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Ausgabe:

1970

Spalte:

610-612

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hierzenberger, Gottfried

Titel/Untertitel:

Der magische Rest 1970

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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die volksmissionarische Sloß-Aktion, meist als Wortverkündigung
charismatischer Männer zur Erweckung des Glaubens
bei Entfremdeten, meint. H. geht es vielmehr um die ganze
Breite „evangelisatorischer" Bemühung im Bahmen des
Wichern-Programms (Denkschrift von 1849) innerhalb der
Braunsohweigischen Kirche etwa im Zeitraum zwischen 1830
und 1910.

In einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Grundkonzeption
Wicherns auf den ersten Seiten seiner ursprünglich
als Dissertation geschriebenen Arbeit führt H. in die Problemlage
ein (S. 6—16). Ein erster Hauptteil (S. 17—96) verfolgt
in 4 Abschnitten die verscliiedenen diakonischen und
volksmissionarischen Aktivitäten innerhalb der Sonderprägung
des Braunschweigischen Landeskirchentums. insbesondere
im Spannungsfeld der kirchlichen Parteien. Das Vorherrschen
der „Liberalen" insbesondere in der Stadt Braunschweig
bestimmt dabei weitgehend die Lage: Diakonie wie
„evangelisatorisches" Bemühen stehen auf der Initiative einzelner
„Erweckter", die sowohl gegenüber der großen Mehrheit
der liberalen Pfarrerschaft als auch der kleinen Gruppe
der „Konfessionellen" gegenüber in einer weitgehenden Isolierung
bleiben. Seit Einrichtung einer Landessynode ändert
sich das Bild. Wenn auch nicht nach Wicherns Ansatz, fängt
die konfessionelle Gruppe der Neu-Lutheraner an, sich stärker
in diakonischer und evangelisatorischer Hinsicht zu engagieren
. Dabei geht es teils um das Anliegen der „publicity"
beim Kirchenvolk, teils um echte Sorge bei der Ballung sozialer
Not.

1881 kommt es nach mancherlei fehlgeschlagenen Ansätzen
zur Gründung des „Evangelischen Vereins" in Braunschweig,
der lediglich aus taktischen Gründen die Sachbestiinmung
„für Innere Mission" in den ersten zwei Jahrzehnten seiner
Existenz vermeidet, jedoch von Anfang an bemüht ist, alle
bisherigen Aktionen auf diakonischem und missionarischem
Gebiet wirksam zusammenzufassen, soweit sie gemeindebe-
zogen sind. Der Darstellung der Geschichte dieses Vereins
widmet H. den Hauptteil seiner Ausführungen (S. 97—264),
die hier sehr ins Detailgcben, so daß ein buntes Kleinmosaik
von Personen und Sachen entsteht, in das einzulesen fast
ebenso mühsam scheint wie die Arbeit, die sich der Verfasser
mit den entlegenen Quellen für seine Darstellung gemacht
hat. Andererseits gibt gerade diese minutiöse Forschungsarbeit
in den Archiven der Kirchenbchörde. des Staates, der
kirchlichen und antikirchlichen, d.h. sozialdemokratischen
Presse dem vorliegenden Werk seinen entscheidenden Wert
als Darstellung des gesamten Gebiets der Inneren Mission in
einem Bereich, der sich, wie H. feststellt, charakteristisch von
den Nachbarländern, z.B. Hannover, unterscheidet.

In besonderer Sorgfalt und Genauigkeit sind nun innerhalb
der Darbietung noch einige Ereignisse, Sachgebiete und Personen
dem Leser vor Augen gestellt, die es wert sind, auch
hier eigens genannt zu werden.

Zu den Ereignissen zählt vor allem der Streit um das vom
Verein 1891/92 erworbene Vereinsbaus, um dessen Benutzung
der alte Kampf zwischen den Kirchenparteien, — angesichts
der Sache der IM schon fast zur Buhe gekommeu — erneut
heftig aufllammt. Wie dieser Streit dann durch die Aktivität
der „Damen der Gesellschaft" gleichsam aus den Angeln gehoben
wird, die den zur Finanzierung vorgesehenen Basar
trotz des Haders der Parteien in eigene Hand nehmen und
glänzend zu Ende bringen — das ist ergötzlich zu lesen. — Daß
das Projekt Vereinshaus dann praktisch von seinem Zweck
her gesehen und finanziell zum großen Fiasko führt, ist zwar
nicht ohne Wehmut zu lesen — wieviel vergebliche Liebesmüh
! — aber doch auch ebenso interessant und lehrreich für
dilettantische Forderer kirchlicher Bauprojekte! (p. 163ff.).

