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Ausgabe:

1969

Spalte:

89-98

Autor/Hrsg.:

Haendler, Gert

Titel/Untertitel:

Archäologische Zeugnisse für Anfänge des Christentums 1969

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 2

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Luther, den „Propheten Deutschlands", berufen und seine Schriften
m den Dienst ihrer Bestrebungen gestellt130. Das eigenwillige
Lutherverständnis dieser „Lutheraner" hat auch Franckes Vorstellungen
vom Reformator bestimmt. Er hat den „Lutherus redivivus"
von Martin Statius benutzt und empfohlen. Das Buch sei
»nichts anders, als ein Auszug aus den Schriften Luthers, da man
die rechten Kern-Stellen aus ihm, zum wenigsten die vornehmsten,
beysammen findet'"". Statius, ein Schüler des von den deutschen
Reformtheologen und Pietisten geschätzten Erbauungsschriftstellers
Stephan Praetorius, hat die Auswahl der Luthertexte im Geiste
seines Lehrers vorgenommen1'-.

In dem „Lutherus redivivus" kommen zwar auch die antikatholischen
und antispiritualistischen Aussagen Luthers zureichend zu
Wort. Mit besonderer Sorgfalt hat Statius aber diejenigen Stellen
gesammelt, in denen Luther den organischen Zusammenhang von
Glaube"3 und Liebe"'' hervorhebt. Dem toten, historischen, gefärbten
Glauben, der sich in einem rationalen Wissen der Glaubens-
Wahrheiten erschöpft"', wird der wahre, ungefärbte Glaube, die
Praktische, subjektive Applikation der Heilstatsachen gegenübergestellt136
. Luther habe zwar alle papistischen Werke, aber nicht die
3uten Werke der Nächstenliebe verboten, die im wahren Glauben
ihren Ursprung haben und als seine offenkundigen Beweise notwendig
seien137.

In diesem Zusammenhang ist auch Christian Kortholt,
Franckes Lehrer in Kiel, zu erwähnen, der in seiner Kirchengeschichte
den Anfängen der Reformation, insbesondere dem Ablagstreit
, größeren Raum gewidmet und damit den Blick insbesondere
auf den jungen Luther gelenkt hat"*.

6. Einen weitgehenden Einfluß hat schließlich Speners Lutherverständnis
auf Francke ausgeübt"'. Spener lobt Luthers
Gelehrsamkeit, Nächstenliebe und vorbildliches Leben. Luther
sei ein stattliches Werkzeug Gottes, eine treue Werkstatt des Heiligen
Geistes gewesen. Er habe die angemaßte Gewalt des Papsttums
und die falsche Werkheiligkeit überwunden1'". Dann aber
macht Spener Einschränkungen, die den Einfluß der spiritualisti-
schen und täuferischen Kritik am Reformator verraten. Die Hochachtung
vor Luther dürfe nicht zu einem falschen Autoritätsglauben
führen. Man solle aus dem heiligen Mann keinen Götzen machen.
Er sei ein Mensch mit seinen Fehlern gewesen. In seinen Schriften
fänden sich auch Meinungen, denen man nicht folgen sollte. Luther
habe seine Grenzen und ebenso auch die Reformation ihre Unzulänglichkeiten1
''1. Sie hätte fortgesetzt werden müssen. Vor allem
sei die Reformation des Lebens hinter der Reformation der Lehre
zurückgeblieben1'-. Nach Luthers Tod seien manche guten Ansätze

Vgl. H. Leube. a.a.O.. S. 157ff.
"') EP. Vorrede, b 4a.

"-) Vgl. insbesondere Gottfried Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-
Historie. Frankfurt/M. 1699f.. II. S. 476.

"') Martin Statius, Lutherus redivivus. Stettin 1654, S. 14ff. "'■) ib., S. 354ff.

"') ib., S. 14ff.. 27ff„ 29«. «*i ib., S. 40ff.. 331ff.
ib., Vorwort, S. 16f., S. 368ff.. 377ff.

"*) Christian Kortholt, Historia ecclesiastica - novi testamenti, Leipzig 1697,
S- 693ff. - Vgl. LP I, 279f.

""J Vgl. P. Grünberg, Philipp Jakob Spener I, 1893, S. 520ff. - M. Schmidt,
sPener und Luther. Luther-Jahrbuch 1957. S. 102H.

1;'J) Ph. J. Spener, Erste Geistliche Schriften, Frankfurt/M. 1699. II, S. 346«.
) Ders., Erbauliche Evangelisch- u. Epistolische Sonntags-Andachten, Frank-
furt/M. 1716, S. 715.

"-') Ders., Consilia et Judicia theologica latina. Frankfurt/M. 1699, III. S. 192.

1!3) Ders., Lauterkeit Defi Evangelischen Christenthums. Halle 1706/09. Ia, S. 192.

wieder verschüttet worden, obwohl es auch in diesen Zeiten Zeugen
der Wahrheit wie Johann Arnd und andere gegeben habe1,1.

