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Ausgabe:

1970

Spalte:

606-608

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Rüppel, Erich Günter

Titel/Untertitel:

Die Gemeinschaftsbewegung im Dritten Reich 1970

Rezensent:

Niemöller, Wilhelm

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Theologische Literat urzeitung 95. .Jahrgang 1970 Nr. 8

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Es hat sich gezeigt, daß das ganze konfessionelle Luthertum
in der gleichzeitigen romantischen uud idealistischen
Philosophie verankert war. Sein Zusammenhang mit der Er-
weckung in den Fußspuren des napoleonischen Krieges ist
klargelegt und seine Gegenüberstellung dem verllachten Rationalismus
gegenüber ist auch berücksichtigt worden. Zu seinen
charakteristischen Merkmalen gehört jedoch, daß es positiv
neuschaffend war. Ks begnügte sich nicht mit einer
Rückkehr zu den theologischen Positionen der lutherischen
Orthodoxie, sondern griff freimütig die Fragestellungen der
Zeit an. Auf eine neue und selbständige Weise suchte es die
Probleme hinsichtlich der Offenbarung, der Bibel und des Bekenntnisses
zu meistern, die die historische Bibelkritik und
der Rationalismus zum Leben erweckt hatten. Die konfessionellen
Theologen wurden auch lebhaft in ökumenischen Problemen
engagiert, leider hauptsächlich unter negativen Vorzeichen
in Auseinandersetzung mit der katholischen und reformierten
Kirche. Bei dieser Gelegenheit wurde der Gedanke
von der lutherischen Kirche als der Mitte von zwei Extremen
geboren.

Prof. Kantzenbachs neues Buch hat in keinem wesentlichen
Punkt vermocht, das schon vorhandene Bild des Neuluther-
t ums zu findem oder zu vertiefen. Die Stärke des Buches liegt
in den Spezialkenntnissen über Harms, Scheibe], Löhe, il-
mar, außerdem auch über von Schaden und Hermann von
Bezzel, die nicht dem ursprünglichen neulutherischen Kreis
angehörten. Die Darstellung baut auf einem umfassenden
Quellenmaterial auf, das der Vf. gesammelt hat. Harms wird
mit Recht als der Initiator der konfessionellen Theologie angesehen
. Mit seiner abweisenden Einstellung gegenüber dem
Rationalismus und der preußischen Union gab er den Ton an.
Einen Versuch, seine Bedeutung für die Entwicklung näher
zu präzisieren, macht der Vf. jedoch nicht.

Daß Löhe Impulse von Hanns in seiner Auffassung bezüglich
der lutherischen Kirche als der Kircheder Milte erhalten
hat, ist unbestritten, das betrifft auch in gewisser Hinsicht
-<■ in<■ Wiederentdeckung des Abendmahles. Aber was vor
allein Harms von Löhe und der nachfolgenden konfessionellen
Theologie nach dem bisherigen Stand der Korse Innig unterscheidet
, ist das Fehlen jeder Form des Kntwicklungsgc-
dankens. Die große Bedeutung des Entwicklungsgedankens
der Erlanger Theologie und Vilmars ist früher bekannt gewesen
— man braucht nur einen Blick auf Thomasius' Dog-
tnengMchichte zu werfen, um diese Tatsache zu bekräftigen,
— aber die Neuentdeckung des Vf.s ist, daß auch Wilhelm
Löhe von solchen organischen Entwicklungs Vorstellungen be-
rinlliil.il gewesen sei.

Seit langem weiß man, daß Löhe dem Lager des konfessionellen
Luthertums angehörte, aber seine Sonderprägung vor
allem in bezug auf die Erlanger Theologen, von denen er geographisch
freilich nicht weit entfernt war, winde beachtet.
Die Erlanger Theologen bildeten, natürlich mit personlichen
Nuancen, eine einheitliche Schule. Sie entwickelten eine Theologie
von dem Bekenntnis und der Kirche im nahen Anschluß
au die führenden philosophischen Strömungen. Tür die Er-

lauger Theologie stand die organische Bekenntnisentwicklung

im Zentrum. Programmatisch isl sie im ersten Heft der Zeitschrift
für Protestantismus und Kirche formuliert worden, wo

Vdoli cm Harleß die Feder [Ohrte.

Prof. Kantzenbach ist jetzt tu der Auffassung gekommen,
daß auch Lohe vom ( Irganismusgeda alten in liniert war. Wenn

damit verstanden w ird, daß I .«'die sich nicht mit einer Rcpri-
Ii inalinn des Standpunkts der Orthodoxie begnügte, sondern
selbständig dazu beitrug, eine Lehre vom Amt. der Esrhato-
logie. dem Abendmahl auszuformen im Anschluß an ein theologisches
Programm, das früher von Kliefoth und Thomasius
skizziert wurde, ist die Auffassung des Vf.s unzweifelhaft.
Wenn er aber damit meint, daß Löhe inhaltlich Min der damaligen
Philosophie beeinflußt war, genau wie die Erlanger
Theologen, sieht seine Behauptung auf sehr sehwachen Füßen
. Löhe war theologisch sehr gut orientierl. Staad aber der
Philosophie fremd gegenüber. Seine Theologie versuchte er

praktisch in der umfassenden diakonischen und kirchlichen
Arbeit zu verwirklichen, die unter seinem Schutz in Neuen-
dettelsau heranwuchs. Darin gibt der Vf. eindringende Einblicke
in dem Kapitel über Löhe.

