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Ausgabe:

1970

Spalte:

451-453

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Luthers Theologie 1970

Rezensent:

Mau, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 6

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ren. Was ließe sich da zeigen an bloß traditioneller Bindung, geselligem
Unterhaltungsbedürfnis, unbefriedigter Selbstbetätigung im
täglichen Leben und was dergleichen Kategorien mehr sind"
(S. 11 f.).

Man könnte es sich sehr leicht machen und das Buch unter Hinweis
auf einen fast erstaunlichen Fehlgriff in der Argumentation
sofort ablehnen, nämlich im Blick auf das Argument, daß „bis auf
einen kleinen Prozentsatz ... bei uns nahezu alle Menschen getaufte
Glieder einer christlichen Kirche" seien und daß trotz aller
gesellschaftlichen und geistigen Umwälzungen noch praktisch von
allen die kirchlichen Amtshandlungen begehrt würden (S. 10), eine
Tatsache, für die „eine sinnvolle Erklärung" haben müsse, wer die
heutige Gesellschaft als entchristlicht und säkularisiert hinstelle.
Da Rendtorffs Buch zu grundsätzlich ist, als daß es auf die (gegenwärtigen
) Verhältnisse in der deutschen Bundesrepublik beschränkt
werden könnte, müssen ihm die Ergebnisse der Volks- und Berufszählung
1964 in der DDR (32% nicht konfessionsgebunden; vergleichsweise
1946 6 % und 1950 8 %) doch zu denken geben. Noch
mehr täte es der heutige Stand der kirchlichen Praxis in der DDR.

Aber Rendtorff kann diesen Einwand umkehren und für sich
verwenden. Sind damit nicht immer noch ungleich mehr „konfessionsgebunden
", als man feste Glieder einer Kirchengemeinde
zählt? Was hält s i e denn noch? Und bezeichnet das nicht umso
mehr die Wichtigkeit und Dringlichkeit, kirchlicherseits ein
Christentum ausstrahlen zu lassen, bei dessen Aussagen „sich der
Mensch auch etwas denken" und folglich wirklich „selbst dabei
sein kann" (S. 14), Aussagen, die „das Christliche im Menschlichen
... suchen" (S. 63). Das besagt (in Stichworten von Überschriften):
„Glauben in Freiheit", „Lob der Aufklärung", „vernünftige Gründe
für den Glauben" (die nicht den Glauben einem fremden Gesetz
unterwerfen wollen, sondern ihn zu meiner Sache machen werden
, mir den Zugang zu ihm bahnen).

Auf Einzelheiten des Büchleins, dessen Grundtendenz wir freudig
bejahen, kann jetzt nicht näher eingegangen werden. Nur noch
zwei kritische Bemerkungen. Gewisse Vergröberungen und Pauschalurteile
werden manchem bequeme Handhaben zur beschwichtigenden
Zurückweisung geben. In der Tat kann man nach Tillich
und Bonhoeffer nicht mehr so undifferenziert sagen, daß „in der
Gegenwart von Theologen über die Aufklärung . . . meist in dem
Tone, in dem man von einer Krankheit spricht" (S. 59), geredet
werde (das stimmt nicht einmal für den späteren Barth; s. dessen
eindrucksvolle Besprechung des weltanschaulichen Optimismus der
Aufklärung in KD III/l, S. 446 ff.; und vielleicht darf ich auch auf
das Vorwort zum ersten Band meiner eigenen Dogmatik hinweisen
). — Und was das „undogmatische Christentum", das Rendtorff
fordert (S. 77 ff.), anbetrifft, so sind die Formulierungen, die er
andeutungsweise als konstruktive Alternativen für Dogmen erwägt
(S. 82 ff.), doch wohl sehr der Frage ausgesetzt, ob ihre Begriffe
und Denkmodelle nicht längst auch schon zu „Stereotypen" und
.Dogmatik', etwa der kirchlichen Akademiearbeit (in der Tat rechte
Stützpunkte für das Christentum außerhalb der Kirche), geworden
sind, was aber nur die Schwierigkeit einer legitimen Aufgabe
bezeichnet. Trotz aller Einwände betrachten wir Rendtorffs geistige
Initiative und seinen Sturm auf so viele theologische Vorurteile
und Gedankenlosigkeiten, Redegewohnheiten und Doktrinen weithin
noch herrschender Theologie (wie den Alles-oder-nichts-Stand-
punkt) als nötig, glücklich und befreiend.

Berlin Hans-Georg Fritzsche

Hermann, Rudolf: Luthers Theologie, hrsg. von Horst Beintker.
Berlin: Evangelische Verlagsanstalt u. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht {1967]. 252 S., 1 Porträt, 2 Faks. gr 8° = Gesammelte
u. nachgelassene Werke, hrsg. v. H. Beintker, J. Haar, G. Krause
u. E. Schott, I. Lw. M 16.80.

