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Ausgabe:

1970

Spalte:

506-507

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Räisänen, Heikki

Titel/Untertitel:

Die Mutter Jesu im neuen Testament 1970

Rezensent:

Weiß, Hans-Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 7

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Gefangenschaft des Paulus nicht mehr vorausgesetzt. Nun, W. G.
Kümmels Einwand, daß letzteres sich erst nach Auslösung des
Textes 3,2-4,3 aus dem Zusammenhang behaupten läßt (Einleitung
in das NT, 1965, S. 241), ist keineswegs widerlegt. Und bei aller
veränderten Tonlage bleibt doch die säuberliche Trennung einer
häresiefreien von einer häretischen Situation eine problematische
Sache. Auch die exakte Bestimmung der Irrlehre selbst macht
weiterhin Schwierigkeiten. G sieht sie in Verwandtschaft zu der d.s
2 Kor (die er ihrerseits wieder von der des 1 Kor trennen möchte)
und will sie nicht „gnostisch" nennen, weil ihre »Konzentration auf
den irdischen Jesus das Gegenteil einer gnostisierenden Geist-
Christus-Predigt darstellt" (217): nämlich eine Verkündigung Jesu
als Geuog dvfjp und nicht als doketischer Christus (216.218). Nun,
ob .Gnosis" oder QeZog avfjp: „Chiffren" sind beides. Letztlich
wichtig ist die christologische und soteriologische Differenz zu
Paulus; und die scheint mir von G klar gesehen. - Interessant ist
schließlich eine ganz am Ende des Buches gegebene Klassifizierung
des Briefes B: Wegen seiner weitgehenden Akkomodation an die
Sprache der hellenistischen Umwelt und seiner Betonung der
„Kanonizität" des Apostels in Leben und Lehre erscheine er «wie
ein Übergang von den Proto- zu den Deuteropaulinen" (223).

Aufs Ganze gesehen ist es G in respektabler Weise gelungen,
eine Kommentarlücke möglichst komplett zu schließen: in der
forschungsgeschichtlichen Aufarbeitung der Probleme, in der
historischen Rekonstruktion der Briefsituation, in der Aufhellung
des religionsgeschichtlichen Hintergrundes und in der historisch-
kritischen Exegese des Textes. Doch ist ihm das nicht in allen
Partien gleich gut gelungen. Während die Aufarbeitung des bisherigen
Forschungsstandes vorzüglich ist und die Begriffsexegesen
durchweg philologisch-exakt durchgeführt werden, fällt die theologische
Interpretation des Ganzen als eines Dokumentes der pauli-
nischen Theologie nicht so überzeugend aus. Zugegebenermaßen
wird diese durch die zahlreichen allgemein gehaltenen Ausführungen
des Phil erschwert. Aber G stellt selbst fest, daß auch in
der »Mitteilung" die Sprache des Paulus »immer wieder zur Verkündigung
, zum seelsorgerlichen Wort" wird (156). Und die
wenigen ausgesprochen kerygmatischen Texte sind dafür um so
theologisch dichter (z. B. 1,19-24; 2, 5-11; 3,4-11.17-21; 4, 4-7).
Beides bietet genug Chancen zu einer tiefer ansetzenden herme-
neutischen Fragestellung (z. B. zum Problem des Todes in 1,19-24;
zum Begriff des »Evangeliums" in 1,5. 27; 2,16; zur Rechtfertigung
in 3, 9; zur Eschatologie in 3,20 f.), die nicht immer genutzt
werden. So ist beispielsweise das Problem einer möglichen Entwicklung
der paulinischen Eschatologie (81 ff.) vielleicht entschärft
durch den Hinweis, daß die Apokalyptik sowohl eine Jenseitshoffnung
wie auch eine Totenauferstehung am Jüngsten Tage als
Vorstellung nebeneinander kennt (88-93); theologisch interpretiert
ist es damit noch keineswegs. Überhaupt meldet sich in diesem
Zusammenhang eine prinzipielle Unklarheit in der religionsgc-
schichtlichen Fragestellung. Neben dem Exkurs zu £üv Xp.orijj
eTvoct ist dafür besonders das S. 222 Gesagte aufschlußreich; „Es
ist klar, daß in einem ntl. Kontext ein moralphilosophisches Formular
einen anderen, erhobenen Sinn gewinnt" (es ist von dem
Tugendkatalog in 4, 8 f. die Rede). Das ist keineswegs klar! Denn
erstens steht das .moralphilosophische Formular" nicht in einem
,ntl. Kontext", sondern doch zunächst einmal nur im Phil, den G
selbst zu den .Gclcgenheitsschriftcn" des Paulus zahlt (15). Und
zweitens ist es keine exegetische Feststellung, sondern petitio
prineipii, wenn man davon ausgeht, daß jedes nichtbiblische Formular
ex opere interpolato einen „erhobenen Sinn" erhält. Apologetik
, die G in solchen Fällen gerne treibt, ist ganz fehl am Platze.
Denn es geht doch bei solchen Übernahmen um das hermeneutische
Problem, ob und wie die Christusverkündigung dadurch in eine
für die Adressaten verstehbarc Sprache gefaßt werden kann - ein
Problem, das G andererseits keineswegs verkennt („muß doch die
Verkündigung jedes brauchbare Mittel aufgreifen, um sich verständlich
zu machen", ebd.). Hätte man sich hier also klarere
Problemstellungen gewünscht, so wird man es andererseits begrüßen
, daß G fragwürdigen Konstruktionen und dem Text nicht
entsprechenden Interpretationen gänzlich abhold ist. In einer
Hinsicht hat das nur positive Konsequenzen: dogmatische Speku
lationen werden nicht nur nicht angestellt, sondern sie werden
als unsachgemäß zurückgewiesen (z. B. die sich an 2,6-11 anknüpfende
Naturenlehre Christi, 114 f.). Dem dafür aufgestellten

