Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

544-547

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Theologie zwischen gestern und morgen 1970

Rezensent:

Mahlmann, Theodor

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

543

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 7

544

Eine fürs erste vorzügliche Darstellung für alle, denen Gogar-
tens eigene Schriften das Eindringen in sein Spätwerk schwermachen
. Problematisch ist freilich die Behauptung, letzteres ergebe
sich folgerichtig aus den theologischen Anfängen und habe »die
Dynamik der frühen dialektischen Theologie wohl am reinsten
von allen Dialektikern erhalten" (156, vergl. dagegen 255 ff).
Vf. scheint des alten G. Polarisierung von Heil und Welt aus der
frühen Entdeckung Gottes als des „ganz anderen" und dem Pathos
des .unendlichen qualitativen Unterschiedes" ableiten zu wollen
(156). In diese Perspektive läßt sich m. E. Gogartens mittlere
Theologie nur einordnen, wenn man deren erst vereinzelte, kaum
durchschlagende Voten für die „radikale Weltlichkeit" und sachliche
Vernunft höher wertet als die breiten und intensiven Bemühungen
um eine theologische Erneuerung der „großen Ordnungen"
(1928), als die Interpretation des Menschseins als eines „politischen
Seins" (1932), mit denen G. der damaligen romantisch-konservativen
Kulturkritik angehört. Bevor das Problem der Einheitlichkeit
seines Gesamtwerkes mit dem Prädikat „einer seltenen
Geschlossenheit" (184) zugedeckt wird, wären u. a. die es mitbestimmenden
nichttheologischen, kulturdiagnostischen, wirklich-
keitstheoretischen Voraussetzungen zu berücksichtigen, wie sie von
Strohm (Tillich), Tilgner, Scholder u. a. längst herausgestellt sind.
Aber auch systematisch: Die „Bindung durch die endliche Wirklichkeit
", welch konservativ gemeinte Maxime G. schon 1924 zum
„Wesen des Protestantismus" erklärt hat (unter dem tat er's ja
nie!), ergab nicht nur historisch ein sehr anderes „christl'ches"
Weltverhältnis, als es die Freiheit des Glaubens von der umschließenden
und für die verwaltete Welt ist, von der das
Spätwerk redet. Gab es z. B. 1928 für G. „nur die Sünde, die
einer in seinem Stande seinem Nächsten gegenüber tut", so betrifft
seit 1952 die Sünde, ebenso ausschließlich, „lediglich das Verhältnis
zu Gott." Solche u. ä. tiefgreifenden, nicht mehr mit dem Bild des
„Keims" (155) zu fassenden Wandlungen verwehren es m. E. auch,
etwa unter Berufung auf G.s Weigerung, nachträglich aus seiner
mittleren Zeit etwas zurückzunehmen, seine politische Theologie
und Staatslehre „im Präsens zu belassen" (177, Anm. 11). d.h. sie
mit einigen „wohlgemerkt"s (177 ff) an die spätere Konzeption
des „Menschen zwischen Gott und Welt" anzugleichen. - Diese
Einwände richten sich nicht gegen B.s Darstellung des Spätwerkes
und seiner Säkularisierungstheologie, wohl aber gegen den Versuch
, von hier aus auch die früheren Positionen und überhaupt die
Einheit dieses Lebenswerkes in den Blick bekommen zu wollen.
Eine Gesamtanalyse müßte schärfer ansetzen.

Die anschließende „Besprechung" (184 ff) gibt zunächst der
kath. Theologie und Kirche zu bedenken das „Ernstnehmen der
weltlichen Welt" bzw. die christliche Freiheit zur Sachlichkeit vor
allem in Wissenschaft, Geschichte und Kultur. Voraussetzung dafür
sei freilich, daß man aus dem verbreiteten praktischen Mono-
physitismus herausgelange zur „Anerkennung der wahren Menschheit
Jesu" (190). Weiter nennt B. u. a. den ungegenständlichen,
personal-geschichtlichen Charakter der Offenbarung, den Anspruchsund
Antwortcharakter des Gottesverhältnisses, das Verhältnis von
Glaube und Liebe und das von Gesetz und Evangelium - insgesamt
zehn Themenkreise, für die man „von Gogarten Wesentliches
lernen" (185) könne. Der „Ausblick in den katholischen Raum"
(198 ff) referiert kritisch neue Vorstöße, die sich, mit G.s säkularisierungstheologischem
Anliegen berühren, freilich keinesfalls
decken (Metz, Auer, Guardini, Völkl u. a.). Hier wird bereits deutlich
, daß Aufgeschlossenheit, ja Engagement für entscheidende
Ergebnisse G.s den Blick des Vf.s für die zentrale Schwäche von
dessen Gesamtkonzeption nicht getrübt haben. „Anstelle einer
Kritik" (243 ff) macht er im Anschluß an Joest, Gloege, Brandenburg
u. a. überzeugend klar, wie G.s extrem-unzureichender Personbegriff
zu einer „Entleiblichung des Glaubens" geführt hat (247)
mit all ihren Konsequenzen. G.s unaufgebbaren Einsichten bleiben
in falschen Alternativen gefangen. Er bestimme „die Subjektivität
des Menschen falsch, wenn er sie der Dingwelt in einem radikalen
strukturellen Gegensatz entzieht" (249). G.s Mensch »hat
keine Mitte, er glaubt ohne Herz ... ist eine theologische Konstruktion
" (253) (Zu G.s im Spätwerk wieder unverkennbaren
Verwandtschaft zum Idealismus, die B. vermutet [246 f), vergl. über
Kamiah hinaus R. Weth, Gott in Jesus, München 1968). Bauers eigener
, warum nicht ans Ende gesetzter? skizzenhafter Entwurf zum
Thema (230 ff) versucht G.s Einsichten aufzunehmen, ohne sich

