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Ausgabe:

1970

Spalte:

219-222

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kirche, Mystik

Titel/Untertitel:

Heiligung und das Natürliche bei Luther 1970

Rezensent:

Löfgren, David

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219

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 3

220

Dictata die Häresiegefahr in der Kirche seiner Zeit: Statt der
theologia crucis herrschen pax und securitas. Die mönchische
humilitas ist oft versteckte superbia. Von da aus kritisiert
Luther auch die Observanz, obwohl er selbst zu den Observanten
gehört hatte. Er beobachtet bei ihnen superbia spiritualis;
Gehorsam ist besser als Observanz. So hat sich bereits bei dem
Luther der ersten Psalmenvorlesung der traditionelle Häresiebegriff
grundlegend gewandelt, wie zusammenfassend an 6 Punkten
gezeigt wird (106f.).

In der Zeit der Kömer- und Galaterbrief-Vorlesungen orientiert
sich das Häresieproblem ganz an der Frage nach der Gerechtigkeit
Gottes (110). Stärker noch als bisher tritt der „exi-
stentiale Charakter" der Häresie in den Vordergrund (113).
Der Häretiker kann moralisch völlig intakt sein, aber er sucht
sein Heil in seiner eigenen Gerechtigkeit und Heiligkeit. Luther
geht der superbia bis in ihre feinsten psychologischen Verästelungen
nach. Superbia kann das Gefühl, im Besitz der Gnade zu
stehen, sein; superbia kann sich unter der humilitas verbergen.
Da die Philosophie des Aristoteles nach Luther die Selbstgerechtigkeit
fördert, ist die scholastische Theologie anfällig
für die Häresie. Die nominalistische Gnadenlehre ist Häresie.
Praesumptio ist die Haltung der Kölner Theologen in dem
Reuchlinstreit.

In der Zeit der Hebräerbriefvorlesung wird Luther selbst zum
erstenmal der Häresie verdächtigt. Wenn traditionell die „sin-
gularitas" als Kennzeichen des Häretikers galt, so erkennt
Luther nunmehr, daß der Einzelne nicht eo ipso Unrecht haben
muß. „Luther ist nun klar auch zum Reformator des Häresiebegriffes
geworden" (153). Er will gewiß an der Kirche festhalten
; aber wo die rechte Kirche ist, das ist ihm fraglich geworden
. Damit steht er vor neuen Problemen. Entscheidende
Norm kann nur die hl. Schrift sein. Die Tradition und das
Kirchenrecht müssen kritisch geprüft werden.

Die Fragestellung nach dem Häresiebegriff führt so zu einer
Durchleuchtung der frühen Theologie Luthers. Dabei muß Bekanntes
begreiflicherweise wiederholt werden; gewinnbringend
aber ist die Bestätigung der Erkenntnis, in welch innerer Folgerichtigkeit
sich die neue Konzeption Luthers auch bis in scheinbar
periphere Fragen hinein entfaltet hat. Luthers „Reformation
" des Häresiebegriffes, das sei ergänzend zu den Ausführungen
von Mauser vermerkt, dürfte auch für das ökumenische
Gespräch der Gegenwart von Bedeutung sein.

Erlangen Walther v. Loewenich

Asheim, Ivar [Hrsg.]: Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche
bei Luther. Vorträge des Dritten Internationalen Kongresses
für Lutherforschung, Järvenpää, Finnland 11.-14.
August 1966. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1967].
211 S. gr. 8°. Kart. DM 28,-.

Während seiner Amtszeit als Direktor der theologischen Abteilung
des LWB organisierte Dr.Vilmos Vajta zwei Kongresse
für Luther-Forscher aus aller Welt, einen in Aarhus und einen
in Münster. Sein Nachfolger, der Norweger Dr. Ivar Asheim, ist
dieser von Vajta ausgehenden Tradition gefolgt und hat auch
wie dieser eine Schrift herausgegeben, welche die Vorträge des
dritten Lutherforschungskongresses enthalten, der im Sommer
1966 in Järvenpää, außerhalb Helsingfors gelegen, tagte.

Die Vorträge sind in den Originalsprachen Deutsch und Englisch
wiedergegeben und behandeln vier Problemkreise: 1. Luther
und die Mystik, 2. die Frage nach der Kontinuität der
Kirche, 3. das Problem des Natürlichen bei Luther und auch
4. die Heiligung bei Luther in Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung
mit den Schwärmern.

Der erste Vortrag von Gordon Rupp will offenbar eine Übersicht
der jetzigen Lage der Lutherforschung zeichnen. Rupp
ist Kirchengeschichtler und geht deshalb leider fast ganz an der
modernen Lutherforschung vorbei, die von mehreren nordischen
Systematikern betrieben wird. Die traditionelle Übersicht über
die Lage der Lutherforschung in den verschiedenen Ländern
fehlt übrigens dieses Mal im Kongreßrapport. Der Leser wird
statt dessen auf die Julinummer der Lutherischen Rundschau
vom Jahre 1966 hingewiesen.

