Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

608-610

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Herdieckerhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Der Braunschweiger Kampf um Evangelisation im 19. Jahrhundert 1970

Rezensent:

Appel, Helmut

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

«07

Theologische Literaturzeitung 95. .lahrgang 1970 Nr. 8

008

Kenntnis und Erkenntnis jene» Abschnittes der Kirchenge-
schichtc, dem wir die Überschrift „Kirchenkampf" geben.
Die Bemühungen, durch Erforschung der landeskirchlichen
Ereignisse oder durch die biographische oder autobiographische
Darstellung einzelner Persönlichkeiten vorwärts zu klimmen
, sind im Wesentlichen als gescheitert anzusehen. Dazu
hat sicher die Versuchung beigetragen, das einzelne „Objekt"
der Darstellung im Gesamtrnhmen zur Geltung zu bringen
und höchst bekannte Dinge unkritisch zu wiederholen und
dadurch den Leser zu langweilen.

Nimmt mau den neuesten Band der Arbeiten zur Geschichte
des Kirchenkampfes zur Hand, so wird man (ebenso, wie
schon hei Band 18, den Angelika Gerlach-Practorius über
„Die Kirche vor der Kidesfragc'" schrieb) darüber belehrt,
dall das Gesamtthema noch längst nicht erschöpft ist, und
daß man durch Spezialuntersuchungen zu wichtigsten Erkenntnissen
fortschreiten kann. Erich Günter Büppel ist es in
langjähriger, gründlicher Arbeit gelungen, ein Thema, das
sicher nicht reißerisch wirken wird, in höchst eingängiger,
kluger und eindringlicher Weise abzuhandeln und eine überzeugende
und abgerundete Arbeit vorzulegen.

Dali das Thema nur im größeren Kähmen erscheinen kann,
ist gewiß. Der Verfasser hat sich aber dabei auf das unbedingt
Notwendige beschränkt und eine sorgfältig überdachte und
begründete Darstellung gegeben. Das gilt ebenso von der Darstellung
, die der Gemeinschaftsbewegung und den in ihr agierenden
Persönlichkeiten zuteil wird. Je „persönlicher" er
wird und werden muß, um so maßvoller und zurückhaltender
bleibt er mit seinem Urleil, und man bat nirgendwo den fatalen
Eindruck, daß die reichlich herangezogene und zur Verfügung
stehende Briefliteratur dazu dienen sollte, eine kirchengeschichtliche
chronique scandalcuse aufzubauen und die
Arbeit attraktiv zu machen. Der Mensch wird allenthalben
ernst genommen, auch dort noch, wo er in offensichtlicher
Verblendung redet und bandelt und entscheidet.

Die alten und üblichen Urteile über den Pietismus des
zwanzigsten Jahrhunderts sind im allgemeinen vorschnell
und zu wenig durchdacht. Wenn Büppel zu Anfang seines
Buches von rund 6000 Gemeinschaften in Deutschland mit
etwa 300000 Mitgliedern redet, wenn er 35 Verbände aufzählt
, die im Sommer 1933 bestanden haben, dann wird einem
verständlich, wie buntfarbig die Palette war. Geschichte,
Landschaft, Leitung bestimmen jedes einzelne Bild, und es ist
unendlich schwer, das Ganze zu leiten und die Teile des < ranzen
zu verstehen. Es kommt deutlich heraus, wie stark ein
Mann wie D. Walter Michaelis als große geistliche Persönlichkeit
das Ganze geprägt hat, und wie er es versucht hat, den
Kurs zu halten, „das eine Wort Gottes" im Blick zu behalten.
Es gelingt hier ebenso wenig wie bei „der" Kirche. Ohne
Schuldbekenntnis geht es nicht.

Daß die „Erömmigkeitsgeschiehte" zu ihrem Hecht
kommt, ist erfreulich. Sie ist innerhalb der Kirchengescbichte
eigentlich immer zu kurz gekommen. Aber hier stehen neben
einfältiger und kindlicher Frömmigkeit auch ihre Nebentriebe
und Entartungen, nationalistisch gefärbte Begeisterung und
eine ebenso nationalistisch geprägte Reichserwartung und
Reichsekstase. Hier ist der Boden, auf dem das Bild von dem
frommen und getreuen „Oberherrn" sich ebenso findet wie bei
den konfessionellen Theologen lutherischer Prägung. Hier
wird die Gegenwart als „Gnadenzeit," etikettiert, hier wird
der „teure Reichsbischof'* bejubelt, hier wird der in und aus
der Bibel lesende Hitler zum Gesandten Gottes kreiert.

