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Ausgabe:

1970

Spalte:

202-204

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stuhlmacher, Peter

Titel/Untertitel:

Das paulinische Evangelium 1970

Rezensent:

Pokorný, Petr

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201

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 3

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Handelt es sich bei dem ,katcchon' um irgendeine Macht, die den
.Menschen der Ungerechtigkeit' behindert - so die übliche Annahme
- oder um eine Macht, die jetzt seine Stelle einnimmt?
Vor allem aber: Darf man annehmen, daß das eschatologische
Interesse des Paulus sich auf die Parusie ,as a point in clock-
and-calender time' richtet ? Eben dies bezweifelt Giblin, und da
er mit gutem Grund unser Kapitel nicht von vornherein als un-
paulinisch ansehen will, geht sein Bestreben dahin, den nicht-
apokalyptischen Charakter von 2Thess 2 nachzuweisen. Seine
detaillierte Exegese im Hauptteil der Arbeit ist diesem Nachweis
gewidmet und führt zu folgendem Verständnis des Kapitels:

Die Gemeinde zu Thessalonich wird durch irrige eschatologische
Ansichten beunruhigt und verwirrt. Der genaue Anlaß
zu dieser Beunruhigung läßt sich nicht mehr sicher feststellen;
er mag auch Paulus nicht genau bekannt gewesen sein. Jedenfalls
war man der Überzeugung, der ,Tag des Herrn' sei bereits gekommen
oder stehe unmittelbar bevor, und diese Überzeugung
dürfte man sich in Thessalonich im Kähmen der ,clock-and-
calender time' vorgestellt haben. Für Paulus aber verbindet
sich mit der Rede vom Tag den Herrn viel weniger eine temporale
als vielmehr eine sachliche Vorstellung: der Gedanke an
Heil oder Unheil, Erlösung oder Verwerfung, also an Phänomene
, die in seiner Predigt allezeit präsent sind. Darum bejaht
er die Ansicht von der Gegenwart oder dem unmittelbar bevorstehenden
Einbruch des Gottesreiches nicht noch bestreitet er
sie. Diese Frage interessiert ihn überhaupt nicht. Er will die
Gemeinde vielmehr auf den gesunden unapokalypt ischen Standpunkt
zurückführen, auf den er sie einst gestellt hat (V.5), und
ihr helfen, ihre gegenwärtige Situation von da aus zu verstehen.
Sein ,eschatologisches Prinzip' besagt, daß sich das Reich Gottes
unter den Gläubigen durchsetzt, indem inmitten von allerlei
Bedrängnissen um des Glaubens willen Gott durch seinen Geist
die Christen zu ,neuen Kreaturen' umbildet und so die eschatologische
Krisis vollzieht. Wenn Paulus von der ,Apostasie'
spricht (V.3b), so denkt er deshalb nicht an ein bestimmtes,
datierbares Vorzeichen des Endes, sondern an eine ständig präsente
negative Bedingung für den Sieg Gottes über seine Feinde:
an Abfall und an Scheidung der Gläubigen von den Ungläubigen
. Die Summe dieses Abfalls, der sich als ständiger Prozeß
(V. 7a) in den gegen die apostolische Predigt gerichteten Kräften
der Täuschung und des Unglaubens vollzieht, personifiziert
Paulus in der Gestalt des ,Menschen der Ungerechtigkeit', einer
symbolischen Schöpfung des Apostels.

Ihre gegenwärtige Situation sollen die Thessalonicher von dieser
ihnen bekannten Position aus deuten (V.5). Sie machen ja
jetzt selbst die Erfahrung solcher glaubensfeindlichen Mächte
und wissen um den ,katechon', d.h. um die wirksame Macht der
Irrlehre, die augenblicklich unter ihnen die Rolle des ,Menschen
der Ungerechtigkeit' spielt (V. 6). Keineswegs will der ,katechon'
den Eintritt des Endes verzögern, wie denn Paulus überhaupt
die Frage nach dem Zeitpunkt des Endes gar nicht bedenkt. Bei
dem ,katechon' handelt es sich um keine mythologische Gestalt
, sondern um eine ad hoc Deutung der Konfusion in Thessalonich
von dem ,eschatologischen Prinzip' des Paulus her;
möglicherweise hat der Apostel dabei einen bestimmten falschen
Prediger im Auge. Die Parusie kommt jedenfalls nicht, bevor
nicht ein bestimmtes Maß an Leiden (Kp. 1) und Unglauben und
Abfall (Kp.2) vollgcworden ist. Im Lichte dieser heilsgeschichtlichen
Prämissen sollen die Thessalonicher ihre augenblicklichen
Erfahrungen verstehen.

Wenn dann einmal der .katechou' ausgestoßen und die Scheidung
von Gläubigen und Ungläubigen sich vollzogen hat, dann
wird der ,Mensch der Ungerechtigkeit' sich ,manifestieren', d.h.
der Unglaube scheinbar triumphieren, um sofort von dem kommenden
Herrn vernichtet zu werden. V. 10 spricht allerdings
weniger von diesem .Auftreten' des .Menschen der Ungerechtigkeit
', als vielmehr rückblickend von dem ganzen Prozeß der
antiapostolischen Aktivität, womit Paulus den Gedankengang
zu V.3b-4 zurückführt.

