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Ausgabe:

1970

Spalte:

604-606

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gestalten und Typen des Neuluthertums 1970

Rezensent:

Fagerberg, Holsten

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tisiinis" 1967 (S. 290—330) wird in beispielhafter Weise ilie
Forderung Sch.l erfüllt, die eigen! iimliehe Verwendung der

Lut hcrzitate Im Pietismus zu überprüfen (vgl. S. 159, tOl,

234 f.). Auefa sonst wird immer w ieder Luther positiv und kritisch
zum Vergleich herangezogen (vgl. S. 65, 87ff., 04, 132ff.,
170, lSlff., 191 ff. U.B.), Dagegen seheint mir der von Seh. vor
allem in Hinblick auf Schwenckfeld betonte Zusammenhang
zwischen den „Schwärmern" der Reformationszeit und dem
PfetUmm (vgl. S. 183, 185f., 105, 239ff. u.ö.) durch den Aufsatz
über,,Das Selbst be\ ul.il sein Thomas Müntzers, eine Vorform
des Pietismus, und sein Verhältnis zu Luther" 1954/58
(S. 9—23) nur bedingt bestätigt zu werden. Seh. meint, ge-
H isse Parallelen im Amis-erständnis, in der Betonung des I r-
christentumi und dem Interesse an der „wahrnehmbaren
Wirkung des Wortes" feststellen zu können (S. 22f.). Vor
allem im Hinblick auf den letzten Punkt erweise sich Müntzer
„Strukturell als Bindeglied von der Mystik über Luther zum
Pietismus". Aber Seh. muß zugeben, daß „sich genetisch

kaum Belege dafür linden lassen ". Und in der W'iedergcburls-

lehre sieht auch er keine wirkliehen Parallelen (S. 23, Anm.
60, doch vgl. S. 10 u. 22). Das Verhältnis zur Orthodoxie, das
in letzter Zeit durch J. Wallmann unter der Fragestellung
Rechtfertigung—Wiedergeburt wieder energisch in den Mittelpunkt
des Interesses gerückt worden islwird in den Beiträgen
zumeist kritisch gesehen (vgl, S. 521., 102IT., 182ff.,
28'ilT. u.ö.), Sch.s Stellungnahme zu Wattmann räumt jedoch

einige Mißverständnisse beiseite. Danach will auch Seh. die

„Mittelpunktstellung der Rechtfertigung in Speners Denken"
nicht leugnen. Man könne Speners Prodi „ganz im Rahmen
der Tradition und ihres Lehrbestandes zeichnen". Entscheidend
sei aber, „daß Spener die Rechtfertigung mit allen ihren
Momenten in den übergreifenden Zusammenhang der Wiedergeburl
einfügte". Darin liegt nach Seh. „das Neue und Wesentliche
" (S. 193f.). Leider führt der Aulsalz über „Valentin
Ernst Löschers Einspruch gegen Christian Melodius" 1964
(S. 357—389), so interessantes Material er sonst zur Geschichte
des Pietismus bietet, gerade in dieser Frage nicht weiter.

Im Zentrum der theologiegeschichtlichen Bemühungen
Sch.s steht der nachreforinatorische mystische Spiritualismus
. Hier ist von ihm in den beiden Aufsätzen über „Die
spiritualistische Kritik Christian HoburgS an der lutherischen
Abendmahlslehre und ihre orthodoxe Abwehr" i960 (S. 91 —
111) und über „Christian HoburgS Begriff der »mystischen
Theologie«" 1967 (S. 51—90) ein entscheidender Beitrag zum
Verständnis dieser oft verdeckt wirksamen Kräfte geleistet
worden. Weitere Vertreter des mystischen Spiritualismus wie
J. Arndt, J. Betke, J. Böhme, J. K. Dippel, P. Felgenhauer,
V. Weigel u. a. werden ebenso wie Hoburg in den übrigen Aufsätzen
z.T. ausführlich herangezogen (vgl. S. 183ff., 195f.,
238ff. u. ö.). Seh. weiß darum, daß diese Bewegung „in Wirklichkeit
. . . eine vielfältig abgewandelte Gestalt" zeigt, „die
es im einzelnen noch zu erforschen gilt" (S. 196). Trotzdem
steht für ihn bereits fest, daß die Grundthemen der pietistischen
Theologie im wesentlichen vom mystischen Spiritualismus
bereitgestellt worden sind (S. 24, 238ff. u.ö.). Diese Auffassung
, vor allem die These, daß Speners Pia Desidcria in
ihrer Konzeption von Hoburgs Kircheiikritik bestimmt worden
sind (vgl. S. 109, 147, 158ff., 248 u.ö.), wird in der Forschung
sicherlich nicht unw idersprochen bleiben.

