Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

387-389

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Voigt, Gottfried

Titel/Untertitel:

Der rechte Weinstock 1970

Rezensent:

Wätze, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

387

Theologische Literaturzeitiing 95. Jahrgang 1970 Nr. 5

388

sieht ist, pauschal gesagt, alles zentral biblisch und reformatorisch
. Aber die Wirklichkeit des Menschen erscheint eigentümlich
blaß und ungreifbar. Man erfährt von ihr nicht viel
mehr, als dall der Mensch von Gott geschaffen und erlöst ist,
ohne ihn jedoch verloren wäre. Konkrete Nöte, Zweifel, Freuden
und Aufgaben kommen nur andeutungsweise einmal in den
Blick. Die soziale Dimension bleibt meist außer Betracht. Selbst
die gut evangelische Verheißung und Mahnung ist vorwiegend
auf den Bereich der individuellen Heilsprobleme beschränkt.
Ohne die Jahresangabe bei jeder Predigt würde man deren Zeitbezug
nur selten entdecken können.

Auch sonst wirken Inhalt und Stil wenig eindrucksstark,
manchmal langatmig und farblos, wobei natürlich Ausnahmen
nicht bestritten seien (z.B. bezeichnenderweise die durchaus
konkrete Erntedanktagspredigt von 1961). Die Texte sind alle
dem Neuen Testament entnommen; vielleicht hätte das Alte
Testament für größere „Menschentreue" gesorgt? Sie mag für
den Hörer ja deutlicher gewesen sein, und er wird sicherlich von
dem Gesagten mehr bewegt worden sein als der Leser, der ohne
persönliche Kenntnis des Predigers nur das Geschriebene vor
sich hat. Aber für wen wurden diese Predigten gedruckt? Doch
für Menschen der Gegenwart, die im Chor der oft gehörten
Durchschnittspredigten nach ausgeprägten Stimmen aktueller
evangelischer Verkündigung suchen, wie sie z.B. bei R.Bohren
oder G. Jacob wohl zu finden sind (um nur je ein charakteristisches
Gegenbeispiel von hüben und drüben zu nennen)! Hier
dagegen liegt schon ein Stück Predigtgeschichte vor, das über die
Epoche der klassischen „dialektisch-theologischen" Predigt
(auch exegetisch-hermeneutisch) nicht mehr hinausführt.

Rostock Ernst-Rüdiger Kiesow

Voigt, Gottfried: Der rechte Weinstock, I/O. Homiletische Auslegung
der Predigttexte der Reihe III. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
[1968/69]. 424 S: gr. 8°.

Nach zwei Bänden von Predigtmeditationen über alttesta-
mentliche Texte („Der helle Morgenstern", Berlin 1956, 19613,
und „Das verheißene Erbe", Berlin 1965) und dem Doppelband
von Predigtmeditationen über die Reihe VI der „Ordnung der
Predigttexte" der „Lutherischen Liturgischen Konferenz
Deutschlands" („Die neue Kreatur", I und II, Berlin 1965 und
1966) liegt ein weiterer Doppelband von Predigtmeditationen
über die Reihe III der „Ordnung der Predigttexte" vor. Ein
Werk praktischer Theologie ist im Entstehen - sofern man auf
die Fortsetzung dieser Arbeit für die anderen Reihen hoffen
darf -, das für seinen Bereich geradezu enzyklopädischen Charakter
zu gewinnen sich anschickt.

Vergleicht man diesen Doppelband mit seinen Vorgängern,
wird man sich dankbar an deren Vorzüge erinnern und - sie hier
wiederfinden: Anschaulichkeit, Konkretheit, gute systematische
Verarbeitung der Textelemente zu einem überschaubaren Ganzen
, ständiger Rückbezug auf das gottesdienstliche Leben nach
dem Kirchenjahr unter Einbeziehung auch des Gesangbuchs -
eine unermüdliche Einübung des Brückenschlags vom Text zur
Predigt. Es wird kaum glücken, charakteristische Unterschiede
zu entdecken, es sei denn, man wolle sie in einem höheren Grade
der Intensität erblicken. Die exegetischen Einleitungsbemer-
kungen sind umfangreicher geworden, die Zahl der Kommentatoren
und Gewährsmänner größer, das Gespräch und die Auseinandersetzung
mit ihnen noch lebhafter.

Der Vf. ist sich dessen bewußt, daß er - in Konkurrenz mit
dem Exegeten - jedesmal gefordert ist, den Text bis zum äußerst
Möglichen explizit zu machen, sich nicht damit zu begnügen, was
der Text „nicht sagt", sondern nach bestem Vermögen und unter
Aufwand aller Mühe herauszufinden, was er denn wirklich sagt
(S.323). Das kann in Grenzfällen so schwer werden, daß u.U.
„der Versuch einer homiletischen,Aufbereitung'" einer Perikope
„ganz ohne den Tastsinn nicht auskommen kann" (S.288).
Das kann zu einem gefährlichen Umschlag führen, nämlich ein
Gleichnis im umgekehrten Sinn seiner Erzählungsrichtung anwenden
zu wollen (S. 362). Es wird auch zwangsläufig bei der Verwandtschaft
mancher Texte und wegen ihrer mannigfachen Berührungen
untereinander nicht ohne Wiederholungen abgehen.
So häufen sich die Verweise des Vf.s auf seine eigenen früheren
Ausführungen. Aber es bleibt erstaunlich, wie vielfältig und
engagiert, wie immer neu interessant und fesselnd der Vf. das
Gespräch mit dem Menschen der Gegenwart zu führen vermag,
sowohl mit dem in der Kirche wie dum draußen. Das geschieht
manchmal konzentriert mit schlagendem Witz (S. 117: „Wer
nicht mit Jesus geht, hat vom Evangelium nicht mehr, als wenn
einer sich eine Schallplatte kauft und den Kunstgenuß auf das
Betrachten der Rillen beschränkt: die Platte aber will gespielt
sein".), das kann auch in längeren, sehr einfühlsamen Textparaphrasen
geschehen (z. B. zu dem zweiten der beiden Söhne
in Lk 15,11-32 S.262).

