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Ausgabe:

1970

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

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Theologisdie Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 5

384

zeichnet, wobei er gut „reformatorisch" den Geist durch das
göttliche Wort bedingt versteht (CL, A S. 17f., 216ff.), halte
ich für entscheidender als die Folgerungen, die 0. aus der
methodischen Angelegtheit der Einleitung ziehen möchte (VI,
15, 218). Eine dogmatische Frage wie die nach der sogenannten
Vergegenwärtigung kann sich nicht in der Weise auf die Einleitung
beschränken, daß die eigentlich dogmatischen Erörterungen
abgewiesen werden; Schleiermachers Einleitung will
nur eine vorläufige Orientierung geben und wäre hier als Basis
zu schmal (vgl. 19, 30f., 235ff., 200, 296, 301, 332). Nach O. hat
Schleiermacher die sogenannte Vergegenwärtigung nicht inhaltlich
zur Aussage gebracht (15), was meinen Verdacht an dem
Nutzen der Vergegenwärtigung Jesu verstärkt. O. übersieht,
daß die damals „mit diesem Manne Gleichzeitigen" (zu denen
schließlich auch Jesu Gegner gehörten) nicht dieser Gleichzeitigkeit
wegen zum Glauben gekommen sind (18, 8). Wenn, wie
O. zugesteht, „die mit Jesus im historischen Sinne Gleichzeitigen
gegenüber den Späteren weder im Vorteil noch im Nachteil
sind" (318), zeigt sich, daß Gleichzeitigkeit kein Vorzug und
damit das Vergegenwärtigen ein überflüssiges Geschäft ist.
Trotz der von Schleiermacher behaupteten Selbigkeit des
Glaubensgrundes zu allen Zeiten hält 0. an der Vermittlung
der Erlösung durch die christlichen Zeugen fest (318f., 13,
321). Die These von der Kontinuität der Kirche, auf welche 0.
diese Selbigkeit deutet, gereicht zwar einem katholischen, aber
schwerlich einem evangelischen Theologen zur Ehre: „Die
Kontinuität der Kirche ermöglicht es, daß der in der Zeit
wachsende Abstand zu dem damals wirkenden Jesus von Naza-
reth immer wieder neu überbrückt wird" (331, 318f., 321). Einen
unmittelbaren, nicht mit der kirchlichen Tradition identischen
Zugang zu dem Grund des Glaubens - an dessen Stelle ein
„Vermittlungsgrund" tritt (331, 325, vgl. 283); wer will da
noch einige Erfahrungen machen (319, 133)? - kann es dann
nicht mehr geben: „Weder damals, zu Lebzeiten Jesu, noch
irgendwann später stand bzw. steht die .göttliche Offenbarung
in Christo' unter dem Zeichen der Unmittelbarkeit" (319, 234,
278). Ist es folgerichtig, wenn O. kurz darauf erklärt: „Der
Begriff des unmittelbaren" (Sperrung von mir) „Selbstbewußtseins
ist der Grundbegriff für die gesamten Ausführungen
" (328, 39, 131)? Weiter: Ein ursprünglich falscher Ansatz
bei den Begriffen „Spekulation" (187) und „Empirie", denen
ich keine theologische, sondern nur eine allgemein wissenschaftliche
(Unterscheidung zwischen Ethik und Geschichtskunde bzw.
zwischen Naturphilosophie und „Naturwissenschaft") Bedeutung
beizumessen weiß, kann nicht dadurch wettgemacht
werden, daß man beide ins Gleichgewicht zu bringen sucht (35,
37 Anm. 9, 147, 151 - 96, 104, 121, 125, 138, 150, 203, 213, 217,
222f., 237, 239, 243f., 249, 258ff., 297ff., 305, 323, 326 usw.);
der einfache Mensch Jesus läßt sich als Grund des Glaubens
(W. Herrmann) mit dem empirisch Gegebenen nicht in einem
Atemzug nennen (zu S.5, 244, 246, 258, 260f., vgl. 316f., V, VII,
304); die Scheidung zwischen Philosophie und Theologie hat mit
der zwischen Spekulation und Empirie nichts zu schaffen (zu
S.30, 107, 121); eine empirische Auffassung könnte sich damit
vertragen, daß sie ohne Überzeugung gegeben ist (CL, A S 2).

Trotz dieser und ähnlicher Bedenken möchte ich O.s Buch
warm empfehlen. Da O. dem Verständnis Vorrang vor der Kritik
geben will (17 f., 263), ist ihre Arbeit, die weithin dicht an den
Schleiermacher-Texten bleibt und aus der Schleiermacher-
Forschung nicht mehr wegzudenken ist, mitunter ergiebiger
als der Großteil der von ihr kritisch besprochenen Sekundärliteratur
.

Berlin Hermann Peiter

Berger, Christfried: Experimente mit der Wahrheit. Zum 100. Geburtstag
von Gandhi (ZdZ 23, 1969 S.380-386).

Cromp, Germaine: L'Avoir et l'etre dans le lien au corps chez le
second Marcel (science et esprit 22, 1970 S.49-75).

Decloux, S., S. J.: La paternite universelle de Dieu. A propos de
l'atheisme de Feuerbach (IV) (NRTh 92, 1970 S.113-134).

