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Ausgabe:

1970

Spalte:

392-394

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. 1970

Rezensent:

Nagel, William

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391

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 5

392

Schriften geben will, sondern durch Zuhören zur Selbstfindung
anregen möchte; die Zielsetzung: „spiritual growth" (S. 136);
die Beschränkung auf die Psychologie, so daß Soziologie und
Medizin stark zurücktreten; die Akzentuierung praktischer
Effektivität der Hilfeleistung; das Verbleiben „im Bereich der
Schöpfungstheologie" (8.139). Der Mangel an theologischer
Grundlegung läßt eine ökumenisch offene Zusammenarbeit zu.
Der Nachteil ist jedoch, daß die theologischen Grundfragen der
Poimenik unter dem Einfluß der Theologien von P. Tillich,
E. Thurneysen und K. Barth erst langsam eindringen und bisher
nur zu illegitimen Synthesen zwischen Theologie und Psychologie
geführt haben. „Die ... Literatur weist ohne Ausnahme
einen ... Mangel an kategorialer Trennschärfe auf. Rein phänomenologische
Erwägungen werden als theologische ausgegeben,
systematische und methodische Fragen unreflektiert vermischt"
(S. 146). Die Identifizierung von Seelsorge und Lebensberatung,
die Klärung vieler Einzelprobleme auf dem psychologischen und
theologischen Sektor bedürfen der genaueren Nachfrage. Dann
entfaltet der Vf. eine eigene Seelsorgedefinition, in der er die
Erkenntnisse der kontinentalen Seelsorgetheologie mit den
praktischen Erkenntnissen der amerikanischen Seelsorgebewegung
zu harmonisieren sucht. Das geschieht vor allem mit
dem derzeitigen Zauberwort „Kommunikation" (S. 146ff.). -
Der Dritte Teil (S. 159-380) referiert amerikanische Seelsorgeliteratur
in Auswahl. Dieser Teil sollte bei der Lektüre auch
darum nicht unterschlagen werden, weil er eine Fülle von Anregungen
zu Lebensberatung und Gesprächsführung bietet, die
in unserer klassischen Seelsorgeliteratur bisher nur am Rande
auftaucht. Es bahnt sich ja erst seit etwa einem Jahrzehnt eine
Änderung an.

In dem wichtigen Buch ist überdurchschnittlich viel Literatur
verwertet und mit großer Kritikfreude verarbeitet worden.
Manchmal hätte man sich Straffungen in der stoffgeladenen
Darstellung gewünscht. Die Fußnoten sind nicht immer leicht
zu lesen. Zum Beispiel wird F.Niebergall auf S.138 nicht ausreichend
zitiert. Das Ergebnis der Arbeit ist nicht nur, daß eine
breite Begegnung mit der amerikanischen Poimenik ermöglicht,
sondern auch das Grundsatzgespräch um die theologischen und
phänomenologischen Kategorien der Seelsorge kräftig angeregt
wird, das heute fällig ist. Die Seelsorgebestimmung des Vf.s
tut das in einer knappen Weise, die weiterführt. Die Absicht,
europäische Theologie und amerikanischen Empirismus in der
Poimenik zu konfrontieren, ist vorzüglich gelungen.

Es wird deutlich, daß die Seelsorge nicht mehr ohne die
empirischen Hilfswissenschaften auskommt, wobei außer der
Psychologie etwa auch die Soziologie und die Medizin stärker
zu beachten wären, als es der Vf. faktisch tut. So bleibt seine
Kommunikationslehre doch mehr im geistigen und psychologischen
Bereich hängen (S. 14). Seiner fragenden Abgrenzung der
Seelsorge von der Diakonik stimmen wir nicht zu (S. 141). Diese
ist ein Teilgebiet der Seelsorge. Sofern es um das gesamte Leben
des Menschen in der Seelsorge geht, übt sie auch diakonische
Fürsorge für das leibliche Leben durch die Tat am leidenden
Menschen aus. Daß im Zeitalter der Wissenschaft tätige Leibfürsorge
nicht rein dilettantisch, sondern nur der jeweiligen
Bildung des Seelsorgers entsprechend ausgeübt werden kann, ist
klar. Dennoch kann man für den Leib des Nächsten nicht nur
nach einer medizinischen Spezialausbildung eintreten, wie Vf.
meint (S. 141). - Ebenso ist bei ihm eine leichte Tendenz zur
Abgrenzung der Seelsorge von der cura generalis in Predigt,
Unterricht, Gemeindeaufbau und Gottesdienst nicht zu verkennen
(S. 151, 153). Seelsorge als cura generalis schließt jedoch
u. E. die Sorge um den Menschen in allen Funktionen gemeindlichen
Dienstes ein. Sie arbeitet seine vielfältige menschliche
Zuwendung heraus. - Endlich ist zu fragen, ob Vf. bei seinem
christologischen Ansatz der Seelsorge die Lehre vom Kreuz
Jesus Christi angemessen berücksichtigt hat. „Die Pneuma-
präsenz des erhöhten Christus", die „Überwindungshilfe"
(S.156) schafft, bedürfte einer entsprechenden Präzision, auf
deren Konsequenzen hier nicht eingegangen werden kann.

