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Ausgabe:

1970

Spalte:

305-307

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Schuberth, Dietrich

Titel/Untertitel:

Kaiserliche Liturgie 1970

Rezensent:

Albrecht, Christoph

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 4

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Ein weiterer Abschnitt sucht Anhaltspunkte für eine Lokalisierung
oder Datierung aus der Benennung des S.s nach dem Ort
Biasca im Tessin zu gewinnen. Dieser Ort liegt dort, wo der Brenno
in die Val levantina eintritt, eines der »drei Täler", in welchen bis
um die Mitte des 12. Jh.s das mailändische Domkapitel herrschte
und damit die mailändische Liturgie maßgebend war. Andererseits
ist jedoch der Zeitpunkt der Schenkung der „Valli" an das Domkapitel
strittig, so daß sich von hier aus keine sicheren Anhaltspunkte
für die Datierung oder für die Ursprünglichkeit der Lokalisierung
gewinnen lassen. Wohl ist die Hs. für eine „plebs" (= Landgemeinde
) geschrieben, aber es bleibt fraglich, ob wirklich für
Biasca oder ob sie erst später vom Kapitel von Biasca erworben
wurde. Ja, man kann sogar fragen, ob sie je in Biasca liturgisch benutzt
wurde. Der Hrsg. deutet anmerkungsweise auf eine andere
Möglichkeit hin. Jedenfalls kam sie aus der Bibliothek des Grafen
Crivelli, der 1775 Feudalherr in den „Quatro valli" wurde, schon
1776 als Missale von Biasca in die Ambrosiana.

Nach Ausführungen über edierte Texte des S.s und Abbildungen
daraus wird der Zustand der Hs. beschrieben. Der ursprüngliche
Einband ist nicht erhalten. Die Alths. besteht aus 38 Lagen,
von welchen die letzte unvollständig ist, der jüngere Anhang aus
nur einer Lage, während eine weitere verlorenging. Das Pergament
ist schlecht bearbeitet und stellenweise schadhaft. Die Blattgröße
mit je 21—28 Zeilen variiert. Die Hs. ist in karolingischer Minuskel
von zwei Händen geschrieben, wobei von der kleineren korrekteren
Schrift der zweiten Hand nur ein Teil der letzten Lage
stammt. Die Ausmalungen des »V" im „Vere quia dignum" und des
„T" im „Te igitur' sind primitive Kopien einer künstlerisch gestalteten
Vorlage. Der Anhang stammt von einer dritten Schreiberhand
. Vortragsakzente sind von der ersten Hand einigen Lesungen
eingefügt. Die Hs. ist durchnumeriert.

Dem S. ist als Schutzblatt ein falsch gefaltetes Doppelblatt aus
einer — wohl stadtmailändischen — Hs. vorgeheftet, die um das
Jahr 1000 oder in die erste Hälfte des 11. Jh.s zu datieren ist. Der
Editor gibt den Text dieses Fragments, größtenteils Formulare des
3. S. n. Pfingsten oder von Mittpfingsten.

Auch diese Edition folgt im allgemeinen den Editionsregeln
von K. Mohlberg.

Diese — jedenfalls nach Klaus Gamber — „bedeutendste Hs. des
ambrosianischen Typus" in einer derart mustergültigen Ausgabe
zugänglich zu haben, verpflichtet alle an der Forschung Beteiligten
gegenüber dem Herausgeber und seinen unermüdlichen Helferinnen
zu großem Dank, zumal uns bewußt ist, wieviel Probleme
gerade die mailändische Liturgie als solche wie in ihrem Verhältnis
zur stadtrömischen uns noch immer aufgibt.

Greifswald William Nagel

Schuberth, Dietrich: Kaiserliche Liturgie. Die Einbeziehung von
Musikinstrumenten, insbesondere der Orgel, in den frühmittelalterlichen
Gottesdienst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
(1968). 155 S., 4 Taf. gr. 8° = Veröffentlichung der Evang. Gesellschaft
für Liturgieforschung, hrsg. v. O. Söhngen, 17. Kart. DM
19.80.

Die zentrale These der Abhandlung („Die Reichskirche ist es,
in der Musikinstrumente in die Liturgie einbezogen werden. Sie
kommen als Zubehör des Herrschers, ja mehr, als dessen Kennzeichen
, als Glanz der christlichen Kaiserherrschaft in den Gottesdienst
" S. 16) wird in drei Kapiteln entfaltet und begründet: I. Der
Anteil von Musikinstrumenten an der römischen Kaiserehrung. —
II. Instrumente am Kaiserhof in Konstantinopel. — III. Die Einbeziehung
von Musikinstrumenten in die Liturgie des Westens.

I. „Anlässe und Orte für den Gebrauch von Musikinstrumenten
(adventus, triumphus, pompa; circus, arena, theatrum) sind gleicherweise
Anlässe und Orte für Akklamationen. Dort erscheint der
Kaiser in der Öffentlichkeit, dort umgibt ihn das Zeremoniell, das
die Lobpreisungen einschließt" (38). Diese Lobpreisungen wurden
in musikalischer Form unter Einbeziehung von Instrumenten vorgetragen
. Als besonderes Prunkinstrument galt in der Antike das
Organon. Die Entwicklung der Hydraulis (Wasserorgel) wird anhand
der literarischen Zeugnisse vom 3. vorchristlichen Jahrhundert
an skizziert. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.
läßt sich das Organon mit Sicherheit als Instrument in der kaiserlichen
Prozessionsmusik nachweisen. Mit dem Beginn der Reichskirche
bekommt die Kaiserakklamation, die schon vorher stark
religiös gefärbt war, den Charakter christlichen Gebetes und der
Fürbitte — auch beim Erscheinen des Kaisers im Zirkus. „Die Frage
nach den Voraussetzungen für die Einbeziehung von Musikinstrumenten
in die Liturgie — angesichts der überwiegend ablehnenden
Haltung der alten Kirche — findet eine erste Antwort in der Christianisierung
des römischen Kaiserzeremoniells. . . . Noch ist nicht die
Einbeziehung der Instrumentalmusik in die eigentliche kirchliche
Liturgie erhellt, sondern vorläufig erst ihr Anteil am Glänze einer
Kaiserherrschaft, die sich, mit Konstantin beginnend, als christlich
versteht" (55).