Die konfessionellen Theologen widmeten besondere Sorgfalt
der Erklärung des Verhältnisses zwischen der Bibel und
dem Bekenntnis, und sie formten eine neue Theorie von der
Bekenntnisbildung als einer organischen und dialektischen
Entwicklung. Da ähnliche Gedankengänge bei Möhler und
Newman wiedergefunden wurden, hätten sie zu einem fruchtbaren
ökumenischen Dialog führen können. Der Vf., der am
Institut für ökumenische Forschung in Straßburg tätig war,
hat natürlich das Problem bemerkt. Schon im Vorwort des
Buches kündigt er einen Beitrag zur ökumenischen Diskussion
an durch eine kritische Untersuchung der Funktion und
der Bedeutung des Bekenntnisses im konfessionellen Luthertum
. Zwei zentrale Kapitel handeln auch davon, und zwar „Das
Bekenntnisproblem in der lutherischen Theologie des 19.
Jahrhunderts" und „Reformation — Konfession — Ökumene
". Beide Kapitel wie das ganze Buch werden von einein
Beichtuni von Einzelheiten, aber Mangel von eindringenden
präzisierten Analysen gekennzeichnet . Man kann darum nicht
sagen, daß das Buch die ökumenische Debatte wesentlich gefördert
hat.

Einzelne Theologen innerhalb des Luthertums werden für
Fehler oder Abweichungen von Luther kritisiert, Vilmar für
seine Amtslehre, die Erlanger Theologen dafür, daß sie der
Kirche „eine illegitime Bangerhöhung" gegeben haben. Die
zusammenfassende Beurteilung über die konfessionelle Theologie
wird unerwartet negativ im Verhältnis zu der positiven
Anerkennung zum Vorwort. Die Bemühungen dieser Theologen
werden darum verfehlt, weil sie an Melanchthon angeknüpft
und für eine sichtbare Kirche gearbeitet haben, anstatt
mii Luther die wahre unsichtbare Kirche in all den Konfessionen
zu sehen, wo das Wort verkündet und entgegengenommen
wird im Bekenntnis, das das Ja des Glaubens, jedoch
nicht formulierte Lehrsätze bedeute. Abgesehen davon,
daß der Vf. den konfessionellen Theologen Unrecht tut. indem
er in diesem Zusammenhang andeutet, daß sie als Ideal
..einen rechtlich anerkannten Bekenntnisstand" angenommen
haben sollten, vermag er auch nicht ganz die positiven
Seiten des Organismusbegriffes und des Entwicklungsgedankens
einzusehen. Es gibt Ansalze für ein positives Verständnis
, aber die Kritik überwiegt, weil diese Vorstellungen eine
Abweichung von Luther bedeuten. Sie gehörten ja auch sehr

richtig mit dein I!).. nicht mit dein 11i. .1 ahrhundert ZOSam-
men, aber sie gaben Voraussetzungen für einen ökumenischen
Dialog. Theoretisch ermöglichen sie solche gemeinsamen
neuen Einsichten, die die Kirchen einander näherbringen

könnten.

Es waren andere Motive in der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts
, die zur Betonung des historisch Trennenden, zu
Nationalstaaten und zu Konfessionskirchen führten, und diese
Gedankengänge beherrschten die konfessionelle Theologie.
Im Hintergrund zu den vorherrschenden Verhältnissen war

dieser Trend natürlich, es gall ja ein zerstörtes Kirchenlebcn
wieder aufzubauen. Daß es in der Trage von Polemik und

Kirchensplitterung zu nicht wünschenswerten Resultaten
führte, soll uns nicht daran hintern, das Positive in vielen Ansätzen
zu sehen. Von diesem Gesichtspunkt her isl Kantzenbachs
Buch willkommen als ein neuer Beitrag zu einer bedeutungsvollen
Epoche der Theologiegeschichlc.

Uppnala/Schwrdrn llolstrn KagSMMSg

KüpiH'l, Erich Günter: Die Ceriielnachaftsliewegung Im Dritten
Reich. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkarapftss.
Göttingen: Vandcnhocck & Ruprecht 1969. 258 S. gr. 8° =
Arbeiten z. Geschichte des Kirchenkampfes, 22.

Die leizten Jahre waren so darf man wohl etwas summarisch
sagen — nicht (dien ertragreich und erhellend für die