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Ausgabe:

1969

Spalte:

929-930

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wilhelmi, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Hamburger Kirche in der nationalsozialistischen Zeit 1933 - 1945 1969

Rezensent:

Meier, Kurt

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Seite 1

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929 Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 12

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

W i 1 h e 1 m i, Heinrich: Die Hamburger Kirche in der nationalsozialistischen
Zeit 1933-1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1968. 326 S. gr. 8G = Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes
, hrsg. von H. Brunorte und E. Wolf, Ergänzungsreihe,
5. Kart. DM19,80.

Da die Auseinandersetzungen in der Ev.-luth. Kirche im Hamburger
Staate während des Dritten Reiches „stärker als in anderen
deutschen Territorialkirchen durch die Rivalität einzelner Männer
bestimmt" waren (so Georg Kretschmar im Vorwort), ist der Versuch
, die Gestalt des DC-Bischofs Franz Tügel (1888-1946) ins
Zentrum der Darstellung zu rücken, durchaus begründet. Im
Unterschied zu dieser geradezu biographisch verdichteten und auf
Motiverhellung bedachten Charakterisierung, die Tügel erfährt,
wirken fast alle anderen Akteure auf kirchenpolitischem Feld
blaß und unprofiliert. Eine Ausnahme bildet Tügels Amtsvorgänger
und Antipode Simon Schöffel (1880-1959), dessen Person
lichkeitsbild deutliche Konturen aufweist.

Der kurz vor Erscheinen des Buches verstorbene Verfasser
(1914-1956 hamburgischer Pastor in Alt-Barmbek), ursprünglich
Freund Tügels, im Kirchenkampf Bruderratsmitglied der sehr
disparaten, bald heillos zerklüfteten Hamburger Bekenntnisgemeinschaft
, versucht, den Weg Franz Tügels, der als Vertreter
und Gauobmann der Deutschen Christen Hamburgs März 1934
(nach erzwungenem Rücktritt Schöffeis) ins Bischofsamt kam,
kritisch zu verstehen. Immer neu ansetzendes, geradezu bohrendes
Fragen begleitet die sehr detaillierte, materialmäfiig stark angereicherte
, oft etwas spiralenförmig konzipierte Darstellung, die
auch in die Geschichte der Hamburger Kirche hineinleuchtet. So
schließt sich rückblickenden Darlegungen über das Luthertum in
Hamburg z. B. die Kennzeichnung der Bemühungen der Hauptpastoren
Schöffel und Knolle an, die in den zwanziger Jahren
für ein lutherisches Bischofsamt in Hamburg eintraten, das die
Kirchenverfassung von 1923 noch nicht vorsah. Das Seniorat
wurde allerdings erst im Frühjahr 1933 abgeschafft und das neugeschaffene
Bischofsamt mit Simon Schöffel besetzt. Senior Horn
wurde dabei - wohl ein singulärer Fall in der kirchenpolitischen
Situation des Jahres 1933 - von Jungreformatoren und DC-Pa-
storen gemeinsam zum Rücktritt veranlaßt. Von Anfang an gegen
v. Bodelschwinghs Reichsbischofskandidatur eingestellt, stand
Schöffel, vom Verfasser ähnlich wie Tügel als ehrgeizig geschildert
, hinter Ludwig Müller und wurde Mitglied der Einstweiligen
Leitung, dann lutherisches Mitglied des Geistlichen Ministeriums
der DEK. Auseinandersetzungen dort und sein Rücktritt boten
Argumente für radikale Kräfte der DC-Landesführung Nord-West,
die sich von der Kirchenführung ausgeschlossen und ihr DC-An-
•iegen nicht entsprechend vertreten sahen, auf Schöffeis Sturz in
Hamburg hinzuarbeiten. Sein Nachfolger Tügel, ähnlich offen für
den .nationalen Aufbruch" zu Anfang der dreißiger Jahre, war
'm Unterschied zu Schöffel Mitglied der NSDAP geworden und
hatte - ebenfalls schon vor 1933 - literarisch für Ausräumung
kirchlicher Bedenken gegen den Nationalsozialismus gewirkt. Die
auf Wirkung abgestellte Predigtweise Tügels und seine praktischkirchliche
Grundhaltung begegneten sich mit dem volksmissio-
narischen Anliegen der Deutschen Christen, deren Organisierung
■ in Hamburg als Parteibefehl aufgefaßt hatte und die er je
länger je mehr seiner kirchlichen Führung unterordnete und
•organisatorisch bedeutungslos werden ließ.

Nach dem Zusammenbruch des Eingliederungswerkes Ende 1934
versuchte Tügel, die landeskirchliche Rechtsgrundlage zu sichern,
fahrend die inzwischen entstandene Bekenntnisgemeinschaft ihm
und seiner Kirchenregicrung die Qualität geistlicher Leitung absprach
. Ein nichtsdestoweniger schon seit 1935 ins Werk gesetzter
Planvoller landcskirchlichcr Befriedungskurs sollte die Brücke zu
möglichst vielen Bekenntnispastoren in Hamburg schlagen, provozierte
jedoch andererseits den Protest radikaler DC-Kräfte, von
denen sich Tügel zunehmend scharf absetzte. Die Niederlegung
des DC-Gauobmannsamtcs durch Tügel und sein Austritt aus der
DC-Bewcgung sollte auf die Bekenntnisfront beschwichigend wirken
wie die Zurücknahme angefochtener Verordnungen die landesbischöfliche
Position sichern half. Der Ordnungsversuch des
Keichskirchcnausschusses, der einen paritätischen Landeskirchenrat
unter Tügels Führung bilden, also auch BK- und Mittelkräfte
an der Kirchenführung beteiligen wollte, kam vor allem darum

