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Ausgabe:

1970

Spalte:

288-289

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Scholl, Hans

Titel/Untertitel:

Der Dienst des Gebetes nach Johannes Calvin 1970

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 4

288

lesen, wobei letzteres noch vertieft werden kann durch die leicht
eröffnete Möglichkeit, die Darstellung durch Quellenstudium zu
prüfen. Ein Student der Theologie beispielsweise, der alle — bisweilen
sehr massiert plazierten — Stellen aus der Weimarer Lutherausgabe
oder dem Corpus Reformatorum nachschlägt, hat nicht nur
ein Buch gründlich durchgearbeitet, sondern dabei Erhebliches zum
Verständnis der Reformationsgeschichte gelernt. Viele wesentliche
Quellenstücke werden nicht nur summarisch eingeschätzt, sondern
zuvor vielfach relativ gründlich zitiert bzw. referiert. So geschieht
es etwa mit Luthers Schrift .De servo arbitrio" (S. 90 ff.), mit den
Zeugnissen zu Luthers Kirchenbegriff (S. 97 ff.), mit den Dokumenten
des Augsburger Reichstages 1530 (Confessio Augustana, Con-
futatio, Apologie, S. 142 ff.), mit dem Augsburger Religionsfrieden
(S. 176 ff.) etc. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, immer von
den Quellen her informiert zu werden, auch wenn diejenigen Zeugnisse
besonders herausgestellt werden, die für die römisch-katholische
Theologie damals wie heute virulent waren und sind.

Damit sind wir bei einem Thema, das nicht gut unterdrückt
werden darf. Adolf Herte hatte 1943 (Das katholische Lutherbild
im Bann der Lutherkommentare des Cochläus) an einem wesentlichen
Punkt signalisiert, da5 das römisch-katholische Lutherverständnis
in einer Wandlung begriffen war. Joseph Lortz hatte
bereits einige Jahre vorher in seiner zweibändigen Reformationsgeschichte
diesen Eindruck in extenso bestätigt. So ist eine Bewegung
seit mindestens 30 Jahren (nach Angabe einer kurzen
Stellungnahme vor dem Haupttitelblatt des vorliegenden Buches
schon seit 50 Jahren!) ausgelöst, die eine jahrhundertelange
Stagnation zugunsten eines anhaltenden Prozesses aufhebt. Vielleicht
ist der Tatbestand, daß die „Kleine Reformationsgeschichte"
hier den neuesten Forschungsstand zuverlässig markiert, die erfreulichste
Feststellung, die man in diesem Zusammenhang treffen
kann. Es werden Gegensätze, die auch heute unüberwunden sind,
nicht kaschiert; es ist auf der ganzen Linie eine erstaunliche Bereitschaft
sichtbar, die Fragestellungen der Reformatoren zu verstehen
und auch die faktische „Wirkung" der Reformation anzuerkennen.
Damit hängt zusammen, dafj — wie ebenfalls im Untertitel bezeichnet
— ihre „Ursachen" schonungslos aufgedeckt und in vielfältigem
Versagen der spätmittelalterlichen Institution Kirche gesehen
werden.

Wenn im Duktus der Darbietung nicht verschwiegen wird, was
römisch-katholische Theologie und Ekklesiologie auch heute noch
gegen die reformatorische Theologie einzuwenden haben, dann
wird nicht von den Voraussetzungen ausgegangen, aus denen
gegenwärtig schnelle Verständigungsmöglichkeiten resultieren
könnten, wie sie A. Adam etwa bei H. Küng konstatiert: „H. Küng"
hat „die Lehre des Tridentinums und die Anschauung K. Barths
über die Rechtfertigung miteinander verglichen und ist zu dem
Schlufj gekommen, daß .heute wieder grundsätzliche Übereinstimmung
besteht zwischen katholischer und evangelischer Theologie'"
(Lehrbuch der Dogmengeschichte, I., Gütersloh 1965, S. 26). Der
Weg, um zueinander zu kommen, erscheint in der Sicht von Lortz
und Iserloh länger als bei Küng. Für die beiden ersteren steht wohl
nicht allein die Ekklesiologie hindernd im Wege.

Die „Kleine Reformationsgeschichte" spiegelt jedoch nicht nur
die Forschungssituation unter den römisch-katholischen Historikern
wider, sie zeugt auch von einer ganz exquisiten in kaum
einem Punkt versagenden Sachkenntnis der evangelischen Forschungslage
. Das ist bewundernswert in einer Zeit, in der durch
die immer weitergreifende Verästelung des Wissenschaftsbetriebes
der Überblick dauernd schwieriger wird. Die ganze Vertrautheit
mit den in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung verhandelten
Themen geht bis hinein in die Beachtung der Nomenklatur.
Eine ausgezeichnete Übernahme des neu in den Blick getretenen
.linken Flügels der Reformation' (7. Kapitel) ist ebenso als Forschungsgegenstand
zur Stelle wie die vieldiskutierte Problematik
einer Wesensbestimmung des „Reformatorischen" (S. 311). Darüber
hinaus lernt man vieles deutlicher sehen, was in evangelischen
gleichartigen Darstellungen nur am Rande oder pauschal abgehandelt
wird: die katholische literarische Gegnerschaft, die die Reformation
erfahren hat (hier wäre freilich zu fragen, ob die Verfasser
deren faktische Bedeutung, besonders zu Anfang der Reformation,
nicht etwas überzeichnen), genauere Angaben zur Kontroverse
zwischen Papst und Kaiser, die den Verlauf der Reformation zumindest
indirekt sehr begünstigt hat, die interimistischen Verhandlungen
und Regelungen vor dem Augsburger Religionsfrieden
u. a. m.