seinen Grenzen zu unterwerfen. Der Mensch hat nicht nur einen
Leib, vielmehr i s t er Leib. Die Dimension des Personal-Geschichtlichen
schließt die gegenständliche Welt nicht nur „wie ein Hindernis
aus", sondern schließt sie auch „überschreitend ein" (232).
Neben die Sachlichkeit tritt die Brüderlichkeit, sofern der Mensch
und seine Nächsten doch auch Welt sind, neben die Sachgesetzlichkeit
der Dingwelt tritt ihre „personale Einholbarkeit in Glaube
und Liebe" (241). Das christliche Weltverhältnis „ist also alles
andere als einfach", jedenfalls vielschichtiger, als bei G. herauskommt
. Das macht B. in aller Kürze überzeugend klar.

Uelzen Friedrich Duensinif

Dantine, Wilhelm, u. Kurt Lüthi [Hrsg.]: Theologie zwischen Gestern
und Morgen. Interpretationen und Anfragen zum Werk Karl
Barths. München: Kaiser 1968. 336 S. gr. 8°. DM 24,80.

Im Jahr des Erscheinens dieses Buches ist Karl Barth gestorben.
Ungewollt wird es damit zur Überprüfung eines endgültig abgeschlossenen
Werkes, zur dezidierten Frage: wie kann, wie soll
Theologie nach ihrem venerabilis ineeptor sich verstehen im
letzten Drittel des 20. Jhd.s? Das Bemerkenswerte dieses Buches
ist, daß es der Titel „Theologie zwischen gestern und morgen"
nicht nur werbewirksam schmückt. Das „Zwischen" ist von seinen
Autoren ernsthaft bedacht. Dies macht das Buch repräsentativ für
die Nötigung jetziger Theologie, eine Situation zu erkennen, in
der weder die vorhandenen theoretischen (und praktischen) Lösungen
ihrer Probleme weiter za tragen vermögen noch schon gewiß
sein kann, wie angesichts der aufgerissenen Fragen Konzepte von
hinreichender theoretischer Tragkraft für das Handeln der Kirche
auszusehen haben. Daher werden hier mehr kritische Fragen als
konkrete Antworten angedeutet, wird der Horizont neuer Lösungsmöglichkeiten
mehr aufgerissen als ausgefüllt. Dies gibt dem
Buch eben wegen seines signifikanten einen vorübergehenden
Charakter. Abgeschlossenes wird infragegestellt. Abschließendes
nicht vorgetäuscht.

Am eindruckvollsten tritt dies hervor bei J. M. de Jong: Ist
Barth überholt?, bei W.-D. Marsch: „Gerechtigkeit im Tal des
Todes". Christlicher Glaube und politische Vernunft im Denken
Karl Barths, und bei dem Mitherausgeber K. Lüthi: Theologie
als Gespräch. Das doppelte Dilemma der Theologie Karl Barths
angesichts der Wandlung der Theologien und der modernen Welt;
aber eben auch in den übrigen Arbeiten (unter denen drei amerikanische
sind): J. M. Robinson: Die ersten heterodoxen Barthianer. -
W. Joest: Barth, Bultmann und die „existentiale Interpretation" -
F.-W. Marquardt: Religionskritik und Entmythologisierung. Über
einen Beitrag Karl Barths zur Entmythologisierungsfrage. -
R. Bohren: Zur Definition der Predigt. - G. Bauer: Karl Barths
Vorstellungen von der Ordnung der Gemeinde und die kirchlichen
Ordnungen der EKiD. - Chr. Bäumler: Der Mensch in der Gesellschaft
. Zum Verhältnis der theologischen Anthropologie Karl Barths
zur Soziologie. - S. Laeuchli: Das „Vierte Jahrhundert" in Karl
Barths Prolegomena. - P. Hessert: Barthianische Wurzeln der
„Radical Theology". - H.-G. Geyer: Metaphysik als kritische Aufgabe
der Theologie. - W. Dantine: Der Welt-Bezug des Glaubens.
Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Gesetz im
Denken Karl Barths. - Nicht alle Aufsätze können hier einzeln
gewürdigt werden; statt dessen soll Verbindendes, sollen durchgängige
Gesichtspunkte aufgezeigt werden.

Gemeinsam ist den Autoren die Ablehnung des schon von
P. Schempp bekämpften, Sprache und Gedanken des Meisters allzu
ehrfürchtig behandelnden „Barthianismus" (7,17, 37), die„De-fakto-
Kanonisierung" Barths (Robinson 13). Das macht die Autoren frei,
einerseits die im Blick auf die Welt des 20. Jhd.s fruchtbaren und
befreienden Tendenzen der Theologie Barths zu sehen, andererseits
den verschließenden Charakter dieser Theologie ihr gegenüber
abzulehnen - damit aber Barth zu rezipieren, indem sie ihn
bis an die Grenze der Aufhebung kritisieren oder interpretieren.
De Jong: „Wir können uns weder die souveräne Gleichgültigkeit
leisten, mit der Barth die historische Skepsis, den naturwissenschaftlichen
Positivismus und die radikale Säkularisierung akzeptierte
, noch die apodiktische Entschiedenheit (vgl. 58: „diese seltsame
Verbindung von kritischem Sinn und autoritärem Pathos"),
mit der er sich diese Mächte vom Leibe zu halten trachtete, wenn es
darum ging, die Autorität der Bibel, die Wahrheit eines Glaubens-