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Ausgabe:

1969

Spalte:

140-141

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ratschow, Carl Heinz

Titel/Untertitel:

Lutherische Dogmatig zwischen Reformation und Aufklärung 1969

Rezensent:

Zeller, Winfried

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tialer Dialog mit dem Wort der Wahrheit. »Die Existentialreflexion
ist also in diesem Sinn Transzendenzdialog'' (159).

Was bedeutet ein solcher Dialog für das Wort der Wahrheit
selbst? Verfasser hat die Vertallenheit der Geschichte ausgeklammert
(159). Es geht ihm primär um die innere, das heißt perso
nale Geschichtlichkeit. Er will das Prinzip geschichtlicher Ich-Werdung
des Wortes der Wahrheit verdeutlichen. Das endliche Ich
kann sich deshalb konstituieren, .weil es von der Wahrheit als
seinem Du angesprochen wird" (161). Das Wort der Wahrheit muß
selbst als sinnlich-leibhaftige Person auftreten (162). »Damit ist
nun das personal-geschichtliche ,erste' Du aller Iche der Menschheitsgeschichte
spekulativ erhellt: es ist das Wort der Wahrheit,
jenes doxische Licht und Leben, das zugleich das Licht und Leben der
geschichtlich endlichen Personen sein soll und darum als Lebens-Du
aller Personen selbst Person werden will und sich als solche
(.pneumatisch') sinnlich verleiblichen muß" (163). Dieses Wort der
Wahrheit ist das Lebens-Du eines jeden endlichen Ichs. Es muh
Mittlerperson sein. Damit ist die systematische Aufgabe, die Möglichkeit
von Offenbarung zu untersuchen, erfüllt (163f.).

IV. Die Möglichkeit von Offenbarung im geschichtlich-personalen
"Wort" der Wahrheit

Als Ergebnis der transzendentalen Daseinsanalyse stellt Verfasser
fest: »Das Wort der Wahrheit als Logos allen geschichtlich-dialogischen
Daseins soll und will selbst innerhalb der Geschichte
geschichtlich leibhaftige Person werden" (167). Für die Möglichkeit
der Offenbarung ergibt sich: »Der Mensch ist jenes Dasein,
das, wenn es ist, kraft seiner Wirklichkeit und seines Wesens personal
und geschichtlich offen ist und offen sein soll für das Wort
Gottes, das sich seinerseits in der Menschheitsgeschichte als selbst
geschichtliche Person frei offenbaren will" (167). Verfasser ist zu
einem ähnlichen Ergebnis wie HdW gekommen. In der philosophischen
Ergebnisformulicrung besteht allerdings ein großer
Unterschied (163). „Wort" bedeutet in HdW nicht der geschichtlichpersonal
sich aussprechende Logos, sondern ist »begriffliches Zeichen
des Geistes" (169). Weil in HdW die personale Vermittlung,
die im Dialog geschieht, fehlt, geht es wesentlich am Problem
der Offenbarung vorbei (170). In HdW zeigt sich ein nihilistischer
Zug, aber oft »auch eine Einsicht und ein Licht, das die philosophische
Argumentation übersteigt" (171). »Die Geschichtlichkeit der
freien und personalen zeitlichen Beziehungsgemeinschaft der
Menschheit wird nicht beachtet. Dadurch wird das Eintreten Gottes
in die Geschichte faktizistisch verkürzt (171). Die Metaphysik von
HdW läßt sich zusammenfassen wie folgt: „HdW versteht das
Dasein allenfalls in seinem theoretisch-faktischen Aspekt". »Spruch"
und „Ausspruch" liegen außerhalb dieser Konzeption und damit auch
das .Wort" Gottes. Dieses wird verbalistisch faktisiert. Damit ist
die Menschwerdung Gottes negiert (172). Verfasser will zeigen,
„daß die ursprüngliche Darstellung Gottes, seine personale Selbstmitteilung
, nichts anderes ist als geschichtlich-originärer Daseinsdialog
und in diesem Sinne .Wort" (173).

Kritischer Rückblick

Im Rückblick auf die scharfsinnige Kritik an HdW sind die wichtigsten
negativ beurteilten Punkte herausgearbeitet worden. Sie
ergeben sich in Auseinandersetzung mit Kant und in der Fortführung
der Philosophie von Fichte und der modernen Transzendentalphilosophie
. Am wesentlichsten ist die Ausarbeitung des dialogischen
Charakters zwischen Ich und Du und der Mittlerperson
für die personale Offenbarung. Auch die inhaltliche Bestimmung
des Ruf- und Aufrufcharakters in Verbindung mit dem Ursprung
der Wahrheit ist für das Geschichts- und Offenbarungsverständnis
von grundsätzlicher Bedeutung. Als Grenze der Kritik muß es bezeichnet
werden, daß die Verfallenhcit ausgeklammert ist, obwohl
mehrfach von ihr die Rede ist. Es wird mit einem Ich und Du gerechnet
, die zwar geschichtlich begründet, aber nicht konkret in
der realen Geschichte verankert sind. Wenn Simons selbst von
einem inkarnatorischen Ansatzpunkt spricht (173), dann dürfte
nicht nur vom Logos die Rede sein. Es müßte der Widerspruch berücksichtigt
werden, mit dem das Ich, das Du und das Mitein
andersein dem Logos gegenüberstehen. Zugleich aber müßte auch
von dessen heilbringender Begnadung, die persönlich an Jesus
Christus gebunden ist, lebendig Zeugnis abgelegt werden. Auf
diese personale Weise könnte der Absicht von Simons, die Einheit
von transzendentaler und kategorialer, d. h. leibhaftig objek-

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tivierter Auffassung der Offenbarung aufzuzeigen, entsprochen
v/erden. Damit wird das Thema der Oltenbarung religions-
geschichlich eingegrenzt, zugleich aber auch philosophisch seinem
Wesen nach vertieft. Nur vom Offenbarungsvermittler aus wird
dann die Offenbarung ins Weltweite geschichtlich, aber auch philosophisch
in den Blick gebracht.

