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Ausgabe:

1970

Spalte:

371-372

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Luther-Jahrbuch XXXVI, 1969. 1970

Rezensent:

Koch, Ernst

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 5

372

zwar per contrarium (und gerade insofern in unbedingt sachgemäßer
Weise!). Nicht zustimmen kann man allerdings Schw.s
abschließender Kritik (104-116) darin, daß damit schon über den
Luther verfehlenden und sich ihm und seinem „Schibboleth"
versagenden neueren Protestantismus das Urteil gesprochen,
die Krisis ergangen sei. Die Zeiten sind vorbei, in denen, von
wem auch immer, im „Namen Gottes" ein „Schibboleth" aufgerichtet
und ausgerufen werden konnte und jeder, der „im
Namen Luthers und des Protestantismus und des Evangelium"
nur ein „erschrockenes sibboleth" „stotterte, nuschelte, wisperte
, lispelte" (116), darum mit Luther als blasphemisch be-
und verurteilt werden konnte (14). Das heißt nicht, die „Zumutung
von Dsa." (73) zu übersehen. Im Gegenteil! Aber es
heißt, daß sich neuzeitlich jedes „Schibboleth" als solches der
gemeinchristlichen wie der allgemeinen Diskussion und Verständigung
zu stellen hat. Wenn dekretiert wird: „Man kann
Luther mithin nur verstehen, wenn man ihm zuvor voll recht
gab; und wo man ihn nicht versteht, das ist das ... bereits Indiz
dessen, daß man es mit Erasmus hält. Daß dem aber so ist, beweist
abermals das Recht von Luthers Position" (106), so ist
dem entgegenzuhalten, daß Identifikation die Verifikation
weder ersetzen noch überflüssig machen kann und darf. Der
Gegen-Hinweis, „Luther konnte so schreiben, weil er so schreiben
mußte, und er mußte so schreiben, weil überhaupt er so
schreiben konnte, er konnte aber so schreiben, weil er in der
Bindung an den Herrn dazu frei war" (ebd.; auch 65), darf nicht
darüber hinwegtäuschen, daß sich in der Inanspruchnahme solcher
„konfessorischen Unfreiheit" (109; auch 65.104) eine Entschiedenheit
und Fraglosigkeit geltend macht, der das Urteil auf
autoritäres und repressives Verhalten nur schwer zu ersparen
ist. In der Tat: „Die Richterzeit ist längst dahin" (116) - doch
nicht das Zurück zu einem diskussions- und argumentationslos
vorausgesetzten „Schibboleth" ist das Gebot und die Chance
der Stunde, sondern die Erkenntnis und Bejahung der Vorläufigkeit
, Offenheit und Fragwürdigkeit aller christlichen Antworten
, auch der auf die zentrale und dringliche Frage nach dem
entscheidend Christlichen. Die gegenwärtige Artikulationsfähigkeit
des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie
vollzieht sich nicht im Horizont des unerschütterlich, weil
durch den Geist begründeten Assertorisch-Gewissen, sondern
des Hypothetischen, der Vermutung, des „Experiments". Anders
gesagt: Zur Debatte steht nicht mehr dieses oder jenes „Schibboleth
", sondern die Kategorie des „Schibboleth" selbst!

Münster/Westf. Klaus Haendler

Luther-Jahrbuch XXXVI, 1969. Jahrbuch der Luther-Gesellschaft
, hrsg. v. F.Lau. Hamburg: Wittig [1969]. 176 S. 8°.
Lw. DM 16,-.

Die beiden großen Hauptbeiträge dieses Jahrgangs befassen
sich mit Luthers Sakramentstheologie. Joseph Lortz schreibt
über „Sakramentales Denken beim jungen Luther". Lortz geht
es darum herauszustellen, daß Luther in den Äußerungen seiner
Frühzeit sich durchaus im Rahmen des damals dogmatisch Möglichen
bewegt habe, ja daß er antiockhamistische Züge erkennen
lasse. Freilich rücken bei ihm Sakrament und Wort in ihrer
Dignität eng zusammen, was sich wiederum auch katholisch
deuten läßt. Die Erkenntnis der Einheit zwischen dem Haupt
der Kirche und seinen Gliedern im Sakrament ist „selten in
solcher Fülle wie bei Luther ausgebreitet" worden (24). Der
sakramental begründete Imitatio-Gedanke wird bei ihm bis zu
Anweisungen zum geistlichen Leben ausgezogen und verträgt
sich nicht mit der oft geäußerten Passivität des Glaubens bei
Luther. Die Abwehr der (von Luther mißverstandenen) opus-
operatum-Theorie darf nicht dazu führen, den sakramentalen
Objektivismus auch seiner Frühzeit zu übersehen. - Es bleibt
nach der Lektüre des konzentrierten Aufsatzes von Lortz zu
fragen, ob es mehr beschämend als typisch ist, daß es ein römischkatholischer
Forscher ist, der darauf den Finger legen muß.

