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Ausgabe:

1970

Spalte:

357-359

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Bonner Gelehrte 1970

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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357

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 5

358

Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in
Bonn. Evangelische Theologie. Bonn: Röhrscheid 1968.
277 8., 13 Taf. gr. 8° = 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms
-Universität zu Bonn 1818-1968. Lw. DM 36,-.

Die Geschichte einer Fakultät kann auf verschiedene Weise
geschrieben werden: ausgehend von den Biographien ihrer
großen Persönlichkeiten, als Geschichte der Institution, als Darstellung
der bestimmenden Kräfte, Bewegungen und Tendenzen
ihrer geistigen Entwicklung. Die Selbstdarstellung, die die
Evangelisch-Theologische Fakultät der Rheinischen Friedrich-
Wilhelms-Universität zu Bonn anläßlich ihres 150jährigen Bestehens
vorlegt, hält sich grundsätzlich im Rahmen der ersten
Möglichkeit. Nachdem Otto Ritsehl beim letzten Jubiläum eine
fortlaufende Fakultätsgeschichte dargeboten hatte1, hielt man
es diesmal für angemessen, 14 biographische Porträts der bedeutendsten
Fachgelehrten zu präsentieren und in einem gesonderten
Beitrag die institutionelle Geschichte der Fakultät von
1919 bis in nie zweite Nachkriegszeit hinein fortzusetzen.

Die biographischen Skizzen, teils von Angehörigen der Fakultät
, teils von auswärtigen Fachleuten verfaßt, haben den Schwerpunkt
im Bonner Wirken der dargestellten Persönlichkeiten,
beschränken sich jedoch nicht darauf. Wilhelm Schneemelcher
behandelt den in die Gründungszeit gehörigen Carl Immanuel
Nitzsch (8.15-30); die Alttestamentier Friedrich Bleek (S.31 bis
40), Adolf Kamphausen (S. 92-102) und Johannes Meinhold
(S. 121-129) stellt Rudolf Smend dar, während Eduard König
(S. 153-160) von Rudolf Meyer gewürdigt wird. Philipp Vielhauer
hat den Neutestamentler Eduard Gräfe (S. 130-142),
Ernst Wolf den Lutherforscher Heinrich Böhmer (S. 161-168)
porträtiert, die Beiträge über Otto Ritsehl (S. 140-152) und
Hans Emil Weber (S. 169-191) sind von Ernst Bizer verfaßt,
Walter Kreck verdanken wir eine liebevoll engagierte Darstellung
des Wirkens von Hans Joachim Iwand (S. 215-226).
Es ist ungute Rezensentengewohnheit bei einer solchen Galerie
von Porträts, in die nur eine begrenzte Zahl von Lebensbildern
Aufnahme finden konnte, die Auswahl zu bemängeln. Hier
sollte hingegen dankbar vermerkt werden, daß dank der überlegten
Zusammenstellung und der sorgfältigen Durchführung
eine Reihe bedeutender Gestalten, vor allem des vorigen Jahrhunderts
, einer unverdienten Vergessenheit entrissen wurden.

Drei Beiträge, die auch dem Umfang nach an der Spitze
stehen, sollen kurz hervorgehoben werden. Sie gelten Männern,
denen zu ihren Lebzeiten dauerndes Heimatrecht in Bonn versagt
wurde: Bruno Bauer, Albrecht Ritsehl und Karl Ludwig
Schmidt.

Wie sehr jedwede Auswahl die Bewußtseinslage ihrer Zeit
reflektiert, wird deutlich an der Aufnahme Bruno Bauers, des
Junghegelianers und zeitweiligen Freundes von Karl Marx (der
bei ihm im W. S. 1838/39 in Berlin eine Jesaja-Vorlesung hörte)
in die Porträtgalerie der Fakultät, in der er für kurze Zeit als
Privatdozent gewirkt hat. Der dezidierte Nichttheologe, den
seine Freunde noch auf dem Grabstein zum Dr. phil. umpromovierten
, hatte sich in der Fakultätsgeschichte von Otto Ritsehl
noch mit einem bescheidenen Seitenplatz begnügen müssen2.
Joachim Mehlhausen, der bereits mit einer Dissertation über B.
hervorgetreten ist3, weist in seiner Skizze (S. 43-66) noch einmal
auf, daß B. schon in seiner orthodoxen Phase, die er als Schüler
Marheinekes im Schatten Hengstenbergs in Berlin verlebte, vor
allem Kritiker war, der die erkenntnistheoretisch-metaphy-
sischen Voraussetzungen seiner Gegner prüfte. Der schon in
Berlin sich vollziehende Übergang zur Linken ist durch den
Verzicht auf die Annahme einer die Dialektik des Bewußtseins
ermöglichenden Tatoffenbarung gegeben, der als historisch greifbar
nur das Bewußtsein und seine Selbstinterpretation übrig
läßt. Zum Verhängnis (auch im beruflichen Sinne) wurde für B.
seine Leugnung der Geschichtlichkeit Christi. Mehlhausen versucht
den Stellenwert dieser Behauptung in Bauers System zu
bestimmen: sie ist Konsequenz der atheistischen Interpretation
der Ergebnisse seiner Evangelienforschung, die die Evangelisten
als literarische Künstler behandelt, deren Produkte ausschließlich
als Spiegelungen des religiösen Selbstbewußtseins zu werten
sind.

