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Ausgabe:

1970

Spalte:

275-277

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin

Titel/Untertitel:

Nachfolge und Charisma 1970

Rezensent:

Gräßer, Erich

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 4

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falsche Propheten zurückgewiesen, wie sich aus den Eingriffen
(Voranstellung der markinischen Verse 1—4; sekundäre Rahmung
der Überlieferung durch Vv. 5b—6. 21—22 u. a.) und den Einfügungen
des Redaktors (z. B. redaktionelles „noch nicht" in v. 7) ergebe.
Darüber hinaus sei die markinische Redaktionsarbeit durch einen
paränetischen Grundzug beherrscht, wie aus den zahlreichen
Imperativen, aber auch aus der redaktionellen Umgestaltung etwa
von v. 14 hervorgehe (die Flucht soll nicht mehr, wie ursprünglich
gemeint, von „Jerusalem" auf die umliegenden Berge, sondern aus
„Judäa" herausführen; diese Angabe wäre also von dem Redaktor
nach der Tempelzerstörung „aktuell auf seine Gemeinde bezogen"
worden: S. 226). Und schließlich habe der Evangelist die überkommene
Naherwartung neu interpretiert, indem er durch die Verbindung
der apokalyptischen Vorlage mit den Verfolgungslogien
die apokalyptischen Ausführungen „in die Nachfolgetheologie
seines Evangeliums" einordnete (S. 227).

Zweifellos werden gegenüber diesem eigenwilligen Entwurf
Gegenfragen nicht ausbleiben. Zum Beispiel: Sind die Vermutungen
des Vf.s, die zur Entdeckung des genannten stichometrischen
Schemas führen, gegen den Vorwurf der „Künstlichkeit" ausreichend
geschützt, so daß ein entsprechender, bewußt ausgearbeiteter
Plan des Evangelisten und die nachträgliche Einfügung von Kapitel
13 in die vorausgesetzte Komposition überzeugend erschlossen
werden können? Ist die Frage, ob der Redaktor die Zerstörung des
Jerusalemer Tempels voraussetzt, bejahend zu beantworten, obwohl
die apokalyptische Rede, abgesehen von ihrer in dieser Hinsicht
mehrdeutigen Einleitung, die Tempelzerstörung nicht erwähnt
? Ist angesichts der Tatsache, daß die „polemisch-apologetischen
" Elemente im Verlauf von Mk 13 zurücktreten und der
Evangelist in seinem übrigen Werk eine Warnung vor falscher
Prophetie nicht ausspricht, der Vf. der Versuchung entgangen, das
apologetische Motiv für die Markusredaktion überzubewerten,
zumal Umfang und Verständnis der redaktionellen Arbeitsweise
zu Mk 13 im einzelnen umstritten bleiben und auch die Frage nach
der (juden-)christlichen Interpretation des jüdisch-apokalyptischen
Flugblattes, d. h. nach der Traditionsgeschichte der vormarkini-
schen Überlieferung in Mk 13 noch nicht ausdiskutiert ist (vgl.
S. 110 f. 216-218 u. ö.)?

Aber wie man auch diese und andere Fragen beantworten
mag — ausdrücklich anerkannt sei, daß die Konzeption des Vf.s
eine bemerkenswerte Geschlossenheit besitzt und ganz besonders
in der Verwendung der Sekundärliteratur mit eindringender Sorgfalt
vorgeführt wurde. Dieses Werk nimmt unter den vorhandenen
Studien zum Markusevangelium einen hervorragenden Platz
ein. Es zwingt auch denjenigen, der manchen Thesen des Vf.s
sich nicht anschließen zu können meint, zu kritischer Überprüfung
der eigenen Position.

Göttingen Georg Strecker

Hengel, Martin: Nachfolge und Charisma. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche
Studie zu Mt 8, 21 f. und Jesu Ruf in die Nachfolge.
Berlin :Töpelmann 1968. VIII, 116 S. gr. 8° = Beiheft zur Zeitschrift
f. d. neutestamentl. Wissenschaft u. die Kunde der älteren
Kirche, hrsg. v. W. Eltester, 34. Lw. DM 36.—.
Der vorliegenden Monographie liegt eine Tübinger Probevorlesung
zugrunde, mit der Hengel (im folgenden: H.) einen „Diskussionsbeitrag
. . . zur Frage nach dem historischen Jesus und in
besonderer Weise zum Problem der Nachfolge und Jüngerschaft"
geben will (S. V). Gemeint ist das so, daß die Lösung dieses
„Problems" möglicherweise etwas zur Beantwortung jener „Frage"
abwirft. Denn wenn je Nachfolge und Jüngerschaft zu den historisch
sicheren Daten der vita Jesu gehören (woran niemand zweifelt
), werden u. U. von ihrem Verständnis Rückschlüsse auf das
„Selbstbewußtsein" (74) des Mannes aus Nazareth möglich.

Die Probe aufs Exempel macht H. bei einer kleinen Einzel-
perikope: er analysiert in einem L Kap. Mt 8, 21—22 = Lc 9, 59—60
(„Laß die Toten ihre Toten begraben"). Solcher Detailarbeit wird
bei der gegenwärtigen Forschungslage niemand ihr Recht absprechen
, weil ein Fortschritt in der synoptischen Forschung tatsächlich
weitgehend von „Einzelanalysen kleiner Einheiten" abhängt
, „die im Gegensatz zu Ermessensurteilen wirklich begründen
und auch die völlig unübersichtlich gewordene Literatur aufarbeiten
" (3. A. 6). Die dennoch fällige Erklärung dafür, warum gerade

dieses Logion „paradigmatisch für alle anderen" (!) (3) untersucht
werden kann, gibt H. nicht dierekt, sondern nur indirekt durch das
Ergebnis seiner sehr sorgfältigen redaktions- und formgeschichtlichen
Analyse: Mt 8,22 ist mit seiner unerhörten Attacke auf
Gesetz, Frömmigkeit und Sitte von „einzigartige(r) Anstößigkeit"
(16). Eben diese Originalität verleiht dem Logion das Siegel der
Echtheit und führt also bei der Suche nach dem historischen Jesus
auf eine heiße Spur.

