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Ausgabe:

1970

Spalte:

597-599

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Müller, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die römische Kurie und die Reformation 1523 - 1534 1970

Rezensent:

Moeller, Bernd

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Theologische Literaturzeittmg 95. Jahrgang 197U Nr. 8

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Hauptgruppen ß und y-o aufgeteilt, wobei es sich zeigt,
daß letztere auf eine gemeinsame Quelle iE zurückgeht. Wo ß
und 1t voneinander abweichen, ist es unmöglich, sicher zu
bestimmen, welche Gruppe auf den Archetypos zurückgehl;
aber mit Hilfe der Sekundärquellen kann man beweisen, daß
die ß -Gruppe der Urfassung am nächsten steht. In einem abschließenden
Kapitel („Tekslkritiska anmärkningar" S. 100—
110) werden 15 Textstellen auf ihre Wiedergabe der Urfassung
hin untersucht. Vier Stellen sind grammatikalisch unanfechtbar
, elf dagegen fehlerhaft. Da es nicht denkbar ist,
daß Alfonsos erste Ausgabe von Buch VII solche Fehler enthalten
haben sollte, so kann sie nicht mit der Urfassung identisch
sein.

Fflr die Birgitta-Forschung wie auch für die Beschäftigung
mit dem .Mittelalter im allgemeinen ist diese Ausgabe von
größter Bedeutung. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Kap. 7
antwortet Birgitta kraft einer Offenbarung auf einige Fragen,
«eiche ihr ein „frommer Bruder*1 („quidam fratcr deuotus"
vgl. Gbotan) gestellt hatte. In Berghs neukonstruiertem Text
lesen wir: „quidam fratcr minor deuotus". cl.li. es handelt
sich um einen frommen Franziskaner. Hiermit rückt die Offenbarung
aus der Sphäre der Abstraktion mitten in die
rauhe Wirklichkeit der Geschichte; in den Streit zwischen
den Konventualen und Spiritualen, wo der päpstliche Stuhl
wieder einmal den Partner unterstützte, für den „mundus
dulcior est quam Deo".

Aarhus Knud Ottoscn

KIRCHENGESCHICHTE:
REFORMATIONSZEIT

Müller, Gerhard: Die römische Kurie und die Beformalion
1523—1534. Kirche und Politik wahrend des Pontifikates
Clemens' VII. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G.Mohn
1909. 308 S. gr. 8° = Quellen und Forschungen zur Befor-
mationsgesehichte, hrsg. vom Verein für Bcformations-
geschichte, 38. Lw. DM 45,-.

Dieses bemerkenswerte Buch bietet den Frtrag einer Forschungsarbeit
dar, wie sie seit langem unter evangelischen
Kirchenhislorikcrn nicht üblich gewesen ist: Es ist ganz der
politischen Geschichte zugewandt. Der Vf. weitet hier die
beiden von ihm bearbeiteten Ergänzungsbände zur Sammlung
der „Nuntiaturberichte aus Deutschland", die das früher
»inberücksichtigt gebliebene Material für die Jahre 1530 bis

1532, die Nuntiaturen Campeggios und Aleandcrs, enthalten
(Bd. i, 1963; Bd. 2, 1969), zu einer Gesamtdarstellung der
europäischen politischen Geschichte im Pontilikat Clemens'
VII. aus, mit besonders sorgfältiger Beachtung der Politik
der Kurie.

Die große Unisicht, Dichte und Sicherheit, die man dieser
I (arstcllung vor allen I )ingcn nachrühmen muß, verdankt der
f. se iner umfassenden Kenntnis und Verarbeitung der Quellen
. Fr hat nicht nur das in den obengenannten „Nuntiatur"-
BInden veröffentlichte reiche Material, das vor allem das Vatikanische
Archiv bot, und eine große Fülle sonstiger gedruckter
Texte herangezogen, sondern zusätzlich noch den Ertrag
weiterer Archivstudien nutzbar gemacht, vor allem Berichte
anderer italienischer Gesandter aus Deutschland — einzelne
mit der Kurie in Zusammenhang siehende und bisher unbekannte
Schriftstücke sind im Anhang abgedruckt —, und er
übertrifft somit schon in der Breite und Solidität der Fundie-
rung alle früheren Arbeiten zum Thema wesentlich.