Mit V. 11 beginnt ein neuer Abschnitt, der bis V. 14 reicht und
den ganzen Prozeß der Unheils- (V. 11 f.) und Heilsgeschichte
(V. 13f.) überschaut. V. 15 nimmt sodann die Ermahnuug von
V. lf. wieder auf. nun in V. 10 verbunden mit dem Gebet, um

göttlichen Beistand in der gegenwärtigen Bedrohung des Glaubens
.

Drei originelle, wenn auch nicht gänzlich originale Motive
charakterisieren diesen interessanten exegetischen Entwurf:
der .katechon' wird als Platzhalter des ,Menschen der Ungerechtigkeit
' verstanden; V.llf. wird eng mit V.13f. verbunden, d.h.
ein Perikopenende nach V. 12 geleugnet; Giblin bestreitet, daß
Paulus in 2Thess 2 irgendeine Auskunft über den Termin der
Parusie geben will.

Giblins Deutung des ,katechon' verdient Beachtung und ist
jedenfalls nicht unwahrscheinlicher als viele andere Erklärungen
dieser rätselhaften Gestalt, wenn es auch vom Zusammenhang
her weitaus näher liegt, an irgendeine Größe zu denken, die dem
,Menschen der Ungerechtigkeit' noch im Weg steht.

Die antithetische Zuordnung von V. 13f. zu V.llf. dagegen
übersieht nicht nur das formale Problem des Abschnittes V. 13f.,
der seit mehr als hundert Jahren als eine Dublette zu den Proö-
mien der paulinischen Briefe bekannt ist. Vor allem befaßt sich
Giblin eigenartigerweise nicht mit der schon oft beobachteten
rätselhaften Tatsache, daß das^ets 66 zu Beginn von V. 13,
mit dem Paulus sich selbst meint, die angebliche Antithese
Ungläubige (V.llf.) - Gläubige (V. 13f.) in unerträglicher Weise
verschiebt.

Die Entapokalyptisierung des ganzen Abschnittes schließlich
scheint mir auch dann unmöglich zu sein, wenn der ,Mensch
der Ungerechtigkeit' tatsächlich keine apokalyptische Gestall,
sondern eine symbolische Personifikation für den vollendeten
.Abfall' sein sollte. Giblin hätte doch stärker die in 2Thess 2 vorausgesetzte
Situation beachten sollen. Kann man zur Erklärung
des Abschnittes wirklich die Frage offen lassen, ob §v6oTTynev
(V.2) heißt: Der Tag des Herrn ist schon da, oder: er steht nah«1
bevor? Die Notwendigkeit, das Problem der Parusie in apokalyptischer
Manier zu behandeln und den Termin des Endes
zu bedenken, könnte sich auch dann, wenn Paulus infolge seines
,eschatologischen Prinzips' im übrigen apokalyptischen Spekulationen
abhold war, aus der Notwendigkeit ergeben, einer bestimmten
Situation in der Gemeinde zu Thessalonich adäquat
zu begegnen. Dazu muß diese Situation möglichst genau bestimmt
werden. Und kann man überhaupt das von Giblin i.w.
richtig beschriebene ,eschatologische Prinzip' bei Paulus in
Gegensatz zum apokalyptischen Denken setzen? Giblin muß
selbst einräumen, daß bei Paulus die Apokalyptik nicht ganz
fehlt, und zweifellos bildet sie insofern ein notwendiges Stück
der paulinischen Theologie, als durch sie der ,eschatologische
Vorbehalt' massiv zur Geltung gebracht wird. Dann aber
ähnelt der Versuch, die Apokalyptik in unserem Text zu eliminieren
, dem Unterfangen, den 2 Thess wegen seiner massiven
Apokalyptik dem Apostel abzusprechen. Beidemal möchte man
einen weitgehend unapokalyptischen Paulus gewinnen.

Aber die theologische Aufgabe kann nicht sein, das apokalyptische
Denken bei Paulus irgendwie zu eliminieren; man
muß es vielmehr interpretieren.

Berlin Walter Schmlthals

Stuhlmacher, Peter: Das pauliuische Evangelium. I. Vorgeschichte
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968. 313 S. gr. 8° =
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen
Testaments, hrsg. v. E.Kä.semann u. E.Würthwein, 95. Kart.
DM 28,-; Lw. DM 32,-.

Der Vf. untersucht den Wortstamm cuaggel-, der in der paulinischen
Theologie eine bedeutende Rolle spielt und dessen
Werdegang die entscheidenden Epochen des urchristlichen Weltverständnisses
widerspiegelt. Der vorliegende erste Band ist der
Vorgeschichte und dem religionsgeschichtlichen Hintergrund des
paulinischen Evangeliums gewidmet.

Gegen die Auffassung des paulinischen Evangeliums als
Doktrin und gegen die vor allem durch die Inschrift aus Priene
angeregten hellenistischen Ableitungsversuche hebt der Vf. die
Herleitung des Begriffes euaggelion aus dem alttestamentlich-
jüdischen Traditionsmaterial hervor, die auf dem Boden der
religions- und traditionsgeschichtlichen Forschung erwachsen
ist. Er geht von der These E.Sjöbergs aus, wonach das Evan-