Aufregend auch der Meinungsstreit, den ein noch vor der
Vereinshauserwerbung veranstalteter Vortrag mit Adolf
Stoecker als Bodner auslöst! (p. 196ff).

Bei den besprochenen Sachgebieten, die von der Anstalts-
diakonie bis zur Sonntagschul-Arbeit verschiedenster I'rä-

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gung und von den Unternehmen zur Bibelverbreitung bis zur
Seelsorge an Prostituierten und Alkoholikern reicht, hat besonders
die Traktat-Arbeit (Verbreitung erbaulich-missionarischen
Schrifttums) die Aufmerksamkeit des Autors gefesselt
. Hier liegen Ansätze zur grundsätzlichen theologischen
Analyse eines Gebiets vor, das noch kaum ins Blickfeld der
Theoretiker der IM getreten zu sein scheint (p. 206—232). Besonders
der von H. als exemplarisch positiv vorgestellte Traktat
, der wirklich die Situation des Arbeiters trifft (p. 228ff.),
könnte zu weiterer Beschäftigung mit diesem Spezialgebiet
reizen!

Von den Personen schließlich nenne ich nur drei, die besonders
fesselnd profiliert sind: Da ist P. Gustav Stutzer,
der Vater der Anstalt für Geisteskranke Neu-Erkerode — tragisch
in seinem Scheitern an seinem eigenen Werk (p. 46ff.).
Weiter Gustav Eißfeldt, der schroffe Orthodoxe, der aber
sowohl auf dem Gebiet der IM (mit einem Beferat für die
„Konferenz" seiner kirchlichen Parteifreunde 1878) wie auf
dem Gebiet der Gesamtkirche (in 13 „Thesen über die Organisation
der kirchlichen Arbeit" 1890) entscheidende Impulse
gibt, die weiterführen (p. 82f„ 122ff.). Da ist endlich Joh.
Kühne, erster hauptamtlicher Vereinsgeistlicher des „Ev.
Vereins", dem die weitgehende Durchbrechung der kirchenpolitischen
Fronten zugunsten des aufgetragenen Werkes gelingt
, wenn auch andererseits sein überschäumender Enthusiasmus
ihm manche bittere Niederlage einträgt. Mit seinem
Lebenswerk beschäftigt sich die vorliegende Arbeit ja in Vorschau
, Bückschau wie begleitender Darstellung fast durchgehend
. — Im ganzen darf H.s Buch als ein solider, instruktiver
Beitrag zur Gesamtgeschichte dessen angesehen werden,
was der Name „Innere Mission" herkömmlich umfaßt. Es bewährt
sich an ihr der Grundsatz: Das für eine Sache am meisten
Kennzeichnende liegt im Detail. Das ist auch außerhalb
der Braunschweiger Landeskirche von Bedeutung.

Karl-Marx-Stadt Helmut Appel

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Hierzenberger, Gottfried: Der magische liest. Ein Beilrag zur
Entmagisierung des Christentums. Düsseldorf: Patmos
Verlag [1968]. 367 S. 8° = Patmos Paperback. Kart.
DM 24,-.

Hierzenberger untersucht das größte gravamen, das seit
Luther gegen die römisch-katholische Kirche erhoben wird;
daß sie, das „Zuhaufe-Gehören von Gott und Glauben" verleugnend
, Ileilsgeschehen, Hcilswert und Heilswirksamkeit in
Dinge, Institutionen und vollzogene Handlungen verlegt.
Diesem „magischen Best", der weit mehr als ein Best ist, geht
Hierzenberger bis in die letzten Konsequenzen und Verästelungen
mit unerbittlicher Schärfe nach, und er entlarvt sowohl
die in Dogma und Kultus fundamentierte als auch die in
der Volksfrömmigkcit ausgewucherte Magie (welch letztere ja
auch in der Praxis der „Evangelischen" reichlich vorhanden
ist). Darin — und darin allein — liegt der Wert seines Buches,
von dem eine erhebliche und vielleicht heilsame Schockwirkung
ausgehen wird.

Hierzenberger ist stärker in der Negation als in der Position
. Sein Buch erweckt den Eindruck, als trete nach Subtraktion
des magischen Elementes die reine Gestalt des Christentums
von selbst hervor und als könne die katholische
Kirche auf alle „Magie" im weitesten Sinn des Wortes
schlechthin verzichten, ohne ihr Wesen aufzugeben. Zwar finden
sich in dem Buch viele sporadische positive Einzelbemerkungen
, aber sie sind nicht systematisch durchgearbeitet, von
divergierenden Autoren übernommen und unausgeglichen
nebeneinandergestellt. So bemerkt Hierzenberger z.B., Herbert
Braun wolle „nichts anderes", „als dem modernen, säku-

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 8