Gegenüber diesen betonten Hinweisen auf den mystischen
Spiritualismus kommen die anderen theologiegeschichtlich
wirksamen Strömungen der Zeit relativ kurz zu Worte. Zwar
geht es in der erstmals veröffentlichten Untersuchung über
„Die »Geistliche Bad-Cur« Wolgang Mayers in Basel (1649)
und ihr literarisches Vorbild: Thomas Taylors Traktat »A
Man in Christ or a new Creature« (vor 1629)" (S. 24—50) laut
dem Untertitel um eine „literarkritische Untersuchung zur
Theologie der Wiedergeburt und zum Verhältnis von Puri-
tanismus und Pietismus" (S. 24). Aber im wesentlichen wird
eine außerordentlich interessante und diffizile literarkritische
Analyse geboten, während die Frage nach dem Verhältnis
von spiritualistischem und puritanischem Erbe in der Wieder-

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geburtsichre des Pietismus nur am Baude angedeutet wird
(vgl. S. 24, 42f., 46, 49f., 189 u.ö.). Sicher wird man weitere
Auskünfte vom angekündigten zweiten Band erwarten dürfen
, da Seh. gerade die Frage des Puritauismus in einer Reihe
von Aufsätzen ausführlich behandelt hat. Line ähnliche Zurückhaltung
übt Seh. auch gegenüber dein französisch-spanischen
() nietismus. In seinein Aufsatz über „Die Biographie
des französischen Grafen Guston Jean-Baptiste de Benty
(1611—1649) und ihre Aufnahme im 18. Jahrhundert" 1953/54
(S. 390—438) weist Seh. allerdings auf die „mächtige Anziehungskraft
" hin, die „die romanische Mystik Spaniens und
Frankreichs . . auf den werdenden Pietismus der reformierten
, später auch der lutherischen Kirche" ausgeübt hat. Der
Aufsatz steht deshalb unter der speziellen Überschrift: „Ein
Kapitel aus dem ökumenischen Austausch zwischen romanischer
Mystik, reformiertem Pietismus, Anglikanisinus und
Methodismus im 18.Jahrhundert" (S. 390). Aber das eindrucksvolle
Bild dieser romanischen Frömmigkeit, das Seh.
hier entwirft, kommt in den übrigen Aufsätzen kaum zum
Tragen, Sofehllin den Ausführungen über F'ranckes Entwicklung
jeder Hinweis auf Molinos (S. 201, doch vgl. S. 224 f.).

Absehließend sei noch auf einen Gesichtspunkt hingewiesen
) der zwar nicht Gegenstand einer speziellen Untersuchung
geworden ist, aber in fast allen Beil lägen wiederkehrt. Sch.
betont nachdrücklich die „im Kern elbische Blickrichtung
des Pietismus" (S. 231, vgl. S. 60, 89f., 105, 161, 185, 225,
236f.) und bezeichnet als eigentliches pietistisches Ziel „die
Weltverwandlung durch Menschenverwandlung" (S. 2011, vgl.
S. 95, 225, 281), ja er spricht sogar von „sozialen Umwertungen
" und „revolutionären Energien", die sich aus der Wiedergeburtslehre
ergäben (S. 38, Anm, 37). Auch diese Blickrichtung
verdankt der Pietismus nach Sch. dem mystischen
Spiritualismus. Beiden geht es um die „Kraft" im Gegensatz
zum bloßen Wort, um die neue „Wirklichkeit", um die „Leiblichkeit
als Ende aller Wege Gottes" (vgl. S. 54ff., 141 ff.,
151 f., 115, 222, 296f. u.ö.). Damit ist ein Thema angeschlagen
, das sicher weitere l^rörterungcn erfordert.

Errata: S. 11(1 U. 334 f. Johann Heinrich Sprögel, nicht Johann
Georg; S. 142 Z. 1 v.u. „angestrengten" wohl „angeregten
"? (so 1951); S. 142, Anm. 117 der Verweis bezieht sich
auf den in der Neufassung nicht mehr zitierten Aufsatz von
M. Schmidt, Die Problematik des Puritanismus, ZKG 60,
1941; S. 200 Anton Heinrich Gloxin, nicht David; S. 313 u.
318 Schelwig nicht „Schelgwig"; S. 314f. Carl Leopold, Herzog
von Mecklenburg, nach seiner Vertreibung zeitweilig in
Danzig (nicht Graf zu bzw. Herzog von Danzig).

Halle/Saale Friedrich de Boor

1 Wüllmann, .Johannes, Pietismus und Orthodoxie. Überlegungen
und Fragen zur Pietismuslorschung. In: Geist und Geschichte der He-
forniation. Festgabe für Hanns Kückert. Arbeiten zur Kirchengeschichte
38, 1966, S. 418-442; ders., Spener und Dilfeld. Der Hintergrund
des ersten pietistischen Streites. In: Theologie in Geschichte und
Kunst. Walter Elliger zum 65. Geburtstag, Witten-Ruhr 1968, S.
214-235.

Kantzcnbach, Friedrich Wilhelm: Gestalten und Typen des
Neuluthertums. Beiträge zur Erforschung des Neokonfes-
sionalismus im 19. Jahrhundert. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus G. Mohn [1968]. 288 S. gr. 8°.

Zu den einflußreichsten und für das Kirchenlehen bedeutendsten
Bichtungen des 19. Jahrhunderts gehört das konfessionelle
Luthertum, das sogenannte Neuluthertum, dessen
Wirkungen sich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus
sowohl nach Skandinavien wie auch nach den Vereinigten
Staaten strecken. Seine Geschichte und geistigen Voraussetzungen
sind zur Zeit ziemlich gut bekannt. Mehrere von seinen
führenden Theologen sind Gegenstand umfassender Monographien
gewesen, z.B. die Erlanger Schule hatte ihren
eigenen sachkundigen Berichterstatter im Vf. des vorliegenden
Buches.

Theologische Lileraturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nt. S