Rupp richtet unsere Aufmerksamkeit auf des jungen Luthers
Belesenheit und mögliche Abhängigkeit nicht nur von Paulus
sondern auch von den lateinischen und griechischen Klassikern,
Augustinus, den Scholastikern und der deutschen Mystik. All
dies sei der geistige Boden, auf dem der junge Reformator stehe.

In Luthers Auseinandersetzung mit den Schwärmern findet
Rupp eine Reihe von Mißverständnissen auf beiden Seiten und
wenig Verständnis für die Stellungnahme des Gegners. Eine
eigentliche Konfrontation sei nie zustande gekommen. Was
vereinte, sei manchmal mehr gewesen als man zugeben wollte,
und auch die Schwärmer hätten etwas gesehen, was Luther
nicht bemerkt hatte. Rupp vermißt eine Studie über die Grenzen
des Vermögens Luthers. Er fragt, ob nicht der alternde
Luther wie auch viele andere (z.B. Churchill) - trotz seiner
unumstrittenen Größe - von seinen Gebrechen negativ beeinflußt
worden sei. Rupp betont auch Luthers Bedeutung für die
ökumenische Arbeit. Luther sei derjenige der Reformatoren, der
am meisten Gemeinsames mit der orthodoxen Theologie habe.
Ein erneuter Dialog zwischen Rom und Luther hätte in vielen
neueren Untersuchungen ihren Anfang genommen, ja, die
römische Kirche sei nur einen Katzensprung von Luther entfernt
.

Luther und die Mystik wird in drei Aufsätzen von Heiko
Oberman, Erwin Iserloh und Bengt Hägglund behandelt.
Obermans Beitrag ist am gründlichsten und zeugt von einer
großen Vertrautheit mit dem Quellenmaterial. Für Luther sei
Mystik „persönliche Glaubenserfahrung". Die Formel der Mystik
„simul genitus et raptus" werde für Luther „simul iustus
et peccator".

Erwin Iserloh versucht in seinem ebenso interessanten Beitrag
zu zeigen, daß Luthers „sola fide" keineswegs jede Form
von Mystik ausschließe. Außer der Lehre der imputativen Gerechtigkeit
findet Iserloh bei Luther den Gedanken vom Glauben
als einer mystischen Lebensgemeinschaft mit Christus, ja,
der Glaube könne sogar mit dem Zentralbegriff der Mystik
„raptus" umschrieben werden. „Sensus fidei" sei „das Ausein-
andergerissensein des Geistes in die klare Erkenntnis des Glaubens
" (WA4, 265, 30f.).

Zwei Quellen zu Luthers Glaubensverständnis werden u.a.
von Iserloh betont, nämlich vor allem Augustinus und in zweiter
Hand die Kirchenväter. In diesen beiden Quellen findet Iserloh
mystische Elemente, die von Luther übernommen bzw. umgeformt
worden seien. Gegenüber einer moralisierenden Imi-
tatio-Mystik behauptet Luther eine Mystik, in der Christus
vor dem menschlichen Handeln wirke, aber auch zu einer Verwandlung
nicht nur der menschlichen Affekte und des Bewußtseins
, sondern auch der ganzen Person befreie. Die iustitia sei
zwar „aliena", sie komme von außen, aber dies schließe nicht
aus, daß sie zu einem verwandelnden und gestaltenden Teil
des Menschen werden könne. Luther könne deshalb wie Tauler
Mystiker genannt werden, und er habe gute Gründe, sich mehr
mit diesem als mit den Scholastikern verwandt zu fühlen, denn
die Scholastiker hätten die mystische Erfahrung des Glaubens
oft in den Hintergrund gestellt.

Der dritte Beitrag über das Thema Luther und die Mystik von
Bengt Hägglund ist vorbildlich klar und pädagogisch dargestellt
. Hägglund betont die Vieldeutigkeit des Begriffes Mystik.
Er gibt auch Beispiele von Berührungspunkten zwischen Tauler
und Luther. Berührungspunkte seien aufweisbar u.a. in der
Anthropologie, im Gottesbild und in der Heilsauffassung. Gibt
es also überzeugende Berührungspunkte in mehreren inneren
Fragen, so gibt es doch nur wenige formelle Ähnlichkeiten.
Hägglund gelingt es aber doch in einer überzeugenden Weise,
die innere Übereinstimmung der Formeln aufzuweisen.

Die Kontinuität der Kirche wird von Wilhelm Maurer, Rene
Esnault und Jaroslav Pelikan aufgegriffen. Maurers gründliche
Untersuchung ist auf das Problem duplex ecclesia konzentriert.
Sowohl in Rom als auch bei den Lutheranern gebe es, nach
Luther, die wahre wie auch die falsche Kirche. Luther setze dem
universellen Anspruch Roms einen göttlichen Auftrag der Kirche
entgegen.

Esnault wählt als Ausgangspunkt für die Behandlung des
Problems der Kontinuität die Problematik des Mönchswesens
und findet wie auch Maurer, daß „Sein in Christus" nichts mit