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Ausgabe:

1969

Spalte:

163-172

Autor/Hrsg.:

Hertzsch, Erich

Titel/Untertitel:

Überlegungen zur Neugestaltung des Lektionars für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden 1969

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 3

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Überlegungen zur Neugestaltung des Lektionars für evangelisch-lutherischp

Kirrhen und Gemeinden

Von Erich Hertzsch, Jena

Weifgang Schanze zum siebzigsten Geburtstag

Mit der Frage der Neugestaltung des Lektionars haben sich in
letzter Zeit nicht nur die Lutherische Liturgische Konferenz Deutsch
lands, sondern auch die Kommission für Gottesdienst und geist
liches Leben des Lutherischen Weltbundes beschäftigt. (Das geschah
wider Erwarten. Denn das in den Gemeinden benutzte Lek-
tionar ist 1953. also erst vor anderthalb Jahrzehnten, eingeführt
worden.) Den Anstoß dazu hat ohne Zweifel das 2. Vatikanische
Konzil der römisch-katholischen Kirche gegeben, in dessen 2. Sitzungsperiode
die „Konstitution über die Heilige Liturgie" beschlossen
worden ist. Im Art. 51 dieser Konstitution heißt es: ..Auf daß
den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde,
soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so daß
innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten
Teile der Heiligen Schrift (in der Messe) vorgetragen werden' "
Dazu bemerkt Wolfgang Schanze2: „Wenn die neue Lutherische
Agende von einer Reform der Lektionsreihen abgesehen hat. obwohl
die Kritik an diesen seit Luthers Zeiten anerkannt ist. so hat
sie sich auch von dem Motiv bewegen lassen, die noch vorhandene
abendländische Gemeinsamkeit in diesem Punkte nicht ohne Not
zu stören. Kommt Rom hier zu einschneidenden Reformen, dürfte
das zur Folge haben, daß auch in anderen Kirchen das Problem
der Lektionsreihen aufs neue akut wird."

Es ist gut, daß das Problem aufs neue akut- geworden ist. denn
dir. Revision des Lektionars. die in den fünfziger Tahren leider
versäumt worden ist. ist längst überfällig und dringend notwendig
. Wir müssen uns iedoch im klaren darüber sein, daß bei einer
Neugestaltung des Lektionars sehr große Schwierigkeiten zu überwinden
sind und daß eine hefrierliqende Lösung der Probleme nur
gefunden werden kann, wenn sich nicht allein die zuständigen
Gremien (Kommissionen, Kirchenleitungen. Synoden), sondern
auch und vor allem die Gemeinden mit ihren Pastoren intensiv mit
dieser Aufgabe beschäftigen.

I. Die Situation und ihre Problematik

1 r>as „Lektionar für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden
" enthält bekanntlich die .Episteln" und Evangelien", die
seit der karolingischen Kirchenreform des 8 Tahrhunderts im
Abendland im Gebrauch sind. Die beiden Reihen sinrl unabhängig
voneinander entstanden, die Evangelienreihe in Rom. die Fnistel-
reine wahrscheinlich in Gallien. Die Entstehung der Epistel- und
Evangelienlisten läßt sich mit einiger Sicherheit bis in die Zeit
Gregors I. zurückverfolgen'. Es handelt sich nieht um eine altkirch-
tiche, sondern zweifellos um eine frühmittelalterliche Leseordnunct.
die durch die Theologie und die Frömmigkeit der Entstehungszeit
gerräat worden ist.

2. Diese Leseordnung wird heute noch nicht nur in evangelisch-
lutherischen Kirchen und. Gemeinden, sondern anrh in der angli-
k.-misehen und in der römisch-katholischen Kirche gebraucht, in
dieser allerdings mit einigen, nicht unwichtigen Ahweirhungen.
Grundverschieden von den Lektionsreihen, die im Abendland gebräuchlich
sind, sind diejenigen, welche die orthortorep Kirrhen
des Ostens benutzen'.

Das vor 1200 Tahren im Abendland eingeführte Toktionar ist
in der evangelischen Kirche oft und scharf kritisiert worden. Tn
dieser Kritik sind sich die Pietisten und die Rationalisten des
1& The mit den liberalen Theolorren riet 10 Ths einig. Psvrholo-
gisch-seelsorgerliche. pädagogisch-katechetische und vor allem
homiletische Argumente werden gegen das Lektionar geltend gemacht
. Luther forderte 1523 (in seiner Schrift ..Pormula missae et
communionis")5 eine Neuordnung der von ihm vorgefundenen

*) . . . ut intra praestitutum annorum spatium prnestantior pars Scripturarum
populo praeponatur . . ."
1 ThT.Z 90 (19651 Sp. 531.

*> Vgl. O. Kunze. Die qortesrlienstl. Srhriftlesung T. GBttinge». 1917: ders . nie
Lesungen (T.e*rurgia Tl. Kasset. 1955. S. fl7-1R0l: P. Bmnner. Die Schriftlesung im
Gottesdienst . . . (Untersuchungen zur Kirchenagende T. 1., Gütersloh, 1940. S. 113
Ms 204).

*) Eine gute Synopse bei H. Alt, Der christl. Cultus II. Abth., Berlin. 1860.
S. 160-171. 5) WA 12,205ff.