Eisenach Heinz Erith E i I e n h u t Ii

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Ratschow, Carl Heinz: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation
und Aufklärung, II. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
11966). 270 S. 8°. Kart. DM28,-.

Der II. Teil des Werkes, dessen grundlegende Bedeutung bereits
1966 bei der Besprechung des I. Teiles gewürdigt wurde, lehnt sich
an das IV. Kapitel der „Theologia positiva acroamatica" von Johann
Friedrich König an und behandelt die „Lehre von Gott, d'<m
Ziele (finis) der Theologie". Wie das Verzeichnis der zitierten theologischen
und philosophischen Schriften ausweist, stützt sich dieser
Band auf eine noch größere Zahl wissenschaftlicher Literatur
des 17. Jahrhunderts. Besonders dankbar ist dabei zu vermerken,
daß auch Georg Calixt herangezogen worden ist.

Der ausführliche Kommentar bietet wiederum zahlreiche aufschlußreiche
Belegstellen und Erörterungen, die eine theologie-
gcschichtliche Einordnung der Aussagen Königs ermöglichen. So
wird beispielsweise gezeigt, wie sich durch Johann Gerhard und
Georg Calixt die analytische Methode herausbildet, die sich an
dem »finis" der Theologie orientiert. Zu dem Verhältnis von Theologie
und Philosophie wird auf die Auseinandersetzungen zwischen
Daniel Hofmann und Cornelius Martini verwiesen. Keineswegs
darf die Metaphysik des 17. Jahrhunderts als Überfremdung der
Theologie verstanden werden. Zwar werden die Fragen nach Sein
und Wesen Gottes in enger Verbindung miteinander lebhaft diskutiert
, aber sie werden doch unter die »cognitio dei revelata" eingeordnet
. Es geht also gar nicht um die Erkenntnis Gottes an sich,
sondern um seine Erkenntnis unter dem Blickpunkt seiner »opera
ad nos". Darum lassen sich in der Geschichte der lutherischen
Dogmatik schon früh Bedenken gegen eine Definition des Wesens
Gottes feststellen, die sich im 17. Jahrhundert immer mehr verstärken
.

Schon die Orthodoxie weiß, welche Schwierigkeiten sich bei der
Ti initätslehre aus der Spannung von kirchlicher Begrifflichkeit
und biblischem Zeugnis ergeben. Auch das Verhältnis von Trinitätslehre
und Christologie sowie die Verklammerung von Pneu-
matologie und Ekklesiologic bieten manche interessanten Probleme
. Für die Diskussion des „filioque" wurden die Untersuchungen
Calixts von Bedeutung.

Unter den Werken Gottes steht die Schöpfung an erster Stelle.
Ratschow zeigt, daß die Problematik des orthodoxen Lehrsystems
dort einsetzt, wo der Schöpfungsglaube vom Heilsglauben gelöst
und als naturwissenschaftliche Theorie über die Entstehung der
Welt mißverstanden wird. Im Gegensatz zu dem aristotelischen
Satz von der Ewigkeit der Welt betont die orthodoxe Schöpfungs-
lehre grundsätzlich die Zeitlichkeit der Schöpfung. Zielpunkt der
Schöpfung ist nach der orthodoxen Anthropologie der Mensch. Um
der Ganzheit des Menschen willen lehnt die orthodoxe Dogmatik
den Kreatianismus ab und vertritt den Traduzianismus.

Die Lehre von der Vorsehung Gottes unterscheidet in Abgrenzung
gegen den Calvinismus sauber zwischen „praescientia" und
„determinatio". Dahinter leuchtet zugleich die Frage nach der Ter-
miniertheit des menschlichen Lebens auf, das eben nicht aus sich
selbst verständlich ist. Die Orthodoxie ist stark daran interessiert,
die Parallelität zwischen Kausalnexus und göttlichem Einfluß zu
betonen. An dem Lehrstück der „Providentia dei" läßt sich deutlich
die Entwicklung der Theologiegeschichte ablesen. Während anfänglich
der Ursprung der Sünde den Mittelpunkt der Erörterungen
bildet, wendet sich das Interesse schließlich mehr und mehr
der von Gott beabsichtigten Ordnung des Kosmos zu. Schließlich
fallen in dem für die Eschatologie grundlegenden Begriff der
„fruitio" präsentische und futurische Züge zusammen.

Es steht zu wünschen, daß auch dieser Band, dessen Darlegungen
durch Skizzen veranschaulicht werden, zu einem echten theo-

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 2