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Ausgabe:

1970

Spalte:

314-316

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Wendelborn, Gert

Titel/Untertitel:

Geschichtstheologie und Hermeneutik im Werk des Joachim von Fiore 1970

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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313

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 4

314

lieh ursprünglich titellose Schrift, die auf ein griechisches Original
zurückgeht. Es ist weder ein Florilegium gnostischer Sprüche und
Gedanken, noch ein Brief, noch eine Abhandlung im strengen Sinne.
Vielmehr weisen Stil, einheitliche Denkstruktur und Bilderwelt auf
die Abfassung durch einen Autor, der sich verschiedenartigen
Traditionsstoffes bedient, ihn jedoch persönlich, wenn auch nicht
immer glücklich, gestaltet. Das EvPh ist eine Lehr- und Mahnschrift
, die in lockerer Abfolge ohne streng thematische Bindung
in der Durchführung die gnostische Botschaft in den verschiedensten
Redeformen darbietet. — Das stark vertretene jüdische Element
erklärt sich teils aus valentinianischer Schulüberlieferung,
teils aus der (diaspora-)jüdischen Herkunft des Autors und seiner
ersten Leser. Entstehungsort ist vermutlich das griechischsprachige
Westsyrien (Antiochien?); Entstehungszeit: 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts
. Die Übersetzung ins Koptische erfolgte wohl im 3. Jahrhundert
. Die neutestamentlichen Zitate setzen den griechischen
Text voraus; die Vertrautheit des Übersetzers mit einer koptischen
Bibelübersetzung ist im Gegensatz zum EvTh nicht nachweisbar.

Teil II (»Gnosis und Kultus") sucht den prinzipiellen Unterschied
zwischen gnostischer und kultischer Heilsaneignung herauszuarbeiten
, um eine Grundlage für die Beurteilung der Bedeutung
sakramentaler Akte in gnostischen Gemeinschaften zu schaffen.
Nach einem Überblick über den Befund in den Nag Hammadi-
Schriften bezüglich kultischer Akte folgt eine kritische Darstellung
der Forschung von Baur bis Jonas zum Problem .Gnosis und
Mysterienkulte". Dieses ist in der genannten Forschungsepoche
nicht scharf genug gesehen oder völlig ignoriert worden. Im Ansatz
sind beide Bewegungen jedoch grundverschieden: der Myste erfährt
durch das kultische Geschehen eine Verwandlung (Vergottung
), während der Gnostiker durch den Empfang der Gnosis
seiner verdeckten und vergessenen Gottheit als seiner eigentlichen
Substanz wieder inne wird. Obwohl die Gnostiker von diesem
Ansatz her weder der religiösen Gemeinschaft noch der Kultpraxis
bedurften, organisierten sie sich faktisch zumeist in bestimmten
Gruppen, und zwar in Anlehnung an Philosophenschulen, Mysterienvereine
oder jüdische bzw. christliche Gemeinden. Da die Gnosis
als Daseinshaltung nicht kultfeindlich, sondern .kultneutral"
war, war die Stellung der einzelnen gnostischen Gruppen zum
Kult unterschiedlich. Diejenigen, die die christliche Kultpraxis nicht
von vornherein ablehnten, haben sie teilweise oder ganz übernommen
und ihrem Denken dienstbar gemacht oder durch Steigerung
und Ausbau überboten. Zu den letzteren gehören auch die
Gnostiker des EvPh.

Der Hauptteil der Arbeit (III: .Die Sakramente im EvPh") beginnt
mit einer Untersuchung des Begriffs uuoTrjpi,ov im EvPh. Er
ist nicht terminus technicus für das Sakrament oder die sakramentale
Handlung, sondern meint das Verborgene, nicht jedermann
Zugängliche. Er begegnet vorwiegend im Kontext von Hochzeit
und Brautgemach. Die in § 68 genannten kultischen Akte (Taufe,
Salbung, Eucharistie, Erlösung, Brautgemach) haben Sakramentscharakter
, insofern sie als .Symbole und Abbilder" der verborgenen
himmlischen Welt Anteil an ihr haben und kraft der ihnen
innewohnenden Qualität diese weiter zu vermitteln vermögen.

Die fünf Sakramente werden nacheinander durch Exegese der
in Frage kommenden Paragraphen herausgearbeitet, wobei philologische
, religions- und liturgiegeschichtliche Probleme z. T. ausführlich
behandelt werden. Taufe und Salbung bilden den
Initiationsakt. An einer Diskreditierung der Taufe hat das EvPh
kein Interesse, wenn auch seine Spekulationen stärker der Salbung
gelten. Den Hintergrund für das Verständnis beider eng zusammengehörender
Sakramente bildet die valentinianische Christologie. —
In Brot und Kelch der Eucharistie ist die himmlische Syzygie
Christus — Heiliger Geist geheimnisvoll gegenwärtig; durch Essen
und Trinken wird die eschatologische Vereinigung des Gnostikers
mit seinem Urbild-Engel antizipiert. Die durch den Empfang der
geistlichen Nahrung vermittelte pneumatische Substanz vermag
sogar den Leib mit Pneuma zu durchdringen, so dafj dieser der
Auferstehung würdig wird. — Über die .Erlösung" läßt sich
wegen der Dürftigkeit der Hinweise wenig Sicheres sagen. Vermutlich
handelte es sich um einen Salbungsritus, der der Brautgemachzeremonie
voranging und den Sinn hatte, überirdische Kraft
zu verleihen und den Aufstieg ins Pleroma zu garantieren. — Als
Abbild der prototypischen himmlischen Syzygien und als Antizipation
des eschatologischen Einswerdens im himmlischen Brautgemach
, in dem die Identität endgültig zurückerlangt wird, feierten
die Gnostiker des EvPh das Sakrament des Brautgemachs,
das alle anderen Sakramente an Bedeutung weit überragt. Die zentrale
Rolle der Christologie und die am Stichwort „Vereinigung"
orientierte Soteriologie ist evident: Christus .offenbarte" das Brautgemach
, um die Trennung des aus der Einheit herausgefallenen
Menschen wieder rückgängig zu machen. Der Ritus ist nicht mehr
rekonstruierbar. Er bestand jedoch nicht (wie allgemein angenommen
wird) in einem Kuß, den der .Myste" vom .Mystagogen"
erhielt, da die darauf bezüglichen Paragraphen des EvPh mit dem
Brautgemach nichts zu tun haben; erst recht nicht im Vollzug geschlechtlicher
Gemeinschaft. Es spricht vieles dafür, dafj das Brautgemachsakrament
das Sterbesakrament darstellte, das den Sterbenden
nach seinem Tode für die feindlichen Mächte des Zwischenreiches
unangreifbar machen und ihn seiner endgültigen Rettung
versichern sollte.

