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Ausgabe:

1970

Spalte:

431-433

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niederwimmer, Kurt

Titel/Untertitel:

Jesus 1970

Rezensent:

Kamlah, Ehrhard

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431

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 6

432

Im übrigen bietet der Kommentar zahlreiche erhellende und
anregende Erläuterungen. Umfänglich wird die Exegese der Väter
der Alten Kirche — am häufigsten begegnen Chrysostomus und
Hieronymus — und des Thomas herangezogen. Ziemlich oft werden
auch Hinweise auf Sätze bei Philon gegeben, die z. T. recht
interessant sind (B. hält es übrigens für möglich, daß Paulus Schriften
Philons kannte [329]; für seine Kenntnis der Qumrantexte bestehen
gute Gründe (452]). Sonstige jüdische Texte begegnen gelegentlich
, außerdem heidnische Autoren, darunter mehrfach
Marc Aurel. Das Alte Testament wird eingehend nutzbar gemacht,
über die unmittelbare Veranlassung durch Paulinische Zitate hinaus
, für die auch nach dem ursprünglichen Sinn zurückgefragt wird.
Vom Alten Testament her wird mehrfach die vermutbare Argumentation
der Judaisten erschlossen, die öfters ziemlich einleuchtend
erscheint. Als kenntnisreich erweist sich der Vf. auch in der Heranziehung
der modernen Literatur; weitere mag in dem vorangegangenen
Band genannt worden sein.

Halle/Saale Gerhard Delling

Barr, James: Biblical Words for Time. 2nd (revised) ed. London:
SCM Press [1969). 221 S. 8° = Studies in Biblical Theology I 33.
28 s.

Die revised edition (zur 1. Aufl. s. ThLZ 88, 1963 Sp. 660 f.)
ist insbesondere um „Postscript and Retrospect (1969)" vermehrt
(170—207). Hier ordnet der Vf. zunächst die 1. Aufl. in die Theologiegeschichte
ein. Das theologische Klima habe sich seit 1962
beträchtlich verändert, nicht nur durch das erhebliche Nachlassen
des Interesses an Wortstudien', sondern vor allem durch den
Niedergang der .Biblischen Theologie'. Darstellungen von «biblical
views" über den Menschen, die Arbeit usw. und so auch über die
Zeit stünden nicht mehr auf der Tagesordnung. Die Polemik gegen
O. Cullmann (Christus und die Zeit) erscheint damit offenbar weit
weniger akut.

In „Postscript . . ." registriert bzw. referiert B. ferner Literatur
zum Thema, die er seinerzeit weniger oder gar nicht beachtete,
sowie inzwischen neu erschienene Veröffentlichungen, die sich
z. T. mit der 1. Aufl. auseinandersetzen, und nimmt mit manchen
Autoren das Gespräch auf. Einige Male wird auf diese Literatur
auch in der Neubearbeitung des Corpus des Buches eingegangen
(aber nur gelegentlich ausführlicher, etwa 119 f.).

Sodann bietet B. einige „Remarks on Translation" (188—194),
die z. T. diesbezügliche Äußerungen der 1. Aufl., vor allem in
Kap. V, ergänzen (wir hatten darauf seinerzeit nicht weiter Bezug
genommen). Ein letzter Abschnitt geht auf die Frage des philosophischen
Hintergrundes der Position B.s ein, insbesondere auf die
ihm zuteil gewordenen Kennzeichnungen als empiristisch bzw. no-
minalistisch. — Zu der charakteristischen These, die wir in ThLZ 88,
1963 eingangs anführten, bemerkt B. nunmehr: er meine nicht, daß
gar keine Beziehung zwischen Sprache und Gedanke bestehe, sondern
daß diese Beziehung logisch Zufall sei (205; die seinerzeit von
uns herangezogenen Sätze sind unverändert geblieben, 166 f.).

Weitere Ergänzungen sowie Änderungen im Text des Corpus
präzisieren Thesen und Argumentationen B.s; eigentliche Wandlungen
des Urteils sind, wie B. selbst urteilt (8.188), damit nicht verbunden
.

Halle/Saale Gerhard Delling

1 Das dürfte durch die Vorbereitung eines Theologischen Wörterbuches zum
Alten Testament nicht gerade bekräftigt werden.

Niederwimmer, Kurt: Jesus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[1968). 96 S. 8°. Kart. DM 6.80.

Niederwimmer hat es sich nach seinem Vorwort zum Ziel gesetzt
, „den vertrauenswürdigen Elementen der ältesten Schicht der
Überlieferung ein(en) im Ganzen einheitliche(n) Sinn" abzugewinnen
, um Jesus von Nazareth zu begreifen. Diese drei Züge
kennzeichnen denn auch sein Büchlein:

1. Mit einigen Korrekturen schließt N. sich in der Auswertung
der Quellen den Urteilen der kritischen Forschung an (vgl. die Zusammenfassung
auf S. 70): Jesus war ein Laie mit „untheologischen
, heterodoxen Anschauungen", der als Exorzist auftrat und

eine eschatologische Bewegung hervorrief. Mit der Freiheit, in der
er sich über die Tora stellte, ohne sie zu bekämpfen, rief er die
Feindschaft der jüdischen Hierarchen hervor, die darin einen Anschlag
auf die Torafrömmigkeit und ihren Gott erkannten. Die
Messiaswürde hat er nicht beansprucht, wie er überhaupt „in einer
merkwürdigen Weise in der bloßen Unmittelbarkeit" blieb. Für
die urchristliche Darstellung von Kreuz und Auferstehung ist entscheidend
, daß darin Jesus einerseits „als der gescheiterte von Gott
verlassene Irrlehrer (ge)brandmarkt" wird, den Gott andererseits
als Gottverlassenen rechtfertigt (S. 77 f.).