Es wäre seltsam, wenn aus der Optik evangelischer Theologen
nicht viele Fragen offenblieben. Luthers Überwindung des mittelalterlichen
Denkansatzes, seine reformatorische Entdeckung, erscheinen
zu wenig in den Blick geholt, wobei gern zugestanden
werden soll, daß die Verfasser darauf hinzuweisen gehabt hätten,
wie uneinig man über Inhalt, Umfang und Zeitpunkt dieses fundamentalen
Ereignisses im Lauf von einigen Jahren auch in den
Studierstuben der Evangelischen urteilt. Dafj hier das Konstitutive
zur Begriffsbestimmung von „reformatorisch" zu suchen ist, sollte
deutlicher herausgehoben werden. Es geht m. E. auch nicht an, die
Kontroversen im innerreformatorischen Lager nicht präzise vom
gemeinsamen reformatorischen Ausgangspunkt her zu sehen und
dann sehr flächig hinsichtlich Luther, Müntzer und Karlstadt zu
fragen: „Was haben diese Männer gemeinsam darüber hinaus, dafj
sie sich gegen die überkommene kirchliche Ordnung gestellt
haben?" (S. 81).

In der summa ist zu sagen: Wenn sich römisch-katholische
Forscher so intensiv in die evangelischen Fragestellungen zur Sache
einarbeiten, dann haben evangelische Theologen ihren Dank dafür
so abzustatten, dafj sie mit gleicher Präzision den römisch-katholischen
Standpunkt zur Sache zur Kenntnis nehmen und bedenken.
Mögen viele durch dieses gute Buch angeregt werden, zu den beiden
größeren Werken der Verfasser zu greifen.

Berlin Joachim Rogqe

Scholl, Hans: Der Dienst des Gebetes nach Johannes Calvin. Zürich-
Stuttgart: ZwingliVerlag (1968). 316 S. 8" = Studien zur Dogmengeschichte
und systematischen Theologie, hrsg. von F. Blanke ■f.
A. Rieh, O. Weber f, J. Staedtke u. E. Jüngel, 22. Kart. DM 29.-.

Das Buch, die Druckfassung einer Berner Dissertation, reiht
sich würdig in die Reihe der Titel ein, die sich umsichtig und mit
Anteilnahme am Gegenstand um ein neues Calvinbild bemühen. In
drei großen Teilen: I. Die Lehre, II. Der Inhalt, III. Die Praxis, geht
es seinem Thema nach.

Calvins Lehre wird trinitarisch entfaltet: offenbarungstheologisch
, christologisch und pneumatologisch. Offenbarungstheologisch
geht es Calvin vor allem um die rechte Ordnung der Gottesverehrung
, die rechte Ordnung von Schöpfer und Geschöpf. Gotteserkenntnis
und Selbsterkenntnis sind auch hier Nerv christlicher
Lehre. Wie existenziell das verstanden ist, geht aus der von Sch.
immer wieder hervorgehobenen Tatsache hervor, daß für Calvin
der Kern der Lehre und Praxis im Gebet Buße und Sündenerkenntnis
sind. Dem gegenüber hat das Dankgebet „deutlich die Tendenz,
seinen Gebetscharakter abzustreifen und im Gottesdienst und im
Leben eines Christenmenschen aufzugehen" (42). Christologisch
setzt Calvins Gebetslehre ein bei Jesus Christus, dem Geoffenbarten
und Gehorsamen, der in seiner ascensio durch Selbstdarbietung
zur Gemeinschaft mit ihm und durch Fürsprache und Stellvertretung
rechtes Gebet erst ermöglicht. Hier wurzelt auch die eschato-
logische Ausrichtung des Gebets nach Calvin. Königliches und
priesterliches Amt Christi sind die tragenden Säulen christologi-
scher Lehre vom Gebet, wobei das priesterliche Amt noch besonders
hervorgehoben ist. Die Darstellung des Gebets unter dem Wirken
des Heiligen Geistes beginnt Sch. mit einer Analyse von Inst. III 3
und schließt daran die Untersuchung der Bedeutung von Rom 8 für
Calvins Gebetslehre an. Er hebt hier hervor, daß bei Calvin gerade
auf der geistgewirkten Erneuerung des Menschen und ihrer bewußten
Verrechnung für die Gebetslehre der Ton liegt. Der erste
große Abschnitt schließt bei Sch. mit Ausführungen über die Entwicklung
von Calvins Gebetslehre und über ihren theologischen
Gehalt, der darin gesehen wird, daß das Gebet für Calvin ein „Herzstück
all der kräftigen Spannungen" ist, „in denen seine Theologie
das Gegenüber von Gott und Mensch zeichnet". Denn Gebet ist die
Funktion des Glaubens, ist Heiligung, Akt der Hoffnung und gibt
auch der Prädestinationslehre einen spezifischen Stellenwert im
Rahmen der Theologie und des theologischen Denkens (S. 131 f.).

Der zweite Teil: Der Inhalt beginnt noch einmal mit Verweisen
auf das Gewicht der Verklammerung von Christologie und
Pneumatologie bei Calvin und geht dann zu Calvins Unser-Vater-
Auslegung über, die, zeitlich gegliedert, nach den einzelnen Bitten,
des Herrengebets vorgeführt wird. Sch. weiß hier eigentümliche