Wendelborn, Gert: Geschichtstheologie und Hermeneutik des Joachim
von Fiore. Habil.-Schrift Jena 1969. V, 308 S. und 407 S.
Anm.

Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, erstens sämtliche
Aspekte der Geschichtstheologie des kalabresischen Abtes Joachim
von Fiore (gest. 1202) systematisch darzustellen, zweitens den
innigen Zusammenhang von Geschichtstheologie und Hermeneutik
aufzuweisen. Darauf ergibt sich entsprechend den aufgewiesenen
fünf Grundlinien der Geschichtstheologie Joachims folgende Gliederung
: A. Joachims Schemata zur Einteilung der Geschichte und
zur Bestimmung des geschichtlichen Fortschritts. I. Die Einteilung
mittels des 6- bzw. 7-Schemas (S. 1—5). II. Die Einteilung mittels
des Dreier-Schemas und seine grundlegende Bedeutung für Joachims
Geschichtstheologie (S. 5—32). B. Die Wiederholung geschichtlicher
Abläufe und die Ähnlichkeit geschichtlicher Personen in den einzelnen
Phasen des Ablaufs der drei großen Zeitalter. I. Die Parallelität
der Kämpfe, Niederlagen und Siege in den sechs Epochen des
1. und 2. Status (S. 32—76). II. Joachims Zahlenspekulationen im
Rahmen seines Konkordien-Denkens (S. 76—85). C. Das initiatio-
fructificatio-Schema und die allmähliche Entwicklung der geistlichen
Lebensformen. I. Die Unterscheidung einer Anfangs- und
Blütezeit in den einzelnen Status (S. 86—91). II. Die allmähliche
Entwicklung der geistlichen Lebensformen im 2. Status und ihre
Weiterentwicklung im 3. Status (S. 91—126). D. Die Einheit der drei
trinitarischen Personen und die sich aus ihr ergebenden geschichts-
theologischen Folgerungen. I. Die Einheit und das Zusammenwirken
der drei göttlichen Personen (S. 126—132). II. Die Anfänge der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes im 1. Status (S. 132—135). III.
Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes im 2. Status (S. 135—152).
E. Berufung, Abfall und Wiederkehr. I. Der Übergang der Verheißung
vom jüdischen Volk zu den Heiden (S. 135—161). II. Die
Berufung der Griechen und der Übergang des Heils zu den Römern
(S. 161—169). III. Die Rückkehr der Griechen und Juden zum Heil
und die Schaffung der einen endzeitlichen Kirche Gottes (S. 169—
173). Daran schließt sich noch F. Die kirchliche Struktur des
3. Status und der Übergang zur himmlischen Herrlichkeit. I. Die
kirchliche Struktur des 3. Status (S. 173—193). II. Die letzte Verfolgung
des Antichrists am Ende des 3. Status, der endgültige Sieg
Christi und der Übergang zur himmlischen Herrlichkeit (S. 193—
204). Der Zweite Teil: Die Hermeneutik des Joachim von Fiore
untergliedert sich folgendermaßen: A. Joachims hermeneutische
Grundregeln. I. Joachims Anpassung der Lehre von den verschiedenen
Schriftsinnen an seine geschichtstheologische Intention (S.
204—222). II. Der Gegensatz von Buchstabe und Geist und die geschichtliche
Bedingtheit der einzelnen Schriftsinne (S. 222—242). B.
Die Hermeneutik als Mittel zur Verifizierung der Geschichtstheologie
. Einleitung: Zur Bedeutung des Prophetischen bei Joachim
(S. 243—247). I. Die Anweisungen der Bibel für ein dem Willen
Gottes entsprechendes Leben im 2. Status (S. 247—252). II. Die Deutung
biblischer Aussagen als offener oder verschlüsselter geschichts-
theologischer Darlegungen (S. 252—292). Den Abschluß bildet der
Anhang: Zur Quellenfrage (S. 292-308).

Joachims Geschichtstheologie, die mit seiner Gesamttheologie
nahezu identisch ist, erweist sich als ein sehr komplexes Gebilde
von verwirrender Vielfalt, gleichwohl aber von bewundernswerter
Geschlossenheit. Dominierend in ihr ist die Gewißheit eines in