Albrecht Peters behandelt in 5 Thesen das Thema „Sakrament
und Ethos nach Luther". Er geht von den Beobachtung

aus, daß in der gegenwärtigen protestantischen Ethik für die
Begründung der Ethik im Sakrament unter dem Einfluß des
Idealismus Fehlanzeige zu erstatten ist. Damit ist auch die
futurisch-eschatologische Ausrichtung des christlichen Ethos
geschwunden. Luther hingegen hat Absolution und Altarsakrament
aus der scholastisch-raeritorischen Umklammerung
befreit und die Taufe zum Wurzelboden des christlichen Ethos
gemacht, aus dem das Christenleben lebt. Hier bekommt auch
das Altarsakrament seinen neuen Ort als Sakrament der Liebe.
These IV zieht die Parallele zwischen Gottes Inkarnation in
Christus und der Inkarnation des Glaubens in den Werken „als
seinen sakramentähnlichen Wahrzeichen". im ethischen
Vollzug erlangt der inwendige Mensch lies Herzens die Errettung
im Lauschen auf die vom Evangelium durchpulste Weisung
Gottes, der auswendige Mensch des Leibes erlangt die Errettung
aus dem hierdurch geprägten Gehorsam im gottgeordneten
Beruf und Stand" (67). In den Ausführungen zu These IV heißt
es dann u.a.: „Wie unter Wort und Sakrament so naht sich uns
der dreieinige Gott auch im alltäglichen Gehorsam ... zugespitzt
könnte man formulieren, Sakrament wie Ethos werden hier,
recht verstanden, zu pharmaka athanasias" (73). These V
schließlich befaßt sich mit der eschatologischen Ausrichtung von
Sakrament und Ethos und stellt in dankenswerter Weise Luthers
Nein zur Weltseligkeit als Kehrseite zur Verneinung der Weltflucht
heraus. - Der Herausgeber schreibt im Vorwort des
Jahrgangs, es sei nicht verwunderlich, wenn die Ausführungen
von Peters „nicht allerseits widerspruchslos aufgenommen werden
würde(n)". Er mag dabei vor allem die erwähnte These IV
gemeint haben. Sie stellt in der Tat die angreifbarste Stelle des
Aufsatzes von Peters dar, zumal da die gegebenen Belege aus
Luther die Behauptungen Peters' nicht decken können, es sei
denn man arbeite mit einer Art Konklusionstheologie. Das ist
um so mehr zu bedauern, als Peters mit seinen Ausführungen ein
nicht nur für die Lutherforschung wichtiges und dringendes
Problem aufgegriffen hat. Vielleicht findet er die Möglichkeit,
bei anderer Gelegenheit noch einmal weniger mißverständlich
zu formulieren, was er im umrissenen Horizont Luther entnimmt
.

Der Leipziger Pfarrer Siegfried Bräuer (dessen Anschrift irrtümlich
im Mitarbeiterverzeichnis fehlt) bringt Bemerkungen
„Zu Müntzers Geburtsjahr". Er verweist auf auch von Goebke
bisher nicht beachtete Stoiberger Quellen, in denen der Name
Müntzers auftaucht, und auf mögliche verwandtschaftliche
Beziehungen. Goebkes Neudatierung von Müntzers Geburtsjahr
(die übrigens über G.Franz auch in RGG 3. Auflage geraten ist)
hält er nach seinen Ausführungen für endgültig indiskutabel. -
Zu ergänzen wäre hier noch, daß M. Benzing in ZfG 14 (1966) 426
erneut auf mögliche Beziehungen der Familie Müntzers zu
Halberstadt hingewiesen hat. Es wäre vielleicht lohnend, daß
die Müntzer-Forschung sich nunmehr auch Halberstadt zuwendete
, falls die Quellenlage das erlaubt.

Den Abschnitt „Luther und die Welt der Reformation", der
den Buchbesprechungen folgt, macht diesmal u. a. der Vergleich
zwischen einer marxistischen und einer nichtmarxistischen Lutherbiographie
spannend. Im übrigen macht sich immer wieder
die Mühe bemerkbar, die es bereitet, bei der großen Zahl wichtiger
Publikationen auch nur die wichtigsten zu erfassen und zu
besprechen, was sich allein schon an dem erheblich vergrößerten
Umfang dieses Abschnitts im Vergleich zum Vorjahr zeigt.

Diese Beobachtung führt sogleich zur Luther-Bibliographie,
die wiederum die Zahl von 1000 Titeln überschreitet. Was mit
ihr geleistet worden ist, ist wiederum wichtig und bewundernswert
. Sehr verdienstlich ist es, daß ein alphabetisches Verfasserregister
aufgeführt ist. Ein Titel taucht in derselben Rubrik
zweimal auf: unter Nr.673 und Nr.789. - Zwei kleine Versehen:
Ebeling hat eine Professur für Hermeneutik und Fundamen-
tal-Theologie (gegen S.118 v. Sp. Z.7 v.u.), die S.132 l.Sp. Z.5
v.u. erwähnte Schrift stammt von Friedrich Wilhelm III.

Körner/Thür. Ernst Koch