Einer der berauschten Exponenten des Nationalsozialismus
in der Gemeinschaftsbewegung konnte noch nach der DC-
Sportpalastversammlung in einer internen Sitzung ausrufen:
„Unser Volk schreit nach dem Evangelium, und wir begnügen
uns mit unserer Winkelsache, wir begnügen uns damit, einige
Seelen zu retten. Es ist Missionszeit, es ist eine Weltwende,
wie sie Deutschland noch nicht gehabt hat. Machen Sie Ihr
Werk! Was Gott mit mir macht, weiß ich nicht. Aber die Verantwortung
übernehme ich nicht." Dieser Mann, der nie an

-ein Ziel kam und nie zu seinem Ziel kommen konnte, mußte
sich von D. Walter Alfred Siebel, dein Vertreter aus dem Siegerland
sagen lassen: „. . .das Volk schreit nach Brot, Vergnügen
, Luxus, aber ich habe noch nicht gesehen, daß es nach
Gottes Wort schreit..." Hier gab es keine Verständigung,
keine Überbrückung der Kluft. Wer nun gar das Blatt „Heilig
dem Herrn" durchblättert, das Direktor Wilhelm Goebel herausgab
(später hieß es „Zeitspiegel" und wurde bis 19/i.'! mit
Druckerlaubnis und l'apierlieferung ausgezeichnet), der versteht
, daß die Situation trotz der gemeinsamen Geschichte
und der gemeinsamen „Erfahrungen" nicht um ein geringes
günstiger war als in der verfaßten Kirche, in der damals noch
Männer wie Hossenfelder und Leutheuser Bebe* „dem größten
Irrlehrer" (so der Leiter der Berliner GeineinschafI) Karl
Barth standen und lehrten.

Erich Günter Büppel beleuchtet nicht nur die Kontroverse
der beiden Partnerin der Gemeinschaflsbewegung, nicht nur
die Badikalisierung der deutschchrisllich Ausgerichteten und
die Beharrlichkeit derer, die einen Anschluß oder einen Bund
mit der Bekennenden Kirche herbeizuführen suchten. Er widmet
sich auch der Haltung der ..neutralen Gemeinscliafts-
verbände" und kommt damit zu einem Stück seiner Darstellung
, das allgemein von größtem Interesse sein müßte (S.
'200ff.). Was die Blätter dieser Verbände getan haben, um die
Böhm. Morde, die Judenverfolgung, die Auslösung des Krieges
zu bagatellisieren und zu rechtfertigen, das kann auch von
der eigentlich politischen Presse kaum übertreffen werden.

So ist diese Geschichte wenig erfreulich und oft bedrük-
kend. Nur gut, daß hier und da tiefe Erkenntnisse aulleucb-
Icn, daß hier und da ein Zeugnis abgelegt wird (zumal in der
Zeit der Judenverfolgung und in der Zeit der „Euthanasie"),
daß hier und da ein neuer Durchbruch kommt. Denn das wird
doch immer wieder deutlich, daß das Werk weitergeht. Es
wird weiterhin verkündet, geglaubt, gebetet, gearbeitet, geholfen
.

Immerhin: Büppels Buch ist weit davon entfernt, ein
„Ehrenbuch" oder eine „Festschrift" darzustellen. Dafür ist
die Aufgabe und die Sache zu einst. Aber man kann hier
einige Dinge vor die Augen gestellt bekommen, die nicht nur
einer „Gemeinschaftsbewegung" frommen. Erkenntnisse, die
/war spät ausgesprochen werden, die aber nie zu spat kommen
: 1. In dem dauernden, manchmal sehr schnellen Wechsel
der Szenerie in unserer Geschichte ist es vordringlich wichtig,
daß man die Geistesgegenwart, die Gegenwart des Geistes beweist
. — 2. Bei dem Auftreten immer neuer Geister und
Mächte, Gewalten und „Wahrheiten" ist es notwendig, die
Gabe der Unterscheidung zu erbitten und sich nicht eher zu
binden, ehe nicht das ..eine Wort Gottes" sein Plazet gibt. —
3. Die Begeisterung für neue, bisher ungebräuchliche und unerprobte
Strukturen (Führerprinzip mit dem Titel „Beichs-
gemeinschaftsführer" und ahnliche Dinge) darf nicht dazu
veranlassen, die „Gemeinde von Brüdern", die „Gemeinschaft
der Heiligen" zu sprengen. — 4. Die Arbeit an dem Einzelnen
, die Suche nach dem Bruder darf nicht dazu verführen,
die „Welt" zu vergessen und zu verachten und sie anderen zu
überlassen, die nicht „aus Gott" sind.

Aus alledem ergibt sich, daß Büppels Buch auch für den
von Gewicht und Bedeutung ist, der heule im Amt der Verkündigung
und in der Arbeit der Gemeinde steht.

Ilielcfeld Wilhelm Niemöller

Herdieckerhoff, Eberhard: Der Hraunschweiger Kampf um
Evangelisation im 19.Jahrhundert. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht [1968]. VII, 304 S. gr. 8° = Studien zur
Kirchengeschichte Niedersachsens, in Verbindung mit R.
Drögereit u. K. Schmidt-Clausen, hrsg. v. H.-W. Krum-
wiede, 18. Kart. DM 16,80.

Die Bezeichnung „Evangelisation" im Titel führt irre,
wenn der Leser vom gängigen Begriff des Wortes ausgeht, der