2. Der Griff nach dem „im Ganzen einheitlichen Sinn" hindert
N. nach meinem Urteil am tieferen Eindringen in die historische
Situation und die theologischen Zusammenhänge. Ihm geht es allein
um „das Spezifische im Wirken Jesu", genauer die in der religiösen
Umwelt „analogielosen Elemente", denen gegenüber er alles, worin
sich Jesus nicht von seiner Umwelt unterscheidet, als „für das Verständnis
seines Werkes peripher" erklärt und dann auch in seiner
Darstellung übergeht. Dies Analogielose gilt für N. gleichzeitig
als das, was zum Konflikt Jesu mit den religiösen Autoritäten
seiner Zeit führte, und es wird weiter schnellen Schritts mit dem
gleichgesetzt, was die Kirche vom Judentum trennte. Das Besondere
wird also einerseits auf die Entwicklung der frühen Kirche
ausgeweitet und andererseits auf die Ursache des Konfliktes Jesu
eingeschränkt und so in jedem Falle abstrakt gefaßt.

In der Darstellung gibt N. zunächst einen knappen Überblick
über die Lebensdaten Jesu (S. 27—31) und über die Wundererzählungen
(S. 32—34); dann versucht er den Sinn des Mythos vom
Kommen der Gottesherrschaft aufzuschließen (S. 32—52). Unter
der Überschrift „Jesus und der Tora-Gott" gibt er dann das für ihn
Wesentliche (S. 53—70). Es liegt dies in Jesu „Einstellung zu den
sittlichen und rituellen Geboten der Tora" (S. 54), die er als
Brechung eines Tabus (S. 55) oder als „Exodus aus dem Tora-
Gewahrsam" (S. 62) und gern als Freiheit kennzeichnet (etwa S. 57.
70.). Inhaltlich beschreibt er das einerseits als Rigorismus, dessen
Entfaltung als enthusiastische Unbedingtheit lesenswert ist (S. 59—
62), andererseits als „scheinbaren Laxismus", der sich in Jesu
Sünderfreundschaft zeigt. Beides sieht er vereint in einem „Standpunkt
, der . . . weniger vom Prinzip der Verdrängung geprägt ist
als die Torafrömmigkeit" (S. 65).

3. N.s Ziel ist es, „Jesus zu begreifen". Dazu bedient er sich
einer von C. G. Jung beeinflußten Psychologie. Denn „Jesus wird
verstanden in dem Maße, als wir uns selber verstehen" (S. 21);
und auch „zum Mythos" erhoffte er so, einen „Zugang" zu bahnen
(S. 42 ff.). Beide Male befindet er sich in bewußtem Widerspruch
zum Programm R. Bultmanns (vgl. seine Definition auf S. 89,
Anm. 7: „Damit ist natürlich nicht das .Selbstverständnis' im Sinne
der existentialen Interpretation gemeint, sondern das Sich-selbst-
Durchschauen in einzelwissenschaftlichen wie im philosophischen
Sinn", und den Vorwurf auf S. 48, Bultmann gerate in die Gefahr,
den Mythos durch Ideologie zu ersetzen).

Der Kernpunkt ist, daß das Wirken Jesu als ein Vorgang in
der Geschichte des Bewußtseins begriffen wird. Jesus ist nämlich
„für den Christen das Symbol Gottes, als Erlöser das Symbol des
Selbst" (S. 21). Jesu Tod für uns „vermittelt und begreift" er (S. 79)
als das Opfer, das für die „lebensgefährliche Revolution des Bewußtseins
" durch die Differenzierung des Gottesbildes nötig war
(S. 66); denn „das Bewußtsein konnte Jesu Freiheit erst annnehmen
, nachdem es zuvor Jesus verdammt hatte" (S. 79). Mit einem
Wort, „das Schicksal Jesu ist . . . in das Schema des .Aufstandes
gegen eine sinnlos gewordene religiöse Autoritär- einzuordnen"
(S. 84).

Diese psychologische Deutungsweise ist bei N. nun nicht nur
gleichermaßen aufgepfropft, auf sie zielt vielmehr das Büchlein.
Sie zeigt sich auch darin, daß er etwa die Seligpreisung in Lk 6,
20b f. allein als ein Versprechen von Kompensation und Satisfaktion
deutet, worin sie das illusionäre Moment des apokalyptischen
Mythos repräsentieren, zu dem als zweites das archetypische
kommt, demnach die Erwartung der Gottesherrschaft „eine gefährliche
Neueinstellung des kollektiven Bewußtseins (signalisiert)"
(S. 52). Ähnlich sieht er hinter Mt 5, 29 f. „eine abgründige Angst
vor der Begierde des eigenen Leibes" stehen (59). In alledem wird
das Problem einer psychologischen Auslegung unübersehbar bis
zum Greifen: Die Frage nach der gemeinten Sache wird durch sie
unmöglich.