V.

Zusammenfassend können wir feststellen, daß der formale
AnsatzderGedankenführung Franckes weitgehend den
Intentionen Luthers entspricht. Das Grundprinzip der Reformation,
die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnaden, wird aus der
lutherischen Tradition übernommen. Die zentralen Glaubensfragen
werden im Geist der lutherischen Bekenntnisse beantwortet. Man
darf sagen, daß Francke der Lehre Luthers im wesentlichen treu
geblieben ist.

Wohl aber weist die inhaltliche Durchführung der
lutherischen Grundgedanken fremde Akzente, Verfärbungen und
auch sachliche Veränderungen auf. Unter der Einwirkung vornehmlich
mystischer und reformierter Ideen gewinnen praktisch-psychologische
Erwägungen an Raum, werden anthropologische Nuancen
erkennbar und treten subjektivistische Tendenzen hervor. Auf
diese inneren Verschiebungen haben die Gegner Franckes aufmerksam
reagiert und sein Luthertum in Zweifel gezogen.

Die Spannung zwischen der Gedankenwelt Luthers und den
genannten fremden Kräften läßt sich auf allen Gebieten der Theologie
Franckes nachweisen. Die Heilsordung ist allein in Gottes
Willen begründet, sie beinhaltet aber einen psychologisch erfahrbaren
Prozeß, der sich im Menschen vollzieht. Die Rechtfertigung
erfolgt allein durch Gottes Gnade, aber der Mensch muß sich von
Gott ziehen lassen. Der Glaube kommt durch das Wort Gottes,
aber neben dem Wort darf die vom Geist im Herzen gewirkte
Wiedergeburt nicht vernachlässigt werden. Der Mensch wird gerecht
allein durch den Glauben, aber der Glaube muß in guten
Werken erkennbar werden. Der Leib Christi ist im Sakrament
real gegenwärtig, aber beim Abendmahl kommt es vor allem auf
das gläubige Gedächtnis des Todes Christi an. Der in der Taufe
vollzogene Bund Gottes mit dem Menschen wird seitens Gottes
niemals gebrochen, aber er muß auch seitens des Menschen durch
die Buße realisiert werden.

Der aufgezeigte Tatbestand macht deutlich, daß man sich weder
mit dem Selbstverständnis Franckes noch mit dem Urteil seiner
Gegner zufriedengeben kann. Man darf sich weder durch den
lutherischen Ansatz dazu verleiten lassen, Francke als getreuen
Interpreten Luthers zu verstehen, noch darf man aus den Verfärbungen
der lutherischen Gedanken den Schluß ziehen, daß er in
mystisch-katholische Gedankengänge zurückgefallen sei.

Es ist kein Zweifel, daß Francke von dem Anliegen beseelt
war, den echten Luther wieder erstehen zu lassen. Es ist ihm
auch gelungen, wesentliche, lange vergessene Intentionen Luthers
zu verwirklichen. Er hatte, wie einst Luther, ein Organ für die
Urkräftc christlichen Glaubens. Er hatte ein intuitives Gefühl für
das dynamische, den ganzen Menschen in Anspruch nehmende
Glaubensverständnis des Reformators und empfand auf Grund
seiner nicht nur von genuin lutherischen, sondern auch von mystischen
und calvinistischen Ideen geprägten Auffassung die einseitige
intellektualistische Interpretation Luthers durch die Orthodoxie
als schweren Mangel. Dadurch, daß er, obschon im Widerspruch
, auf die Fragestellung der Orthodoxie einging, ist es allerdings
zu einer einseitigen Betonung der von ihr vernachlässigten
Gedankcnkomplexe der Theologie Luthers und damit zu einem
eigenwilligen Lutherverständnis gekommen.

Archäologische Zeugnisse für Anfänge des Chrislenlums

Von Gert H a e n d 1 e r, Rostock

Gottfried Holtz zum 70. Geburtstag

Die Bedeutung archäologischer Zeugnisse für die Kirchengeschichte
ist vielfältig und wird heute kaum noch bestritten. Für
die spezielle Frage nach den Anfängen des Christentums können
treilich archäologische Zeugnisse nur für bestimmte Epochen und
bestimmte Landschaften Bedeutung haben -, und selbst da ist
der Umfang dieser Bedeutung umstritten. Doch ist es erfreulich,

daß man in den letzten Jahrzehnten überhaupt diese Problematik
mehr in den Blick bekam. Es geht vor allem um die Anfänge des
Christentums in Mittel- und Nordeuropa. Noch für Haucks Kirchengeschichte
Deutschlands waren archäologische Zeugnisse für
die Anfänge des Christentums relativ bedeutungslos. Inzwischen
wurden zahlreiche neue Funde gemacht. Ein gesteigertes Inter-