herausgeber aus praktischen Erwägungen heraus billigen
müssen, da nicht jeder Benutzer der BH eingehende
textkritische Überlegungen anstellen kann. Und daß bei der
hebräischen Bibel ohne .freie" Konjekturen nicht auszukommen
ist, bedarf keiner Erörterung. So wird mancher froh
sein, wohl abgewogene Vorschläge zur Hand zu haben. Es versteht
sich aber von selbst, daß gegenüber solchen Anleitungen
, die notgedrungen subjektiven Urteilen entspringen,
jeder Exeget immer wieder Bedenken wird anmelden
müssen.

Es seien dem Rezensenten zur Illustration einige Bemerkungen
gestattet, die sich auf Kap. 9 beziehen. BHS bietet
26 Bemerkungen zur Textkritik, BHK1 bot deren 17, BHK*
deren 24 (in beiden Teilen zusammen, dazu kamen noch in
einem dritten Teil 15 Qumranvarianten). Neu wird in 9,1 zu
den Vokabeln ca^nn, 'au' und n« fortasse delendum metri
causa gesetzt. Zu cos in V. 3 ist im Apparat zu lesen: fortasse
praemittendum -nx? , zu ia tun propositum *»p. Das
sind doch alles sehr fragwürdige Emendationen. Das Versmaß
in 9, 1-6 ist zweifellos kein regelmäßiges und abgesehen
davon kann es nicht Aufgabe der Textkritik sein, den
Wortlaut des ursprünglichen Gedichtes herstellen zu wollen.
Diese Absicht scheint den Bearbeiter aberz. B. auch in V. 14
geleitet zu haben, wo er zu ««-in nn bemerkt: fortasse
delendum. Möglicherweise handelt es sich um eine Glosse
(vermutlich gilt das aber vom ganzen Vers, s. dazu BK X
S. 205 und 219 f.). Aber wiederum: Glossen auszuscheiden
ist Aufgabe nicht der Text-, sondern der Literarkritik. -
Hingegen ist es gewiß in Ordnung, wenn BHS die Konjektur
nSüa für nWip in V. 4 nicht mehr erwähnt oder etwa
in V. 8 den Vorschlag, "T'i statt wi*] zu lesen, fallen
gelassen hat (Im letztern Fall mag man hingegen erstaunt
sein, daß Thomas nicht auf seinen eigenen Vorschlag hinweist
, in diesem Fall vr im Sinn des arabischen wadu'a zu
verstehen.). - Neu und zweifellos richtig ist andererseits

der Vorschlag, in V. 5 und 6 als "jff bzw. *<"> zu
punktieren, was schon Gray vorgeschlagen hat (s. auch
G. R. Driver, VT 2,1952/357). - In V. 4 wird die Lesart
Mfi für »in nicht mehr erwähnt. Die Variante ist interessant
für die Frage nach der späteren Interpretation Jesajas, gibt
aber zweifellos nicht Anlaß zu einer Emendation und ist
insofern entbehrlich. Weniger verständlich ist es, daß beim
schwierigen otoj von V. 18 nicht mehr auf ® und (£ hingewiesen
wurde,' die nre? gelesen zu haben scheinen (auch
das conturbata est von wird nicht mehr erwähnt). Und
um der neutestamentlichen Nachgeschichte willen würde man
doch gerne zu «iio1?* mo in V. 1 den Hinweis auf @:
ev x«P<? nal ovua öavdxou finden.

Aber zweifellos ist es unvermeidlich, daß bei einem
solchen Werk viele in vielen Einzelheiten anderer Meinung
sind, und die obigen Bemerkungen mögen zeigen, daß in
der alttestamentlichen Wissenschaft über Aufgabe und Vollzug
der textkritischen Arbeit noch keineswegs ein Konsensus
erreicht ist. In einer Zeit, in der alle Lehrbücher
immer umfangreicher werden, ist man für Konzentration
auf das Wesentlichste dankbar. Wer mehr Informationsmaterial
bequem zur Hand haben will, wird in absehbarer
Zeit die Jerusalemer Ausgabe zur Verfügung haben. Wer sich
ernsthaft mit textkritischen Fragen beschäftigt, dem wird
aber kein noch so umfangreicher Apparat den eigenen Umgang
mit den Versionen und die Mühe eigener Urteilsbildung
abnehmen können. - Möge das Werk rasch voranschreiten.
Und möge durch es die Diskussion über textkritische Fragen
neu angeregt werden, nicht zuletzt über Sinn und Ziel der
Textkritik überhaupt.

Der Württembergischen Bibelanstalt, vor allem aber den
Herausgebern mit all ihren Mitarbeitern gebührt für ihre
so entsagungsvolle Arbeit höchster Dank. Sie haben ein
Werk geschaffen, das für eine ganze Generation unentbehrliches
Werkzeug für die Arbeit am Alten Testament sein
wird.

Zürich Hans Wildberger

Ising, Gerhard [Hrsg.]: Die Niederdeutschen Bibelfrühdrucke
. Kölner Bibeln (um 1478), Lübecker Bibel (1494),
Halberstädter Bibel (1522). Bd. III: II. Könige - Esther.
Berlin: Akademie-Verlag 1968. VII, 554 S. gr. 8° =
Deutsche Texte des Mittelalters, hrsg. v. d. Deutschen
Akademie d. Wissenschaften zu Berlin. Institut für
deutsche Sprache u. Literatur, Bd. UV/III. Lw. M 115,-.

Nach vierjähriger Pause legt G. Ising den dritten Band
seiner auf insgesamt sechs Bände berechneten kritischen
Edition der vier vorreformatorischen niederdeutschen Bibeldrucke
von ca. 1478 bis 1522 vor (vgl. ThLZ 88, 1963
Sp. 193 f. und 91, 1966 Sp. 269 f.). Der neue Band führt mit
den Büchern 2 Sam (Vulg.: 2 Kön) bis Esther bis zum
Schluß der historischen Bücher des Alten Testamentes. Entsprechend
dem durch die jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse
der vier verschiedenen Vorlagen bestimmten Programm
der Ausgabe konnte nunmehr gegenüber dem vorangegangenen
zweiten Bande, in dem zunächst nur der westfälische
Kölner Druck von ca. 1478 (Ke) bloß in den Lesearten
Berücksichtigung gefunden hatte, die Zahl der im
Paralleldruck vollständig dargebotenen Texte weiterhin
erheblich vermindert werden; neben dem als Grundtext
wiedergegebenen Wortlaut der ost-westfälischen Kölner
Ausgabe von ca. 1478 (K»), an dessen Stelle allein für das
dort fehlende apokryphe 3. und 4. Buch Esra die Lübecker
Bibel von 1494 (L) trat, ist nämlich bloß noch für 2 Sam
(2 Kön) cap. 1-6 auch der Lübecker und bis zum Schluß
von 2 Kön (4 Kön) der Halberstädter Text von 1522 (H)
mitabgedruckt. In den weiteren Partien, in denen L eine
Bearbeitung von K" darstellt bzw. H sich an L anschließt,
sind alle Textdifferenzen „in Wortwahl, Wortfolge, Wortbildung
, Kasus, Numerus und Tempus" im Variantenapparat
verzeichnet. Im Wortschatz macht sich vom 1. Buch
der Chronik (1. Paral.) an der Umstand geltend, daß an die
Stelle der bis hier von der Kölner Bibel benutzten rheinischen
Textgrundlage nunmehr eine solche nord- bzw. südniederländischer
Prägung trat, die häufig - besonders in L
(und danach auch in H) - zu einer anderen Wortwahl
führte.