Der vorliegende Band eröffnet eine Reihe von Publikationen,
durch die der literarische Nachlaß Rudolf Hermanns erschlossen
bzw. verstreut Erschienenes wieder zugänglich gemacht werden
soll. Nicht nur der Lutherforscher, als der H. bekannt und
neuerdings auch in der katholischen Lutherforschung stark beachtet
ist, sondern auch der Systematiker soll in den noch zu erwartenden
Bänden zu Worte kommen. H.s Lutherforschung und
sein Wirken als Lehrer der systematischen Theologie bildeten stets

eine innere Einheit. Wie schon sein erster großer Beitrag zur
neueren Lutherforschung, sein Buch „Luthers These ,Gerecht und
Sünder zugleich'" (1930; 2. Aufl. 1960), als „systematische Studie"
(Vorwort) verstanden sein wollte, so war andererseits das, was
H. als Systematiker vertrat, sachlich entscheidend bestimmt durch
die immer wieder vollzogene Hinwendung zu den Zentralthemen
reformatorischer Theologie. Gerade im sorgfältigen, auch die
historischen Bezüge vorbildlich beachtenden Erwägen reformatorischer
Texte im Blick auf die Wahrheitsfrage der systematischen
Theologie gelangte H. zu der sein Denken auszeichnenden inneren
Bewegtheit, Weite und Tiefe.

Nach den schon vorliegenden beiden Lutherbänden — neben
dem schon erwähnten erschienen 1960 „Gesammelte Studien zur
Theologie Luthers und der Reformation" — ist in dem nunmehr
veröffentlichten Band H.s Gesamtdarstellung der Theologie Luthers
zugänglich geworden. Es handelt sich um die von H. während
seiner mehr als 40jährigen Lehrtätigkeit regelmäßig wiederholte
und immer wieder überarbeitete, auch noch während seines letzten
akademischen Semesters — kurz vor seinem Tode 1962 — gehaltene
Vorlesung, durch die er in einzigartiger Weise auf Generationen
von Hörern gewirkt hat. Hans Joachim Iwands Zeugnis steht hier
für viele andere: „Ihm verdanke ich wie mancher andere . . ., daß
wir diesen Eingang in Luthers Theologie fanden, daß wir hier
selbst zu Theologen geworden sind" (5). — Wenn H. selber sich
trotz wiederholten Drängens nicht zu einer Drucklegung hatte entschließen
können, so waren dafür offenbar mehr äußere Gründe
als Bedenken grundsätzlicher Art bestimmend. Wir werden es nicht
nur zu beklagen haben, nunmehr auf die Kollegfassung von „Luthers
Theologie" angewiesen zu sein. Gerade in ihr spricht H. ganz
unmittelbar als Lehrer. Die Diktion der für den mündlichen Lehrvortrag
bestimmten Sätze ist zum großen Teil einfacher als in
den gedruckten Studien; die theologische Intention kommt z. T.
noch unmittelbarer zum Ausdruck. Dies und die Tatsache, daß der
wesentliche Ertrag der lebenslangen Lutherforschung H.s in dieses
Kolleg eingebracht ist, zeichnet den Band in einem besonderen
Sinne als „Lehrbuch" aus.

H.s Vorlesung über Luthers Theologie umfaßt in ihrer letzten
, der Ausgabe zugrunde liegenden Gestalt zwölf Kapitel. In den
z. T. kürzeren, einleitenden Kapiteln werden zunächst Fragen des
inneren Zugangs zur Theologie Luthers (15—25) und technische
Voraussetzungen für das Lutherstudium besprochen (26—31); biographische
Notizen (bis 1520) schließen sich an (32—36). In einem
längeren Kapitel erörtert H. sodann Probleme der theologischen
Entwicklung Luthers (37—66). Seine wesentlich mit H. Bornkamm
übereinstimmende Auffassung von der Art und Zeit der reformatorischen
Erkenntnis Luthers trägt H. in der Sache deutlich, aber
zugleich doch so zurückhaltend vor, daß seine Absicht, in die
hier bestehenden Probleme einzuführen, nicht beeinträchtigt wird.
Hinsichtlich der Bedeutung von Rom 1,17 für Luthers Entwicklung
bemerkt H.: „Bibelstellen können sich in ihrem Fragengehalt
trotz Zwischenlösungen, die man gefunden zu haben glaubt,
auch trotz mancher anscheinend sicherer Ergebnisse, immer wieder
aufdrängen und rollen sich zum soundsovielten Male auf" (45).
H. sieht, daß die reformatorische Erkenntnis sich „freikämpfen"
mußte (63). In den bekannten Zeugnissen von 1515/16 (insbesondere
der Scholie zu Rom 2,15 und dem Brief an Spenlein vom
8. April 1516) liegt für H. aber „das Wichtigste und Luthers kämpfendes
Festhalten daran" bereits deutlich vor (66).

Im Hauptteil der Vorlesung (67—218) — von H. „Grundzüge
der Theologie Luthers" überschrieben — werden zunächst in vier
Kapiteln zentrale Themen der Theologie Luthers behandelt: Glaube
und Buße (67—90); Luthers Lehre von Fleisch und Geist (91—116);
die Lehre vom Gesetz und der Glaube an Christus den Versöhner
(117—144) und die Lehre vom Willen (einschließlich der Anschauung
Luthers von der Verborgenheit und der Offenbartheit Gottes
und von der Erwählung; 145—168). Vier weitere Kapitel behandeln
speziellere Themen: Die Larven und Masken Gottes (169—178); die
Taufe (nur als Skizze vorliegend; 179—183); Abendmahl (184—198)
und Zwei-Reiche-Lehre (199—218).

Der Gesamtaufbau der Vorlesung zeigt, daß es H. auch hier,
wie in seiner Lutherforschung überhaupt, vor allem um das Bedenken
des Rechtfertigungsglaubens als Grundthema reformatorischer
Theologie geht. Sachgemäßer Ausgangspunkt für das Verständnis
Luthers ist nach H. nicht etwa die theologia crucis mit ihrer Nähe