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Ausgabe:

1970

Spalte:

456-457

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lerle, Ernst

Titel/Untertitel:

Homiletik des Gesprächs in der Bibelstunde 1970

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 6

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Wiederholung bestimmter Kernsätze, z. T. Zitate zum Ende (z. B.
»Mut zum Glauben" 171.175), ebenso die erinnernde Iteration der
Gliedsätze (181. 200). Aber solche Einprägungshilfe wird nirgends
zur Schablone. Auch in der Formung und Konturierung des jeweiligen
Ganzen bekundet Wagner eine Elastizität, die vielen
Gemeindepredigten als Anstoß zu Selbstprüfung und Einübung in
der Freiheit dienen kann.

3. Nicht jedermanns Gabe, desto reiner erfreuend ist die An-
schauungs- und Bildkraft, die den Predigten zustatten kommt. In
ihr verrät sich ein nicht geringes künstlerisches Vermögen, dem
wieder lebendiger Umgang mit Dichtung und Literatur zur Seite
steht, in den Predigten durch häufige Anziehung von Autoren aller
Art freigebig, zugleich diszipliniert in Dienst gestellt. — Die Berufe
des Künstlers und des Predigers sind toto coelo verschieden. Aber
das Charisma der Kunst kann ein gutes Werkzeug im Vollzug des
Predigtdienstes werden. Ohne Leser und Mitprediger im geringsten
zu der verlorenen Liebesmühe eines Kopierens von Wagners
Predigtweise verleiten zu wollen, möchte man sogar das Urteil
wagen, daß ein Mindestmaß künstlerischen, jedenfalls kunsthandwerklichen
Vermögens zur unentbehrlichen Ausstattung eines Predigers
gehört. Am lebendig aufgefaßten Eindruck, am geübten
Herzensgedächtnis für ein gutes Väterwort wie für persönliche
Begegnung mit Exempeln menschlicher, christlicher — und auch
glaubensferner Existenz kommt das andere Wort, dem unser Wort
zu Dienst steht, zu seiner eigenen Sprache.

Die gut evangelische Theologie in und hinter Wagners Predigten
erweist sich in ihrer Immunität gegenüber den Verlockungen
apologetischen Überredens und moralisierender Reduktion der
guten Botschaft. Manchem Leser und Mitprediger der jüngeren
Generation mag diese Theologie wohl allzu konservativ erscheinen.
Anderwärts mag auch (oder gerade) die Rundfunkpredigt sich
stärker verpflichtet glauben, den Hörern zu evangelischer Freiheit
des Schriftverständnisses mitsamt ihren kritischen Implikationen
zu helfen. Auch die evangelische Selbstkritik des überlieferten
Kirchentums kommt andernorts schärfer, angriffiger zu Wort. Aufmerksame
Hörer und Leser aber werden auch in Wagners Predigt
diese christliche Selbstkritik, die notwendige Kehrseite der geistlichen
Einfalt, in der hier gepredigt wird, nicht vermissen. Etwa
sich meldende Kritiker von Wagners Predigt sollten sich durch sie
ihrerseits an den bleibenden Primat der Einfalt und „Freydigkeit"
in allem Dienst am Wort erinnern lassen. Evangelische Freiheit und
Pflicht zur Kritik hat ihren Platz innerhalb dieser Sphäre von
Einfalt und „Freydigkeit". Die Fruchtbarkeit aller theologischen
und kirchensoziologischen Reflexion hängt daran, daß sie diesen
Platz innehält. Auch darin scheint uns diese Predigtsammlung ein
hilfreicher Beitrag zur Selbstbesinnung christlicher Predigt heute.

Göttingen Martin Doerne

Miskotte, Kornelis Heiko: Predigten aus vier Jahrzehnten. Ausgewählt
, übersetzt und hrsg. von Hinrich Stoevesandt. München:
Kaiser (1969). 238 S. gr. 8°. Lw. DM 19.80.

Zum 75. Geburtstag des holländischen Theologen, der in
Deutschland vor allem durch sein Werk „Wenn die Götter schweigen
" bekannt wurde, besorgte H. Stoevesandt eine Auswahl und
Übersetzung von Predigten aus den Jahren 1927—1968. Schon am
Umfang dieser Predigten wird deutlich, daß die gegenwärtig üblichen
Normen homiletischer Praxis dem Autor nicht als verbindlich
gelten: bei 25 und mehr, nie jedoch weniger als elf Druckseiten
betrug die Vortragsdauer selten weniger als eine Stunde,
meist jedoch erheblich mehr. Daß die Predigten trotzdem einen
großen Hörerkreis ansprachen und auch den Leser zu fesseln vermögen
, hat wohl — wenn wir von den situationsbestimmten Faktoren
, die für den Leser ausscheiden, absehen — vor allem drei
Gründe:

1. Miskotte bemüht sich, auf die Fragen der Hörer einzugehen,
die „Solidarität im geistlichen Leiden an der Zeit" zu üben (S. 237),
ohne das Unassimilierbare des Evangeliums zu vertuschen und
„das eigene Bewegtsein von den Fragen der Zeit ernster zu nehmen
als den Auftrag, ein jeweils bestimmtes Vorgesprochenes, das
anderswo wurzelt als in den Fragen der Menschen, nachzusprechen"
(ebd.). Methodisch führt diese Aufnahme der Lebensfragen zur
Themapredigt. Als Texte sind meist kurze Verse gewählt, die aber
ausgelegt und nicht nur als Motto gebraucht werden. Das Thema

„Evangelium und Religion", das den Autor auch in seinen wissenschaftlichen
Publikationen stark beschäftigte, bestimmt drei der
insgesamt zehn Predigten (S. 7 ff., 23 ff., 122 ff.). Der Sonntag
(S. 50 ff.), der Sinn des Lebens (S. 147 ff.), die Sprache der Hände
(S. 38 ff., eine besonders eindrückliche, originelle Predigt!) bilden
weitere Themen.