II. Das alte byzantinische Zeremonienbuch ist die Hauptquella
für den zweiten Teil der Untersuchung. Das Organon wird fester
Bestandteil der Kaiserzeremonien. Es wird sogar trotz der Umständlichkeit
des Transportes als wesentliches kaiserliches Zere-
monialgerät auf Reisen mitgeführt. Im 9. Jahrhundert ist es technisch
so weit durchgebildet, daß es im byzantinischen Palast als das
Kpur6docuua, als Hauptwunderwerk, bezeichnet wird. Ob es sich
um Empfänge am Hof oder um Veranstaltungen auf der kaiserlichen
Pferderennbahn oder im Zirkus handelt: in allen „Protokollen
zeigt sich, daß in Byzanz das Organon das kaiserliche Instrument
ist* (61). Interessant sind die liturgischen Einleitungen etwa
der Zirkusspiele mit einem Dreifaltigkeitshymnus (Schuberth
bringt einige Beispiele vom Beginn des 8. Jahrhunderts). Bei der
„Frage nach der Einbeziehung von Instrumenten in die Liturgie . . .
läßt uns . . . das Zeremonienbuch im Stich. . . . Die Protokolle ...
reichen stets nur bis zur Kirchentür" (87). So wie zahlreiche
Elemente des kaiserlichen Zeremoniells (z. B. Gewänder, Weih
rauch, Kerzen, Apsis mit Thron) in die kirchliche Liturgie einwandern
, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit schon in der früh- und
mittelbyzantinischen Periode mit der Einbeziehung der Orgel in
die Liturgie zu rechnen, für die aus spätbyzantinischer Zeit sichere
Zeugnisse vorliegen. Die Kaiserakklamation in der Kirche bedingt
geradezu die Instrumentalmusik im Gottesdienst. „Zeremonial-
geschichtlich ist die .kaiserliche Liturgie' Konstantinopels ... das
Bindeglied zwischen der altrömischen Hofmusik und der instrumental
-mehrstimmigen Musik der mittelalterlichen Kirche" (93).

III. Nach Ausführungen über die im Frankenreich fortbestehende
antike Mittelmeerkultur (speziell die Instrumentalmusik
) und einem Exkurs über das am Königshofe mit Begleitung
der „Rotte" (eines alten Saiteninstrumentes) vorgetragene germanische
Heldenlied untersucht Schuberth die Zeugnisse über das
Organum am fränkischen Hofe, beginnend mit der Organon-Schen-
kung des byzantinischen Kaisers Konstantin V. an König Pippin im
Jahre 757. „Ein Herrschaftszeichen wird verschenkt, und dieser Akt
hat den Rang einer Verleihung" (116). Mit dem Organon hielt auch
die „ars organandi" (S. 119; Annalen Einhards) im Frankenreich
Einzug. Schuberth hält es für wahrscheinlich, daß damit auch zugleich
die frühe vokale Organaltechnik (Anfänge der Mehrstimmigkeit)
gemeint sei. Wenn diese Hypothese richtig ist, hätten wir den Beginn
der mehrstimmigen abendländischen Musik reichlich 100
Jahre vorzudatieren. — Auch aus der Zeit Karls d. Gr. und Ludwigs
d. Frommen haben wir Nachrichten über das Organon, das nun
schon im Frankenreich gebaut wird. Die alte gemanisch-kithar-
odische Musizierpraxis wird am Hofe durch die neueOrganon-Musik
ergänzt bzw. abgelöst. Leider sind über die Art ihrer Verwendung
keine Zeugnisse (wie sie das byzantinische Zeremonienbuch enthält)
bekannt geworden. In der Karolingerzeit, spätestens am Ausgang
des 9. Jahrhunderts, wurde jedoch die Instrumentalmusik auch liturgisch
verwendet. Als „hypothetische Brücke von dem christlichhöfischen
Organum zum liturgischen Organum" (129) nennt Schuberth
die Akklamationen bei Gelegenheit eines Staatsvertrages in
der Aachener Pfalzkapelle im Jahre 812, bei denen das Organon
nachweislich verwendet wurde, ferner die sog. Krontage, an denen
die „laudes regiae" in die Liturgie eingefügt wurden. Es lag nahe,
den hierfür eingesetzten musikalischen Apparat auch für den ganzen
Gottesdienst zu verwenden. „Der Übergang der als Privileg
/erstandenen Hofmusik auf Bischöfe und Kathedralen* (134) ist
oin weiterer Ansatzpunkt für die gottesdienstliche Instrumental-

nusik.

„Die Instrumentalmusik ... .schleicht' sich nicht ein ..., sondern
sie kommt sozusagen durch die kaiserliche Pforte" (135). Dieser
Satz ist als Fazit der Untersuchung anzusprechen. Vieles läßt
sich nur hypothetisch sagen. Schuberth tut dies mit der gebotenen