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Ausgabe:

1970

Spalte:

316-317

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Wulff-Woesten, Hanspeter

Titel/Untertitel:

Der theologische Werdegang Friedrich Rittelmeyers 1970

Rezensent:

Wulff-Woesten, Hanspeter

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315

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 4

316

baldiger Frist sich verwirklichenden Reiches des Heiligen Geistes.
Diese Behauptung inkludiert eine beträchtliche Veränderung der
traditionellen heüsgeschichtlichen Sicht, da an die Stelle der durch
das Christus-Ereignis markierten einen Zäsur zwei Zäsuren treten,
die die jeweils einem der drei göttlichen Personen unterstehenden
Zeiträume als selbständige Abschnitte der Heilsgeschichte voneinander
trennen. Dabei wird die Geschichtsschau vom Gedanken des
Fortschritts und der stufenweisen Verwirklichung der Vollkommenheit
geprägt. Entsprechend sind die drei Zeitalter ungeachtet ihrer
jeweiligen Eigengeprägtheit entsprechend der Einheit der sie
charakterisierenden und bestimmenden trinitarischen Personen
mannigfach — und zwar sowohl positiv als auch negativ — mitein
ander verbunden. Die geschichtliche Entwicklung führt an bestimmten
Punkten zum Umschlag in eine neue Qualität, aber auch zu
scharfen Gegensätzen.

Dementsprechend kommt es in den Schlußphasen des 1. und

2. Status zu einem „revolutionären" Kampf, in dem die sich widersetzenden
bzw. zum Angriff antretenden Verfechter des Alten und
Oberlebten entmächtigt werden und die Vertreter des Neuen die
Führung übernehmen. Der Entwicklungsprozeß wird jedoch vorrangig
durch evolutionäre Momente bestimmt, denn die künftig
leitende Lebensordnung bildet sich auf Grund der partiellen Überlagerung
der Zeitalter im Schöße der alten bereits allmählich heraus
. Der primär evolutionäre Charakter der Entwicklung zeigt
sich auch an der schrittweisen Weiterentwicklung der einzelnen
Lebensordnungen, die an sich je einem der drei Zeitalter ihr Gepräge
geben, im Rahmen der ihnen gesetzten spezifischen Grenzen auf
ein geistliches Leben hin. Daraus resultiert auf Grund subjektiver
und objektiver Erfordernisse eine große Vielfalt von Lebensformen
in der menschlichen Geschichte, die erst an deren Ende
durch eine einheitliche vollkommene Ordnung abgelöst wird.

Geschichtlich relevantes Handeln ist folglich nur im Einklang
mit der von Gott in die Geschichte gelegten Gesetzmäßigkeit möglich
. Diese Gesetzmäßigkeit sucht Joachim auch durch seine Konkordanzenlehre
aufzuzeigen, die die Geschichte als ein höchst kunstvolles
Geflecht von Entsprechungen verstehen lehrt, aus dem der
einzelne seinen eigenen Standort in der universalen Entwicklung
präzise bestimmen kann.

Das Konkordiendenken läßt gleichzeitig die gesamte bisherige
Geschichte als eine Geschichte von Kriegen und Auseinandersetzungen
betrachten, so daß sich der geschichtliche Fortschritt nicht
geradlinig und konfliktlos, sondern in ständigem Kampf vollzieht,
der in den Schlußabschnitten des 1. und 2. Status jeweils den
Charakter einer totalen Bedrohung annimmt. Im Zusammenhang
mit der jeweils ständigen Verschärfung des Kampfes kommt es in
der zweiten Hälfte beider Zeitalter auch zu immer stärkeren Verfallssymptomen
. Der Abfallsgedanke findet aber auch darin seinen
Ausdruck, daß Joachim in einem anderen Geschichtsschema vom
Abfall der Juden an der Wende zum 2. Status und vom Abfall der
griechischen Kirche im Verlauf des 2. Status spricht. Durch den
Abfall des bisherigen Heilsträgers geht die Aufgabe der Weiterentwicklung
der spezifisch geistlichen Lebensform jeweils auf
einen neuen Repräsentanten, im letzteren Falle die römische Kirche,
über. Die Rückkehr der Abgefallenen führt aber im 3. Status zur
Schaffung der universalen geistlichen Kirche. Doch ersetzt Joachim
nicht die Erwartung eines himmlischen Lebens durch die Hoffnung
auf ein vollkommenes irdisches Leben, sondern betrachtet den

3. Status nur als kurze Übergangsphase zur himmlischen Herrlichkeit
. Indes richtet sich Joachim völlig auf die erwartete irdische
Zukunft aus, weil erst sie den Beweis der Richtigkeit des Glaubens
erbringen wird.

Joachim geht nicht von allgemeinen Wahrheiten oder zeitlos
gültigen sittlichen Leitbildern aus, sondern denkt streng geschichtlich
. Das führt bei ihm durchaus nicht zu einer Relativierung aller
Werte, wohl aber dazu, alle theologischen Aussagen und konkreten
Verhaltensweisen aus dem jeweiligen Standort in der heilsgeschichtlichen
Entwicklung, also aus den realen Bedingungen
der Zeit, abzuleiten.