methodischen Grundsatz wird man vorbehaltlos zustimmen: „Wir
müssen den Brief so aufzunehmen versuchen, wie ihn die Situation
des Paulus aufzunehmen gebietet, nicht wie ihn spätere christliche
Generationen gelesen haben mögen" (58, Anm. 23). Getreu dieser
sachlichen Grundeinstellung hat G einen Kommentar von großer
Solidität und Gelehrsamkeit geschrieben. Das gilt trotz der
erhobenen kritischen Einwände. Daß das Buch darüberhinaus beweist
, daß konfessionell bedingte Methodenunterschiede in der
exegetischen Wissenschaft keinen Raum mehr haben, ist zuletzt
nicht sein geringstes Verdienst.

An Druckfehlern sind mir aufgefallen: S. 51, Anm. 5 liesä y a 9 o ü
statt a Y & * o v. S. 101, 12. Zeile v. o. lies a k o 0 e t e statt
« k o ü e t e. 8, 146 muß es in Anm. 75 dnopea-cov statt
dupooTepov heißen. S. 153, Anm. 47 lic» h e v ö v statt
w e v o v. S. 1!)3, 10. Zeile v. u. lies neno»9evoi> statt
i e i o 9 e Vi t. S. 198, 16. Zeile v. o. muß es heißen: „Dieses
beglückende Lebenserfahriiis" statt „Diese beglückende . . . ".
S. 200, 2. Zeile v. o. ließ ßpoßelov statt ßpaße tov.

Bochum Erich Grüßer

Räisänen, Heikki: Die Mutter Jesu im Neuen Testament. Helsinki;
Suomalainen Tiedeakatemia 1969. 217 S. gr. 8° = Suomalaisen
Tiedeakatemian Toimituksia. Annales Academiae Scientiarum
Fennicae. Sarja-Ser. B Nide-Tom 158. Fmk. 28,-.

Ausgangspunkt der vorliegenden, von A. T. Nikolainen angeregten
Untersuchung ist die Aktualität der „Frage nach der Stellung
Marias" in der römisch-katholischen Kirche im allgemeinen und
das Empfinden des Ungenügens gegenüber der mariologischen
Literatur im Bereich der Exegese im besonderen (S. 9). Der Vf.
beginnt mit einem kritischen Überblick über die gegenwärtige
exegetische Forschungslage und fixiert in diesem Zusammenhang
zugleich seine eigene Aufgabe (S. 9-16): Mit Recht wird dabei
Kritik geübt an einer Methode der Aneinanderreihung an sich
disparater biblischer Daten zum Zwecke der Rekonstruktion
einer »Biographie" der Maria (S. 9 f.); kritisch äußert sich der Vf.
aber auch zu einer rein historischen Fragestellung, wie sie insbesondere
für die protestantische Literatur zum Gegenstand
charakteristisch ist (S. 10 f.). Das Recht solcher Fragestellung wird
zwar nicht grundsätzlich bestritten (S. 11: die »historische Fragestellung
" sei »unaufgebbar"!), der Vf. will in seiner eigenen Untersuchung
jedoch darüber hinausführen: seine Fragestellung ist
»ausschließlich theologisch" (S. 15 f.); dies bedeutet im einzelnen:
Aufgabe der exegetischen Forschung sei es, „das Marienbild der
neutestamentlichen Verfasser" bzw. »die Gestalt der ,kerygma-
tische Maria" zu untersuchen (S. 11); und gefragt wird, »welche
Stellung und Funktion die von Maria handelnden Stellen im Neuen
Testament haben" (ebd.), auf welche Weise dann zugleich die entsprechenden
Stellen in den Gesamtzusammenhang der einzelnen
Schriften eingeordnet werden - gleichsam als „Stilmittel der
Theologie" der einzelnen Autoren (vgl. S. 15 f.). Es ist von vornherein
deutlich, daß der Vf. auf solche Weise in der Tat einen
entscheidenden Gesichtspunkt für das methodische Vorgehen in
seiner Untersuchung gewonnen hat, darüber hinaus zugleich auch
Kriterien gegenüber einer einseitig „christologischen" (vgl. S. 13:
gegen W. Delius) und einer einseitig „typologischen" Deutung der
Gestalt der Maria im Neuen Testament (vgl. S. 14f.; gegen
H. Sahlin). Was die Durchführung dieses „methodischen Ansatzes"
betrifft, so versteht es der Vf., im wesentlichen durchaus überzeugend
zu machen, daß die „Mariologie" des Neuen Testaments vor
allem durch zwei Aspekte bestimmt ist: durch einen „christologischen
" und einen „paradigmatischen Aspekt" (S. 196).

Im einzelnen bespricht der Vf. in chronologischer Reihenfolge
die in Betracht kommenden Texte bei Paulus, Markus, Matthäus,
Lukas und Johannes, im Anschluß daran ganz kurz das Problem
einer symbolischen Deutung von Apk 12, 1 (mit negativem Ergebnis
) sowie in einem Exkurs die Stellung der „Maria in den Briefen
des Ignatius". - Bleibt das Ergebnis der exegetischen Untersuchung
bei Paulus (S. 17-25, bes. zu Gal 4,4 f.) im wesentlichen
negativ, so erweist sich dann die Fruchtbarkeit der Fragestellung
des Vf.s besonders in den den synoptischen Evangelien gewidmeten
Kapiteln: Dies gilt bereits in bezug auf das Markus-Evangelium
(S. 26-51): Die eingehende exegetische Untersuchung