Biographisch ist die Heraushebung der kurzen Bonner Zeit

(1839-1842) voll gerechtfertigt. Mit der Absetzung wird der
Kritiker in die Situation des inneren Exils gedrängt. Der „Einsiedler
von Rixdorf", politisch zum Konservativen geworden,
führt in seinen späten Studien die in den Bonner Jahren erarbeiteten
Ansätze beharrlich fort. Der gewiß nicht unkritische
Franz Overbeck vermag nur die Standhaftigkeit zu konstatieren,
„mit welcher wir einen Schriftsteller eine Reihe von Sätzen, die
ihm bis jetzt niemand hat glauben wollen, ohne die geringste
Milderung und um einige Ünglaublichkeiten vermehrt, nach
mehr als 35 Jahren dem Publicum vorlegen sehen". Dieses S. 65
ohne Beleg angeführte Zitat findet sich in ThLZ 3, 1878 Sp. 3154.

Auch für die ganz anders profilierte Gestalt Albrecht Ritschis
sind die Bonner Jahre entscheidend gewesen. Hier wo der schwer
um seinen Aufstieg Kämpfende 7 Jahre Privatdozent und 6 Jahre
Extraordinarius war und vor allem als Neutestamentler wirkte,
vollzog sich die Loslösung von der Schule Ferdinand Christian
Baurs. K. G. Steck tat gut, in seinem Beitrag (S. 67-92) neben
dem großen Werk über die Entstehung der altkatholischen
Kirche (1850, 18572), in dem sich die Preisgabe des Baurschen
Schemas schon abzeichnete, auf die beiden nahezu vergessenen
Aufsätze über die geschichtliche Methode in der Erforschung des
Urchristentums (JDTh 6, 1861, 429-459) und die Erwiderung
auf Zeller (HZ 8, 1862, 85-99) hinzuweisen. Dem Zeitgenossen
Lagarde und später Bernoulli erschienen sie als Dokumente der
Emanzipation der positiven Wissenschaft von einer durch die
Religionsphilosophie bestimmten Geschichtsforschung. Wer den
Übergang von der philosophisch-reflektierenden zur positivistischen
Phase in der Erforschung des Neuen Testaments und
des Urchristentums untersuchen will, wird an ihnen nicht vorbeigehen
dürfen. Deutlich wird an ihnen aber auch, daß die
Trennung von der Baurschen Schule R. nicht aus der Problematik
entläßt, die mit der Vermittlung zwischen dem Wunder
als Konstituens des Offenbarungsglaubens und der historischen
Kritik gegeben ist. Sie kehrt in verwandelter Gestalt in der Versöhnungslehre
wieder, deren Ausarbeitung die Göttinger Zeit
bestimmt, deren Grundlagen jedoch schon in Bonn gelegt wurden
.

Während in der Lebensskizze Ritschis dessen öffentliche
Tätigkeit in der Zeit um 1848 nur eben gestreift wird5, würdigt
Ph. Vielhauer in seinem Porträt Karl Ludwig Schmidts (S. 190
bis 214) nicht nur den bedeutenden Gelehrten, sondern auch den
entschlossen den Fragen der Zeit sich stellenden Menschen, der
als Herausgeber der Theologischen Blätter 1922-1933 diese
Zeitschrift zu dem (neben Rades „Christlicher Welt") den
aktuellen Problemen aufgeschlossensten theologischen Periodi-
cum machte, der noch im April 1933 als lokaler Kandidat für die
SPD auftrat und seinen Einsatz mit Amtsenthebung und Emigration
bezahlen mußte. Da der wissenschaftliche Rang Schmidts
als Mitbegründer der Formgeschichte im Zeichen der Redaktionsgeschichte
noch deutlicher geworden ist, kann die Darstellung
seiner Lebensarbeit am NT auf besonderes Interesse
rechnen. In sorgsamen Referaten über die wesentlichen Veröffentlichungen
zeigt der Vf. den Weg, der über die Arbeit an
den literarischen Problemen des NT (S. 191-200) zu den in
späteren Jahren dominierenden Untersuchungen zu Sprache und
Theologie des Urchristentums (S. 200-207) führten.

Den Versuch, die Fakultätsgeschichte seit 1919 bis in die
ersten Jahre der Nachkriegszeit aufgrund der erhaltenen Protokollbücher
, Akten und amtlichem Schriftwechsel nachzuzeichnen
, hat Ernst Bizer in seinem abschließenden Beitrag unternommen
(S.227-275). Das von ihm entworfene Bild läßt die
verwirrende Vielfalt jener bewegten Jahre deutlich werden, in
denen die Bonner Fakultät von den theologischen Strömungen
der Zeit in besonderer Weise erfaßt wurde und im Mittelpunkt
des geistigen Kampfes stand (Petersons Konversion, Barths
Berufung, seine und Schmidts Absetzung, Not und Niedergang
im 3. Reich, problemreicher Neubeginn nach 1945). Rückschauend
fragt man sich freilich, ob das Leben einer Zeit mit
seinen Ängsten und Versuchungen, seinen Illusionen und Bedrängnissen
in einer so stark an Dokumenten orientierten und
auf das Institutionelle konzentrierten Darstellung voll erfaßt
werden konnte. Da uns kaum Zeugnisse der unmittelbar Beteiligten
zur Verfügung stehen, ist es schwer, zu einem gerechten
Urteil zu gelangen. Eine künftige Darstellung, die vielleicht