Rüdersdorf b. Berlin Friedrich Winter

LITURGIEWISSENSCHAFT

Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. 13. Band 1968. Hrsg. v.
K.Ameln, C.Mahrenholz, K.F.Müller. Kassel: Stauda-Verlag
1969. XVI, 287 S. m. 6 Abb. u. 6 Taf. gr. 8°. Hlw. DM 56,-

Den Schwerpunkt des Liturgik-Teiles stellt diesmal eine
Arbeit dar, die auch für die gegenwärtige kirchliche Praxis von
erheblicher Bedeutung ist: K.F.Müller erörtert „Theologische
und liturgische Aspekte zu den Gottesdiensten in neuer Gestalt"
(S.54-77). Zunächst geht es um die Vorgeschichte und die
Ursachen solch neuer Formen. In der Krisis des Gottesdienstes
und seiner Formen offenbare sich „eine Krisis des Menschen, die
ihre Wurzeln in der Frage nach Gott hat". Von daher werde ein
von einer zweitausendjährigen Geschichte geprägter, bis ins
Einzelne präformierter Gottesdienst heute grundsätzlich in
Frage gestellt; man wolle diesen zwar nicht durchweg abschaffen
, aber reformieren oder andersartige Formen danebenstellen.
Da diese Bestrebungen inzwischen aus dem Stadium der reinen
Improvisation herausgelangt sind und grundsätzliche theologische
Überlegungen die Experimente begleiten, gibt es (auch
nach des Rez. Überzeugung) keine Möglichkeit mehr, diese Entwicklung
rückgängig zu machen. Daß wir sie in ihren einstweiligen
Ergebnissen nicht bedenkenlos bejahen können, ergibt
sich m.E. schon aus einer Feststellung wie dieser: „Eine gewisse
Entschärfung von bestimmten Glaubensinhalten wird zugunsten
von Hilfen zur Bewältigung ethischen Verhaltens gefordert
" (S.55). Droht auf dieser Linie nicht Gesetzlichkeit das
uns aufgetragene Evangelium zurückzudrängen? Kommt
andererseits der Geschenk- und Gnadencharakter des Glaubenkönnens
noch voll zu seinem Recht, wenn gesagt werden kann:
„Gott kann erst und allein wieder geglaubt werden, wenn es
möglich ist, den Menschen und menschliches Handeln in Beziehung
zu Gottes Absicht und Willen zu bringen" (S.55)? Wird
hier nicht über einer erstrebten aktuellen Bezogenheit die sich
stets durchhaltende Situation des Menschen in der Begegnung
mit dem Evangelium übersehen ? Ergeben sich aus ihr nicht sich
ebenfalls durchhaltende Grundstrukturen für die Gestalt des
christlichen Gottesdienstes? - Es folgt dann eine wertvolle
Übersicht über die gegenwärtig wesentliche Literatur zu diesen
Fragen. - Danach werden die theologischen Aspekte der neuen
Gottesdienstformen zusammengestellt: man wird nicht von
ihnen allen sagen können, daß sie in einem recht gestalteten
Gottesdienst bisheriger Art vernachlässigt erscheinen mußten.
Vielleicht rächt es sich jetzt aber, daß unsere junge Generation
weithin einer Gottesdienstgestaltung gegenüberstand, die in
Auswirkung eines „Barthianismus" die Vertikale im gottesdienstlichen
Geschehen gegenüber der Horizontalen einseitig
herausarbeitete. Wenn anstelle einer Präformierung durch die
Tradition deren Einschmelzung im Sinn einer „Transfiguration"
und „Transformation" gefordert wird, bleibt zu fragen, wie auf
diesem Wege vermieden werden kann, daß die Tradition ihre
erzieherische Kraft verliert, mit der sie der Gegenwart entschwundene
geistliche Erkenntnisse uns neu bewußt zu machen
vermag. Das wird schon bei Pkt. 6 deutlich, wo gesagt wird, daß
„nicht mehr das Problem der Zweinaturenlehre Jesu", „sondern
die Frage nach den Verhaltensweisen Jesu von Nazareth"
im Mittelpunkt des Interesses steht. Sicherlich wird dem Gottesdienst
eine „Transformation" der Zweinaturenlehre heute hilfreich
sein, wenn durch sie deutlich wird, daß es in deren Formulierungen
um „Hieroglyphen des Heiligen", nicht aber um dessen
Definition geht. Doch christlicher Gottesdienst wäre m.E.
in seinem Herzpunkt zerstört, wenn es ihm statt um den Glauben
an Jesus Christus ausschließlich um das Glauben wie Jesus
gehen würde. Weiterhin wird man behaupten dürfen, daß ein
rechter Gottesdienst wohl immer auf Konkretion im Gottesdienst
des Lebens abzielte, auch wenn er nicht wurde ein „Aufbruch
aus der Unverbindlichkeit, die vor aggressiven und provokatorischen
Verhaltensweisen nicht zurückscheut" (S.59).
Daß schließlich die gottesdienstlichen „Strukturen und Formen
manipulierbar" sein sollen, möchte ich hinsichtlich der Grundstruktur
des christlichen Gottesdienstes in Frage stellen, weil
mir diese in der (oben erwähnten) sich durchhaltenden Situation