2. Miskotte ist ein Meister der Sprache. Als Beispiel lese man
die Predigt über „Unsere Hände" oder die am 9. Mai 1945 zur
Feier der Befreiung Hollands vom Faschismus gehaltene Predigt
„Gottes Feinde kommen um" (S. 69—95), die dank ihrer rhetorischen
Kraft trotz ungewöhnlicher Länge noch den Leser in Spannung
hält. Die poetische Begabung des Autors führt freilich mitunter
auch zu Geistesakrobatik, selbst in den „gewöhnlichen" Gemeindepredigten
, z. B. S. 30: „ S e 1 b - s t ä n d i g - k e i t, dieser Himmel
auf Erden, diese Ewigkeit in der Seele, dieser Zu-stand, in dem das
Selbst auf dem Selbst steht, zum Gott erstarrt, und wiederum in
sich selbst herumrasend, um dem eigenen Gott-Sein zu entkommen.
O, wir halten es aus! Warum sollten wir es nicht endlos aushalten?"
Auch unnötige Fremdwörter wie Christus praesens, desavouieren
u. dgl. finden sich des öfteren. Die Wirklichkeit wird das „ewig
defizitäre Wesen" genannt, und die Hörer müssen wissen, was
Karma und Nirwana bedeutet. Selbst wenn man berücksichtigt, daß
einige der Predigten in besonderen Gottesdiensten für der Kirche
Entfremdete in einem Intellektuellenviertel von Amsterdam gehalten
wurden, erscheinen solche akademische Eierschalen nicht als
sinnvoll. Positiv ist es aber zu beurteilen, daß der Prediger lieber
eine Über- als eine Unterforderung der Gemeinde riskiert. Als
Hilfe für den Hörer wünschte man sich in den meisten Predigten
eine durchsichtigere Disposition.

3. Das bewußt hochgesteckte Anspruchsniveau führt nicht zu
intellektualistischer Gefühlsverkümmerungen, weil auch die Emotionen
angesprochen werden. Herausgelöste Zitate könnten sentimental
oder gar kitschig wirken, im Kontext der Predigten sind
sie gegen diesen Vorwurf geschützt. Es sei hingewiesen auf die
Predigten über den Sonntag und über „Das unbeschreibliche Geschehen
" (S. 96 ff.). Die Wirksamkeit der Predigten Miskottes
dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, daß sie die verbreitete emotionale
Insuffizienz moderner Predigten nicht teilen.

Im theologischen Gehalt läßt Miskottes Verkündigung deutliche
Nähe zu Karl Barth erkennen. Die Einzigartigkeit des Evangeliums
im Gegensatz zur Religion ist ein theologisches Hauptanliegen
, das sich in den Predigten häufig niederschlägt. Auch wer,
wie der Rez., ein anderes Verständnis von Religion vertritt, zieht
aus den tiefschürfenden, oft dialektisch formulierten Überlegungen
Gewinn.

Als homiletische Modelle sind die Predigten weder gedacht
noch geeignet. Miskottes Biograph bemerkte über dessen Predigtweise
, „daß in Holland selten oder nie so gepredigt worden ist"
(S. 227). Zu einer holländischen Sammlung seiner Predigten schrieb
Miskotte, sie möchte dazu beitragen, „hier und da eine Mauer
niederzulegen, die aus Wahnvorstellungen erbaut ist, an die ich nie
habe glauben wollen: die Mauer zwischen einfachen und gebildeten
Menschen, zwischen philologischer und theologischer Auslegung
, zwischen antiken und modernen Bedürfnissen', zwischen
Wahrheit und Praxis, zwischen Glaube und Tat — und im besonderen
die Mauer zwischen Kirchlichen, die nicht mehr, und Unkirchlichen
, die noch nicht glauben können" (S. 228 f.). Die vorliegenden
Predigten lassen nicht nur das Bemühen spüren, diese
falschen Gegensätzen zu überwinden, sondern zeigen auch die Zuneigung
des Predigers zu den letztgenannten Gruppen. Der Herausgeber
berichtet in seinem Nachwort, daß Miskotte „große (n)
Scharen von Hörern ihre eigene Predigtmüdigkeit vergessen
machte" (S. 225). Seine Hoffnung, „daß auch anderen über dem
Lesen dieser Predigten eben dies widerfährt", ist begründet. Der
geistige Reichtum und die geistliche Tiefe dieser Predigten wird
ihnen auf dankbare Hörer hörende Leser folgen lassen.

Halle/Saale Eberhard Winkler

Lerle, Ernst: Homiletik des Gesprächs in der Bibelstunde. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt [1969]. 47 S. 8°. Kart. M 2.-.

In verschiedenen Arbeiten zur empirischen Homiletik hat
Lerle auf die Bedeutung des Kommunikationsgeschehens für die
Verkündigung hingewiesen. Während in der bei uns üblichen Pre-