Überall begegnet man dem hellwachen Beobachter der gegenwärtigen
theologischen Diskussion, der sich keine exegetische
Anregung entgehen läßt (siehe z.B. die zahlreichen Verweise auf
Lohmeyer), der in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit
Bultmann seines eigenen Weges gewiß wird, selber kritisch etwa
gegen alle kurzschlüssige Perikopisierung, aber auch auf der Hut
vor aller Hyperkritik und gar vor den daraus folgenden „Postu-
laten einer negierenden Dogmatik" (S.32: als könne sich
etwas darum nicht so zugetragen haben, weil es verheißen und
also irgendwo vorausgesagt ist").

Auch wer Voigt nicht in alle Konsequenzen folgen kann (beispielsweise
S. 158 ff. zu Joh 13,31-35, wo verschlüsselt vom
Altarsakrament die Rede sei, oder S. 185 ff. zu Joh 21,1-14, wo
Johannes und die Synoptiker zu unproblematisch zueinander in
Beziehung gesetzt sind, oder S. 186, wo der Hinweis auf „rechts:
die Glücksseite" wohl nur als unerlaubte Symbolspielerei gewertet
werden kann), der wird sich dennoch von der Leidenschaft
des Gesprächs gefangennehmen lassen, mit der Voigt -
immer auf Grund des Textes und vom Text her auf die Fragen
und Einwände besonders der jungen Generation in der Kirche
eingeht. Da findet an vielen Stellen das Sozialengagement seine
volle Würdigung (S. 126, 142 u.a.), freilich nicht der „Praktizismus
" um jeden Preis (S.366), aber ebenso wenig auch der
„Liturgismus" (ebenda). „Nicht nur das Kreuz, sondern auch
die Auferstehung, in der die Welt des kommenden Äons ihren
Anfang nimmt, ist notwendig die große Enttäuschung für die, die
,allein in diesem Leben auf Christus hoffen' (1 Kor 15,19): für
zelotische Revolutionäre, für die, die von Jesus ein großes Ordnungmachen
in der alten Welt, die äußere Gerechtigkeit, eine
Art Pax Romana, den Wohlstand und die Glückseligkeit aller
erwarten" (S.180). Die Gottesfrage wird immer neu aufgegriffen
(S.66, 121, 163, 202, 210 u.a.), die theologische Bedeutung der
Traditionsgeschichte erfragt, der Diskussion über die Kindertaufe
, ihre Bedeutung, ihr Recht, wird nicht ausgewichen. Das
Johannesevangelium wird in eine besondere Beleuchtung gerückt
, wenn die Dramatik der Erzählungen und der Gespräche,
wenn die „Christusmeditationen" andeutend oder ausführlich
dargestellt werden (S.87ff., S.152ff. u.a.).

Mögen auch kritische Rückfragen kommen, man wird die
erregende Argumentation zum Problem des Messiasgeheimnisses
im Erdendasein Jesu (S. 123, S.203) oder die hartnäckige
Polemik gegen die Alternative von Naherwartung und
Fernerwartung in der Eschatologie (S. 159, 403, 417) und gewiß
die Formel von der „quasi stereoskopischen Zusammenschau"
(S. 159) und das eindrucksvolle Wort für das Eschaton als für
den Tag, „der kein Tag auf unserem Kalender mehr sein wird'
(S.344) nicht mehr aus dem Sinn bekommen.

Es wäre reizvoll, noch all die Partien herauszuheben, die sich
mit Seelsorge in Anfechtung, mit dem Gebet, dem Gottesdienst,
mit dem Glauben im Alltag, in der modernen technischen Welt
befassen. Fehlen aber darf nicht der Hinweis auf die ausgesprochen
oder unausgesprochen überall zutage tretende Mitte. Wir
greifen eine Stelle aus der Meditation über Jer 31,31-34 heraus,
wo es um das Sakrament und die Offenbarung, ihre Mittelbarkeit
oder ihre Unmittelbarkeit geht: „Indem der Herr uns in
seinem Sakrament ganz nahe kommt, ist zwischen ihm und uns
weniger als eine Wand aus Seidenpapier. Der Glaube läßt sich
nicht beirren: Er sieht den Herrn nicht direkt, sondern nur in
der Hostie und im Wein, aber er sagt du zu ihm, ungehindert,
ohne Scheu, in der Freude einer unzerstörbaren Verbundenheit.
Der neue Bund ist in Kraft" (S. 163).