Lektionsreihen: „Dancia est opera, ut Epistolae et Evangelia suis
optimis et potioribus locis legantur in missa." Er begründet seine
Forderung mit theologischen Argumenten: „Cum raro eae
partes ex epistolis Pauli legantur, in guibus fides docetur, sed
potissimum morales et adhortatoriae (ut ordinator ille epistolarum
videatur fuisse insigniter indoctus et superstitiosus operum pon-
derator), officium requirebat eas potius majore parte ordinäre,
guibus fides in Christum docetur'." Bereits 1526 (in der Schrift
Deudsche Messe vnd Ordnung Gottisdiensts"7) gibt allerdings
Luther seinen Plan, das Lektionar neu zu gestalten, mindestens
vorläufig, wieder auf. Er empfiehlt, mit Rücksicht auf die zur selbständigen
Predigtausarbeitung unfähigen Pfarrer und zur Abwehr
der „Schwärmer und Sekten", die Verlesung von Predigten aus den
von ihm und seinen Schülern herausgegebenen Postillen, in denen
die herkömmlichen Episteln und Evangelien ausgeleqt werden*

4 Luther hat allerdings auch die lectio continua und damit die
Auslegung ganzer Bücher der Bibel, vor allem der Evangelien im
Gemeindegottesdienst theoretisch für durchaus möglich gehalten-
. wyr wollen aber nicht die taddeln, so die gantzen bucher der
Euangelisten für sich nemen." Aber im Blick auf die Durchführbarkeit
dieses Gedankens in der kirchlichen Praxis war er sehr skeptisch
: ..Denn auch das der vrsachen eyne ist, das wvr die Episteln
vnd Euangelia. wie sie ynn den postillen geordenet stehen behalten
, das der geystreichen prediger wenig sind, die evnen gantzen
Euangelisten odder ander buch, qewaltiglieh vnd nützlich handeln
mugen'a." Andrer Meinung als Luther waren die Schweizer
Reformatoren: Da sie die römische Messe nicht „gereinigt", sondern
abgeschafft und den spätmittelalterlichen Predigtgottesdienst
zum Hauptgottesdienst der „unter dem Wort versammelten Gemeinde
" gemacht hatten, fühlten sie sich aueh nirht mehr an das
Meß-Lektionar gebunden: sie kehrten zurück zur lectio continua
und predigten fortlaufend über ganze Bücher der Heiligen Schrift,
wobei neben Texten aus dem NT auch wieder, wie zu den Zeiten
des Orioines und der kappadozischen Kirchenväter, die Schriften
des AT zu ihrem Rechte kamen. So hat Zwinoli (vom 1 Tanuar 1519
an) in Reihenpredigten nacheinander Mt. Apo. 1 Tim. ''Tim.
1 Petr 2Petr, Hebr ausgelegt. Calvin ist seinem Beispiel gefolgt

In den reformierten Gemeinden ist deshalb in der Regel Schrift-
lesung und Predigttext identisch Wird e;n weiterer Schriftabschnitt
im Gottesdienst gelesen, so wird er so ausgewählt daß er den Predigttext
ergänzt. So enthält z. B. das .Kirchenbuch*, das (1051) vom
Moderamen des Reformierten Bundes herausgegeben worden ist.
nur den Hinweis: ..Die Schriftlesung halten wir boj Ha sie nflar-
mein geübt wird. Sie möge sich auf die Prortiaf ho7i"hen und hei
einem neutestamentlichen Predigttevt möglirhsf miq rlem AT und
umgekehrt genommen werden" (S. 71QV Vorschläge für die Wahl
der Tötungen und der Predigttexte enthält das Tfirrhent-moh" nirht.

Unter dem Einfluß des Pietismus und der Aufklärung lorkerte
qich auch in den lutherischen Kirrhen der P^rikooonzwang" ■ nie
Prediger nahmen sich immer häufiger das Rc-ht. ohne Rücksicht
auf die .altkirchlichen" Lektionsreihen ihre Prediattexte frei ZU
wählen Tn der ersten Hälfte des 19, Ths setzte sich allerdings die
"on Friedrich Wilhelm TTT. durch seine TTnions^gende eingeleitete

Gegenbewegung trotz heftiger viderstänrte in ^verschiedenen Landeskirchen
, vor allem in Preußen Sachsen und Ravern, durch Und
mit einer strengen Bindung an die neuen Agenden kamen aurh die
frühmittelalterlichen Lektionsreiheri wieder zu Ehren Aber als die
..ältere" liturgische Bewegung geführt von T Smend und Fr Soitta.
um die Tahrhundertwendo rten größten Wert auf Einheitlichkeit
bei Gestaltung des Cotto-rlienstes legte, half man sich durch Benutzung
von Privatagenden, die unter dem Einfluß der liberalen
Theologie dieser 7eit entstanden waren • diese Privatagenden, wie
z. B. das weitverbreitete ..Fvangelische Kirchenbuch" mn K Arner
und A Zillesen setzten praktisch die kirchenamtlich legitimierten
Agenden weithin außer Kraft und sorgten dafür, daß viele Pasto-

«1 WA 12.709f. 7) WA 19.72ff. ") WA 19,95.
"a) WA 19.79.9S.