Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1970

Spalte:

204-205

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leroy, Herbert

Titel/Untertitel:

Rätsel und Missverständnis 1970

Rezensent:

Gyllenberg, Rafael

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

203

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 3

204

geliura ein Machtwort sei, das das Geheimnis der endzeitlichen
Wandlung des ganzen Kosmos den Gerechten offenbart und
vergegenwärtigt. Dem Begriff euaggelion liegt also eine apokalyptische
Vorstellung zugrunde und Evangelium geht niemals
in der Verkündigung oder in der Missionspredigt auf.

Aufgrund der Exegese von Gal 1-2 wird die vorläufige These
deutlicher gemacht. Paulus wird dort beschuldigt, daß er ein
abgeschwächtes Evangelium verkündigt, wie es die Antiochener
nach Menschenmaß umgebogen haben (S.67). Paulus versteht
dagegen „sein Evangelium als Offenbarung selbst, d.h. er versteht
es traditionsbejahend, aber nicht als an vorpaulinisch-
normative Traditionen gebunden" (S. 70-71). „Evangelium ist,
kurz gesagt, die apokalyptische Prolepse des die Welt meinenden
Heiles und Rechtes Gottes ins Wort und die unscheinbare Verhülltheit
einer apokalyptischen Botschaft hinein" (vgl. Gal 1,12.
16 und die Käsemannsche Auslegung von 2Kor 12,7 [S.82 vgl.
8.71; 80; 107f.]). Das Evangelium ist also eine endzeitliche
Größe und seine Offenbarung ist der entscheidende Schritt in der
Strategie Gottes mit dieser Welt. Es ist der Grund der Mission.

Die angedeutete Begriffsdeutung setzt voraus, daß man das
Substantiv euaggelion bzw. seine sprachlichen Äquivalente im
Judentum auch theologisch gebraucht hat. Aufgrund eingehender
Untersuchung stellt S. fest, daß im AT mit der Wurzel
b-s-r (verkünden) zwar die Bedeutung der Frohbotschaft nicht
fest verbunden ist, daß aber der Gebrauch dieses Verbums dem
neutestamentlichen euaggelizesthai entspricht (S. 122). Im nach-
biblischen Judentum wird es auch als technischer Ausdruck
für die proleptische Gottes- und Prophetenrede benutzt. In der
Septuaginta begegnen wir einer neuen Entwicklung: Den griechischen
Wortstamm euaggel- hat man „als ein traditionsgeschichtlich
schmiegsames Übersetzungsinstrument für alle die
(positiven) Aussagen bereitgestellt, die sich für die Autoren des
Neuen Testaments mit der Wurzel b-s-r verbanden ..." (S. 164).
Außerdem hat die LXX den Christen die ganze Vorstellung des
das eschatologische Endgeschehen vorwegnehmenden (prophetischen
) Gotteswortes angeboten (S. 179).

Dem hellenistischen euaggelion fehlt der eschatologische
Kontext (S. 190) und seine Anwendung im Kaiserkult ist rhetorisch
geprägt. „Noch ehe die junge Christenheit die Herausforderung
durch den Kaiserkult annahm, hat sie ihre Evangelienterminologie
ausgebildet" (S.205).

Im letzten Teil spricht S. über den vorpaulinischen christlichen
Gebrauch des Begriffes euaggelion. Die erste Etappe, in
welcher vom Evangelium noch christologisch unreflektiert gesprochen
wird, sieht er in Apc 14,6 und 10,7 belegt. Auch in der
Logienquelle (Mt 11,2-6; Luk 7,18-23) wird euaggelizesthai im
apokalyptischen Sinne benutzt: „Die unter der Verwendung des
Stammes euaggel- = Wurzel b-s-r vollzogene vollmächtige Ansage
der nahenden basileia tou theou in der nachösterlichen urchristlichen
Prophetie kann sich mit Recht auf Jesu Wort und
Verhalten berufen" (S.224).

Die missionarische Anwendung der Evangelienterminologie
wurzelt in der hellenistisch-judcnchristlichen Gemeinde (Mk
13,10). Auch diese Auffassung knüpft an die apokalyptische
Etappe an, aber der eschatologische Rahmen wird stark geändert:
„DerKyrios der Himmel verlangt schon heute, daß die Welt (und
damit die Heiden) von seiner Würde- und Mittlerstellung erfahren
, und er räumt auch die zu solcher Mission noch erforderliche
(kurze!) Zeitspanne ein" (S. 287). In diesen Kreisen ist auch
im Anschluß an die jüdische Begrifflichkeit der neue Ausdruck
euaggelion tou Christou entstanden, während das euaggelion tou
theou in der neuen Umwelt die monotheistische Ausprägung der
Mission zu Wort bringt.

Die Ausführungen des zweiten Bandes vorwegnehmend stellt
S. fest, daß auch das paulinische Evangelium in der angedeuteten
Tradition steht und daß dadurch klarer wird, daß das
paulinische Evangelium „der Wesensvollzug der paulinischen
Eschatologie ist, welche man abgekürzt als geschichtliche Verwirklichung
der dikaiosyne theou bezeichnen kann" (S.289). Dadurch
wird an die frühere Studie des Verfassers über die „Gerechtigkeit
Gottes bei Paulus" (1965) angeknüpft.