Haar, Johann: Der jüdische Beitrag zur Deutung der kritischen
Philosophie Kants (JK 31, 1970 S. 140-145).

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Müller, Gotthold: Identität und Immanenz. Zur Genese der
Theologie von David Friedrich Strauß. Eine theologie- und
philosophiegeschichtliche Studie. Mit einem bibliographischen
Anhang zur Apokatastasis-Frage. Zürich: EVZ-Verlag 1968.
XXIV, 342 S. gr. 8° = Basler Studien zur historischen und
systematischen Theologie, hrsg. v. M. Geiger, 10.

Theologiegeschichtliche Darstellungen befassen sich fast ausschließlich
mit dem „reifen" David Friedrich Strauß. Als der
Verfasser seines ersten Leben-Jesu-Buches findet er Interesse;
als solcher wird er im Rahmen einer Geschichte des Mythusbegriffes
(Hartlich-Suchs, 1952) gewürdigt, als solcher auch als
„Verlegenheit der Theologie" überhaupt verstanden (E.Wolf,
1957). Kaum jedoch wird der Versuch unternommen, D.F.
Strauß theologiegeschichtlich einzuordnen, und wenn dies
ansatzweise geschieht, so bezieht man sich wieder nur auf den
„reifen" Strauß (vgl. Max Huber: Jesus Christus als Erlöser in
der liberalen Theologie, Winterthur 1956). Die moderne historisch
-kritische Biographie steht für D.F.Strauß überhaupt noch
aus. Die Arbeiten von A. Hausrath und E. Zeller, dieser als
Herausgeber der Gesammelten Schriften, sind kaum mehr als
Materialzusammenstellungen. In dieser unbefriedigenden Situation
der Strauß-Forschung kommt den Bemühungen Müllers
von vornherein Bedeutung zu. Sie können anknüpfen an die
philosophische Dissertation, die Strauß 1831 kurz vor seiner
Abreise zu einem Studienaufenthalt in Berlin bei der Tübinger
philosophischen Fakultät einreichte. Diese Dissertation war
bereits bekannt (ich verweise auf Hausrath, S.63f.); es liegt
sogar ein auszugsweiser Abdruck vor, aber Müller ging auf das
im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart vorhandene Original
selbst zurück. Mit dieser Dissertation kommt ein Problem in
Sicht, das sich auch für andere Denker, ich nenne nur Ludwig
Feuerbach oder Friedrich Hebbel, die lange einseitig von Hegel
her interpretiert wurden, ganz neu stellt. Es geht um die Abhängigkeit
von anderen zeitgenössischen Denkern, im Falle von
Strauß nicht nur in erster Linie von Schelling, sondern auch von
Schleiermacher. Methodisch richtig und fruchtbar stellt Müller
die Frage: „Welche philosophischen Anschauungen von Strauß
entstammen nicht der Denkwelt Hegels, sondern sind anderen
geistigen Strömungen entnommen?" (vgl. S.31). Wer die
„Parallelfälle" der Forschung, Feuerbach (Carlo Ascheri) und
Hebbel (Wolfgang Liepe), kennt, wird schon von ihnen her vermuten
können, daß sich Müllers Untersuchungen methodisch
nicht leicht gestalten werden. Überflüssig sind jedenfalls die
Hinweise auf „Philosophie, Theologie und volkstümliche Frömmigkeit
in Württemberg zwischen ca. 1750 und 1830" (S. 154
bis 174), wichtig dagegen die Erörterung der geistigen Einflüsse
auf Strauß während der Seminarzeit in Blaubeuren und der
Tübinger Studienzeit. Die Begegnung mit Sendlings Philosophie
war dabei von großem Gewicht (S.200L, 211 ff.). Ob
man die Dissertation von Strauß so weit von Hegel wegrücken
kann (wobei die Frage offenbleibt, ob Strauß Hegel ganz verstanden
hat!), wie Müller das zugunsten von Schelling und der
mystischen Tradition, über deren konkrete Vermittlung an
Strauß wir trotz Müller gern Genaueres wüßten, scheint mir
zweifelhaft. Jedenfalls teilt Hausrath (S.64) mit, daß der die
Dissertation prüfende Professor Eschenmeyer „Hegels Standpunkt
" in ihr kritisierte. Wenn Eschenmayer zugleich tadelte,
daß Strauß dem Evangelium nicht entspreche, so kommt Müller
prinzipiell zum gleichen Urteil: Strauß habe von philosophischen
Voraussetzungen her gedacht und sei der Eigenart theologischen
Denkens überhaupt nicht gewahr geworden (Vgl.
dazu S.252ff.). Müllers Untersuchung zieht außer der Dissertation
noch einige andere, bisher unbeachtete Quellen heran.
Insgesamt ist sie zu breit angelegt; sie hält sich auch nicht frei
von Vermutungen und überbewerteten, assoziativ verfahrenden
„Ableitungen". Man hätte auch die Frage nachdem produktiven
Mißverständnis des Strauß'schen Denkens - einerseits im
Blick auf Hegel, andererseits im Blick auf die theologische
Sache - wagen sollen. Hat Strauß nur die Theologie mißverstanden
, oder hat er einen echten „Abschied" von ihr