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nicht zum Ziel, weil der Reichsstatthalter Kaufmann Personalvorschläge
machte (so Oberkirchenrat Dr. Boll und andere radikale
Deutsche Christen sowie Laien mit Goldenem Parteiabzeichen),
die weder Tügel noch der Reichskirchenausschuß Zoellners akzeptieren
konnten und wollten. Auf Tügels Beteiligung an einer treuhänderischen
Kirchenregierung wollte die NSDAP ausdrücklich
verzichten, da sein Kurs als Annäherung an die Bekenntnisfront
hingestellt und beargwöhnt wurde. So blieb dem Reichskirchenausschuß
nur übrig, an die Bereitschaft aller kirchlichen Gruppen
in Hamburg zu appellieren, die innerkirchliche Einheit selbst herzustellen
. Ende 1936 rangierte Hamburg unter den „geordneten
Kirchen"!

Der Tiefstand im Verhältnis zwischen Landesbischof und Reichsstatthalter
war zweifellos Anfang 1937 erreicht, als eine Pastorenversammlung
im Altarraum der Jacobikirche durch die Gestapo
überwacht wurde. Tügel hatte dort Gravamina über das Verhalten
der NSDAP gegenüber der Kirche vorgebracht und zum Anschluß
der Landeskirche an den Rat der Ev.-Luth. Kirche Deutschlands
ermuntert, den er freilich dann doch nicht vollzog. In diesem
Zusammenhang aus der NSDAP ausgeschlossen, gelang es Tügel
Mitte 1937, den Parteiausschluß rückgängig zu machen. In der
Folgezeit war er sehr darauf bedacht, „sein wieder gutgewordenes
Verhältnis" zur NSDAP nicht aufs Spiel zu setzen. Die
Meinung, daß der Widerstand Tügels gegen die „Grundsätze"
Kerrls, deren Unterzeichnung im Zusammenhang mit den Sammlungsbemühungen
um die Godesberger Erklärung Frühjahr 1939
auch Tügel - wenn auch vergebens - zugemutet wurde, eine Abweichung
von dieser vorsichtig-taktierenden Haltung dem Reichsstatthalter
gegenüber gewesen sei, setzt voraus, dafj die NSDAP
in Hamburg tatsächlich an der kirchenministeriellen Konzeption
interessiert war. Gibt es dafür Belege? Die Erklärung der DC-
Kirchenleiter vom 4.4.1939, die auf der Grundlage der Godesberger
Erklärung konzipiert war, löste sarkastische Bemerkungen
Tügels aus: ihre Verfasser hätten „von Kirche keine Ahnung".
Diese Kennzeichnung wird verständlich, wenn man bedenkt, daß
Tügel wie übrigens auch die meisten Hamburger DC-Pastoren
bewußt und betont am lutherischen Bekenntnis festhalten
wollte.

Es ist auch ein Vorzug des Buches, daß der bemerkenswerte
Wandel einzelner Theologen im Umkreis Schöffeis von ursprünglicher
DC-Mitgliedschaft zur Bekenntnisposition ins Blickfeld gerückt
wird. So hatte nicht nur Hauptpastor Knolle 1933 im Vertrauen
auf Tügels kirchliche Führung der Deutschen Christen
ihnen zugehört; auch P. Forck, der einzige im Bruderrat, der
insofern eine „klare Linie" vertrat, als er sich mit der lediglich
geistlichen Leitung, die die Bekenntnisgemeinschaft für ihre Glieder
beanspruchte, nicht zufriedengeben wollte, war ihnen vorübergehend
beigetreten. Auch rückläufige Entwicklungen gab es:
nicht wenige Bekenntnispastoren zogen sich, angewidert von der
„Selbstzerfleischung" der Bekenntnisgemeinschaft in Hamburg, beeindruckt
von dem neuen Kurs, den Tügel steuerte, nicht unbeeinflußt
von persönlichen Sympathien, die Tügel von früher her genoß
, auch darum auf eine landeskirchliche Position zurück, die
in manchem den Vorstellungen einer nicht unbeträchtlichen kirch
liehen „Mitte" glich, weil sie die Berechtigung nicht mehr einsahen
, sich weiterhin gegen Tügels Kirchenregiment auf Schrift
und Bekenntnis zu berufen. Ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse
wirft der Versuch von P. Forck, den dahlemitischen
Anspruch mit der bruderrätlichen Realität in Hamburg durch
folgendes Dictum auszugleichen: „Obwohl wir in Hamburg ein
Kirchenregiment nie für uns in Anspruch genommen, ist der
Bruderrat, der die geistliche Autorität für sich in Anspruch
nimmt, ... de facto Kirchenregiment" (217).

Der Arbeit Wilhelmis ist zugutegekommen, daß er die Korrespondenzen
des Landesbischofs Tügel, der sie 1944 geschlossen
dem Archiv des Landeskirchenamtes übergab, auswerten konnte.
Die maschinenschriftliche Autobiographie Tügels (Mein Weg.
Von ragenden Türmen zu klagenden Trümmern. Aus dem Leben
eines lutherischen Bischofs. Diktiert 1941-44) hat der Verfasser
erst auf Drängen von Kurt Dietrich Schmidt gelesen; doch ist
manches davon in den Anmerkungen des Buches, dessen Manuskript
etwa 1960 abgeschlossen war, kritisch berücksichtigt. Auf
das biographische Angaben enthaltende Personenregister, das von
Dr. Carsten Nicolaisen erstellt wurde, sei besonders hingewiesen.

Leipzig Kurt Meier