In seiner Hermeneutik geht Joachim von der patristisch-
scholastischen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn aus, macht diese
aber völlig seinem heilsgeschichtlichen Entwicklungsdenken dienstbar
. Er denkt sich das Nebeneinander der unterschiedlichen
Schriftsinne nicht als das zeitlos gültiger verschiedener Verständnismöglichkeiten
biblischer Texte, sondern als Nebeneinander

unterschiedlich entwickelten Verständnisses des eigentlichen Tiefengehaltes
eines Textes. Die niederen Sinne wie der historische und
typologische werden deshalb nur dann recht gebraucht, wenn sie
als zeitbedingte und also vergängliche Zugangsformen zum Text
im Dienst der Öffnung höherer Zugangsformen betrachtet werden
.

Indem Joachim nur „geistliche" Verständnismöglichkeiten annimmt
, spiritualisiert er aber die Aussagen der Texte nicht zugunsten
einer „mystischen" Tiefenschau, sondern ordnet sie dem
heilsgeschichtlichen Entwicklungsstrom ein, sucht also ihren historisch
verbindlichen Aussagegehalt zu verdeutlichen. Dabei werden
selbst die auf Christus bezogenen Aussagen in Aussagen über die
christliche Gemeinde der Folgezeit umgewandelt. In ihrem wörtlichen
Verständnis behält er einmal eine Reihe prophetischer und
apokalyptischer Texte bei, denen er vorrangig das Wissen um das
Geschehen der Zukunft entnimmt, zum andern dem mönchischen
Demutsideal entsprechende sittliche Imperative und Beispielerzählungen
beider Testamente.

Wulff-Woesten, Hanspeter: Der theologische Werdegang Friedrich
Rittelmeyers. (Eine Untersuchung der theol. .Metamorphose'
F. Rittelmeyers unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses
der Anthroposophie Steiners auf sein homiletisches
Werk). Diss. Jena 1968. Bd. I: Text, 115 S.; Bd. II: Anhang (Abkürzungsverzeichnis
, Anmerkungen, Literaturverzeichnis) 61 S.
Die vorliegende Studie will historisch und konfessionskund-
lich die Motive für den inneren und äußeren Werdegang Rittelmeyers
aufzeigen und dessen theol. Metamorphose im Blick auf
sein späteres Denken analysieren. Sie will Klarheit über Diskontinuität
und Kontinuität im Leben und Werk Rittelmeyers gewinnen
und die Anregungen für Theologie und Kirche herausstellen
.

Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil („Voraussetzungen
für Rittelmeyers theol. Werdegang", S. 8—51) zeigt Vf.
auf, daß Rittelmeyers Leben in engem Zusammenhang mit seiner
Zeit, seinen .Weggenossen', seinen Lehrern und mit den ihn
beschäftigenden Wissenschaften steht. R. selbst hat für seinen
Lebensgang unter Verwendung des Ich-Begriffs eine Dreiteilung
gefunden: I. „Ich suchen", II. „Ich finden", III. „Aus dem Ich
wirken" (I.Kap.). Zeitlich fixiert heißt das: Die erste Periode
umfaßt die theosophisch-anthroposophischen Ahnungen in den
Voraussetzungen für R.s theol. Wandlung von 1890 bis zur Begegnung
mit Steiner 1912. Der zweite Zeitabschnitt umschließt
die Ausformung seiner Theologie durch R. Steiner von 1911/12 bis
zur Gründung der Christengemeinschaft 1922. Die dritte Periode
enthält die Zeit der Hinwendung des Berliner Pfarrers Rittelmeyer
zur Anthroposophie Steiners von 1915/16 und sein ausschließliches
Wirken im Sinne Steiners vom Jahre 1922 bis zu seinem
Tode 1938. — Im 2. Kap. bemüht sich Vf. zu zeigen, daß neben
den biographischen Voraussetzungen weitere Wurzeln für die
Wandlung R.s in seinem wissenschaftlichen Werdegang und in
seiner Veranlagung vorliegen. So gewinnt seine Beschäftigung
mit der Philosophie (bes. Fichte und Nietzsche), Religionswissenschaft
(Buddhismus, Gnosis, Theosophie) und Theologie (bes. Johannes
, Luther und Joh. Müller) für ihn eine große Bedeutung.
Dazu beeinflussen ihn vornehmlich seine psychosomatische Konstitution
und die Prophetensehnsucht seiner Zeit. Stärksten Einfluß
übt auf R. aber der Anthroposoph Steiner aus.

Die theol. Grundaussagen des frühen R. (2. Teil, S. 52—76)
bewegen sich zumeist im Spannungsfeld der liberalen' Theologie
. Doch wird schon hier eine langsame Umorientierung sichtbar
. — Im 3. Teil der Studie („Rittelmeyers theol. .Metamorphose'",
S. 77—111) werden die Anthroposophie und ihr Begründer Rudolf
Steiner (1. Kap.) und vor allem die Frage nach Bruch oder Kontinuität
(2. Kap.) behandelt. Es wird eine Kontinuität in der geistigen
Entwicklung R.s im Sinne einer echten Metamorphose, eines
,Zu-sich-selbst-Kommens', festgestellt. Als Ergebnis der Dissertation
ergibt sich: 1) Rittelmeyers Weg zu Steiner ist geradlinig
. Der berühmte ev. Prediger ist keiner ,Suggestion' Steiners
zum Opfer gefallen. — 2) Der äußere Bruch 1922 war kein
innerer Bruch! Eine Diskontinuität im theol. Werdegang R.s
ist nur vordergründig, da das später so scheinbar Neue: Betonung
von Kultus und Sakrament etc. schon latent im theol. Gedanken-