Daß H. grundsätzlich diese Methode befolgt, wird durch den
Fortgang seiner Untersuchung zur Gewißheit erhoben. Denn ein
IL Teil stellt „Religionsgeschichtliche Erwägungen zum charisma-
tisch-eschatologischen Hintergrund von Jesu Ruf in die Nachfolge"
an (18—40) mit dem Ergebnis: gewisse Analogien gibt es überall
(besonders I Reg 19,19—211 Berufung Elisas durch Elia), aber
nirgendwo „eine zureichende Parallele" (40). Folgerichtig dient
Kap. III dem Nachweis, daß „Die charismatisch-eschatologische
Eigenart des Rufes Jesu in die Nachfolge" (41—93) schlechthin
analogielos ist, weder vom rabbinischen Lehrer-Schüler-Verhältnis
her verstanden werden kann, noch vom Charismatiker und Nachfolger
in der hellenistischen Welt (27 ff.), noch vom „apokalyptisch-
zelotischen Prophetentum" (63 ff.). Selbst die einzig „echte Analogie
", die Berufung der atl. Propheten durch Gott selbst (98), wird
gesprengt: Gott beruft mittelbar (durch einen Propheten oder
durch eine Vision), Jesu Ruf geschieht „kraft eigener — m e s s i a -
nischer — Vollmacht" (19). Für den historischen Jesus besagt
das: „Weder mit der Bezeichnung Jesu als .Rabbi' noch als
Weisheitslehrer und Prophet wird man diesem unerhörten Selbstbewußtsein
gerecht . . ." (74; vgl. 97). Gerade „die einzigartige
Weise, in der Jesus einzelne zum ,Nachfolgen' berief", d. i. „den
einzelnen Gerufenen — unter bedingungslosem Bruch mit allen
Bindungen — ... in die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit
ihm selbst und damit zugleich in den Dienst für die Sache der
Basileia" hineinstellte (98), gerade das ist Ausdruck einer „unableitbaren
Vollmacht", die „nicht besser als ,messianisch' bezeichnet
werden" kann (78; vgl. 98). Auf einen Begriff gebracht, schlägt H.
als neuen Hoheitstitel den des „eschatologischen Charismatikers"
vor (76. 77).

Nun, das alles ist — vom Titel abgesehen — weder von der
Methode (schon Conzelmann suchte im Verhältnis Jesu zu seinen
Jüngern das Spezifische des jesuanischen Selbstbewußtseins) noch
vom Ergebnis her (die besondere Vollmacht Jesu durchbricht alle
religionsgeschichtlichen Analogien) wirklich neu. Es hebt sich aber
vor dem mit immensem Fleiß und großer Belescnheit zu einem
„religionsgeschichtlichen Hintergrund" zusammengetragenen Material
schärfer ab und ist insofern verdienstvoll. Zwei kritische Fragen
von grundsätzlicher Bedeutung erheben sich dennoch: 1. Gegen
Ende des Buches werden einige weitgreifende Hypothesen die
„.Kontinuität' zwischen dem Handeln Jesu und dem späteren Handeln
der Gemeinde" betreffend aufgesellt (92 f.), leider nur en
passant und ohne explizite Diskussion. Sie umgreifen z. B. so
gewagte Vermutungen wie diese, daß der Traditionsprozeß der
Logien Jesu „schon zu Lebzeiten Jesu eben durch die Aussendung
in Gang kam" (91), um sich später, nach untrennbarer Verschmelzung
mit Gemeindebildungen, als Q-Quelle niederzuschlagen (91;
vgl. 93. 97). Oder: Das „Amt des .Apostels'" geht „von der Sache
her gesehen auf Jesu Jünger-Berufung und -Aussendung selbst
zurück und bildete die eigentliche Frucht von Jesu Ruf in die Nachfolge
" (92). Selbst Paulus steht mit Aussagen wie 1 Kor 3,9
C&eov y&p loiitv ouvcpYot) oder 2 Kor 5, 20 (Wp XpLcnroü oi5v 7ipco8e0o|iev
<J>£ 9eoü uapu-HoXoCvroc, 6i ^iiSv) „ — bewußt oder unbewußt (!) — direkt
in der Linie jenes Geschehens, das Jesus durch seinen Ruf in die
Nachfolge und seine Jüngeraussendung eingeleitet hatte" (93).
Oder: Sowohl die urchristliche Mission, als auch die Ausbildung
der Jesustradition, „die dann später in den Evangelien ihren Niederschlag
fand", hat in der „Berufung einzelner Jünger in den
Dienst für die anbrechende Gottesherrschaft durch Jesus selbt einen
ersten Ansatzpunkt" (99). — Vielleicht hat H. mit einigen dieser
Vermutungen sogar recht. Aber man wird sagen müssen: Wenn
die Untersuchung ihre Ziele so weit steckt, dann ist sie in Anlage
und Durchführung zu schmal angelegt. 2. H. wehrt sich gegen eine
„radikale methodische Skepsis", die schließlich dazu führe, „daß
über den historischen Jesus im Grunde nur noch allgemeine Selbstverständlichkeiten
ausgesagt werden können". Dem will er durch
Erarbeitung solcher Kriterien begegnen, die es uns erlauben.