Es handelt sich bekanntlich um einen geschichtlichen Zusammenhang
, in dem Entscheidungen von unabsehbarer Bedeutung
und Tragweite lielcn, die Geschehnisse, die der Vf.
als die .. Anfänge des konfessionellen Pluralismus" bezeichnet.
Kr vertritt die Meinung, daß Clemens VII. an dieser Entwicklung
wichtigen, ja maßgeblichen Anteil gehabt habe, und er
wirft dem Papst verhängnisvolle Versäumnisse „in bezug auf

das Wohl der Kirche" vor, macht jedoch gelegentlich auch
auf die „tragischen Züge" aufmerksam, die dem Geschehen
anhafteten. Natürlich ist diese Sieht der Dinge nicht vollkommen
neu; die Wichtigkeit dieses Pontifikats für den Ablauf
der Beformationsgeschichte ist schon oft erkannt und vor
Augen geführt worden, am deutlichsten in Jedins Schilderung
der Vorgeschichte des Trienter Konzils, wo gezeigt wird, in
welchem Maße und mit welcher Konsequenz Clemens dem
Konzil entgegengearbeitet hat. Das vorliegende Buch ergänzt
und erweitert jedoch unsere Vorstellungen erheblich, und
zwar vor allem durch den breit und sorgsam fundierten, überzeugenden
Nachweis, daß überhaupt die Tatsachen und Probleme
der deutschen Beformation in Clemens' VII. Pontilikat
die längste Zeit über nur nebenbei, als eine politische und
kirchenpolitische Aufgabe unter vielen, ins Auge gefaßt winden
, daß es an der Kurie trotz der intensiven und oft sachverständigen
Berichterstattung durch die Nuntien in erstaunlichem
Maß an Kenntnis und zumal an Verständnis für die
kirchlichen Geschehnisse in Deutschland fehlte — noch 1532
hatte man allen Krnstes die Meinung, man könne der Neuerung
durch den Einsatz von Bestechungsgeldern Herr werden
—, und daß demgegenüber den Fragen der italienischen
Politik, dem Bingen mit dem Kaiser um die „libertä d'Italia",
aber auch der Sorge vor dem Türken — zumal wenn er Anstalten
machte, die italienischen Küslen anzugreifen — weit
mehr Interesse und Energie zugewandt wurden. Die schon
von Jedin herausgestellte Angst des Papstes vor dem Konzil,
seine hartnäckige, gewandte und schließlich erfolgreiche Bemühung
, ihm auszuweichen, vervollständigt und erläutert
das Bild. Clemens VII. wurde an kirchlichem Engagement
und kirchlichem Weitblick von dem Kaiser weit übertroffen,
der doch im Zentrum seines politischen Wollens keineswegs
ein Macchiavellist war — wie der Vf. S. 166 der Mitteilung zu
entnehmen scheint, Karl V. habe den „Principe" fast auswendig
gekannt —, sondern dessen Bomtreue immer der sicherste
Faktor in den politischen Rechnungen der Kurie war.
Doch hebt der Vf. mit Becht hervor, daß auch für den Kaiser
die Auseinandersetzung mit der Beformation immer nur neben
anderen Problemen stand und bis 1534 nie den Vorrang
hatte, daß man also, wenn man vom Bewußtseinsstand der in
der großen Politik maßgeblich Handelnden ausgehen wollte,
dieses Jahrzehnt noch keineswegs dein ..Zeilalter der Beformation
" zurechnen dürfte. Gerade diese ihre Mißachtung war
aber eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Beformation
weltgeschichtliche Bedeutung erlangle.

Auch im einzelnen verdankt man dem Buch mancherlei
neue Erkenntnisse. So war z.B. der Nachweis, daß Clemens
VII. in den ersten Monaten seines Pontifikats zunächst die
kirchenreformerischen Ausätze seines Vorgängers Hadrian
VI. fortsetzte und erst im Jahr 1525 zur Orientierung an
Frankreich und zur „Prävalenz des Politischen" umschw enkte
, bisher so genau noch nicht geführt worden. Die besonders
aufschlußreichen Darlegungen des Vf.s zur Geschichte des
Augsburger Reichstaga von 1530 gipfeln in der Feststellung,
daß die Kurie sich in der Spätphase der Versammlung zu bemerkenswerten
Zugeständnissen an die Protestanten durchgerungen
hatte, daß diese Wendung jedoch zu spät kam und
die zeitweise so aussichtsreich erschienenen Verhandlungen
mit Mel.iuchthon nicht mehr zu beeinflussen vermochte'. Ähnlich
sind auch sonst die politischen Zusammenhänge der Zeit,
die Reichstage, die Vorgeschichte des Schmalkaldischen Bundes
und des Nürnberger Auslands usw. in zahlreichen Finzel-
heiten und Aspekten neu gesehen und gedeutet. Der Vf. verfolgt
das Geschehen Schritt für Schritt, von Monat zu Monat
. Im allen Wendungen und Schwankungen und in den dif-
lizilcn Motivationen, und was man in seiner tatsachengesät-
tigten Darstellung allenfalls vermissen kann, ist Spannung
und Großzügigkeit. Doch vermittelt er eben damit zugleich
ein Merkmal des von ihm geschilderten Geschiehtsabschnitts:
Jedenfalls wenn man die Politik der Kurie zum Ausgangspunkt
der Betrachtung nimmt, so erweist, sich dieses so bedeutsame
, cn t scheid ungs reiche Jahrzehnt als ein Geschiebe,