S. hat eine Arbeit geleistet, die über den Artikel euaggelion
im ThW weiter hinaus geht, bedeutendes Material sammelt und
ein neues Stück der Religionsgeschichte darstellt. Seine Deutung

des Begriffes Evangelium aus dem Judentum ist im Grunde
überzeugend, wenn auch er selbst sich dessen bewußt ist, daß
in der hellenistischen Zeit die Grenze zwischen dem jüdischen
und griechischen Denken fließend war (S. 153f.). Es ist deshalb
zu bedenken, daß die unmittelbare jüdische Umwelt Jesu und
der Urgemeinde - auch die Pharisäer - durch die hellenistischen
Einflüsse viel mehr beeinflußt waren als die mehr oder weniger
isolierte Qumransekte oder die späteren Rabbiner, die uns die
meisten schriftlichen Dokumente hinterlassen haben. Das heißt:
Die griechischen Vorstellungen - z.B. eine leise Anspielung an
den Kaiserkult - können von Anfang an mitgeklungen haben
oder mindestens mitgehört werden. Die Grundthese wird dadurch
selbstverständlich nicht widerlegt. Sie setzt voraus, daß
Jesus eine verhältnismäßig schmale begriffliche Tradition aufgenommen
und sie im prophetischen Sinne eigenartig umgeprägt
hat.

Prag Petr Vokornf

Leroy, Herbert: Rätsel und Mißverständnis. Ein Beitrag zur
Formgeschichte des Johannesevangeliums. Bonn: Hansteil)
[1969]. XXIII, 195 S., 6* S. gr. 8°. DM 37,20; Lw. DM 42,80.

Die Arbeit hat im Wintersemester 1966/67 der Kath.-Theol.
Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Inauguraldissertation
vorgelegen und untersucht die Szenen des
Vierten Evangeliums, in denen Jesus von seinen Gesprächspartnern
mißverstanden und fehlinterpretiert wird. Solche ausgeformte
Mißverständnisse begegnen an elf Stellen in den Kap.
2-8 (2,19-22; 3,3-5 usw.), und die Untersuchung wird auf diese
beschränkt. In diesen Mißverständnissen geht es um doppeldeutige
Begriffe, die eine Verwechslung des Himmlischen und
Irdischen zur Folge hat. Die Gesprächspartner erkennen die
Bedeutung der Wörter richtig, können sie aber nur zur Bezeichnung
irdischer Sachverhalte verwenden. Der Vf. fra^i.1 sich
nun, in welchen literarischen Formen Doppel- bzw. Mehrdeutigkeiten
die ausschlaggebende Rolle spielen, und findet in Orakel-
sprüchen und gewissen Formen des Rätsels auffallende Ähnlichkeiten
mit dem johanneischen Sprachgebrauch. Dann muß
aber weiter gefragt werden, ob nicht auch das johanneische Mißverständnis
diesen Rätselcharakter aufweise. Demgemäß wird
im ersten Teil die Form des Rätsels genauer umschrieben. Im
zweiten Teil werden die elf Stellen des Johannesevangeliums
unter formgeschichtlichem Aspekt untersucht und im dritten
Teil die Ergebnisse geordnet und möglich scheinende Konsequenzen
gezogen.

Von den Rätseln sind in diesem Zusammenhang am wichtigsten
diejenigen, die sich einer Sondersprache bedienen und deshalb
dem Außenstehenden, der nur die Gemeinsprache beherrscht
, unlösbar sind, wenn die Lösung ihm nicht irgendwie
geoffenbart wird. Die Kenntnis dieser Sondersprache ist es
eigentlich, die von dem durch das Rätsel zu Prüfenden verlangt
wird. Sie eröffnet die Möglichkeit, die Welt in der eigenen Weise
der die Sondersprache benutzenden Gruppe zu sehen und zu
verstehen. Wer das Rätsel lösen kann, wird aufgenommen. Die
Lebendigkeit der Sprachform des Rätsels bringt es mit sich, daß
das Rätsel in die verschiedensten Geisteshaltungen eingehen
kann. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß das Phänomen der
joh. Mißverständnisse eine Abwandlung des Rätsels darstellt.
Die Doppeldeutigkeit der johanneischen Begriffe hätte dann
sondersprachlichen Charakter, und der eigentliche Sprecher und
Fragesteller wäre nicht Jesus, sondern eine Gruppe, vielleicht
die Gemeinde, die sich im Besitz des rechten Wissens weiß und
überzeugt ist, daß von diesem rechten Wissen das ewige Leben
abhängt. Diese Annahme wird von der Einzelexegese bestätigt.
Die joh. Gemeinde bedient sich in ihren theologischen Aussagen
einer Sondersprache, die den Charakter des Vierten Evangeliums
wesentlich mitbestimmt. Es wird in dieser Sondersprache anders
gedacht als in der Gemeinsprache, und die Worte der Sondersprache
lösen andere Vorstellungen aus als dieselben Worte im
gemeinsprachlichen Sinn.

Der Hauptteil der Abhandlung (S.49-155) ist der Einzelexegese
gewidmet. Nachher werden die Ergebnisse tabellarisch
zusammengestellt. Ein Beispiel: In der Gemeinsprache bedeutet