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Ausgabe:

1969

Spalte:

914-915

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neugebauer, Fritz

Titel/Untertitel:

Die Entstehung des Johannesevangeliums 1969

Rezensent:

Haufe, Günter

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Theologische Litcraturzcitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 12

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organisierten aktiven Zelotismus für die Jahre der Wirksamkeit Jesu
historisch nicht belegt ist, kommt Br. auch in dieser Frage über
mehr als Postulate nicht hinaus. Diese werden durch den Hinweis
auf Simon Zelotes als einen der Zwölf, auf den „revolutionären
Akt" der Tempelreinigung, in dem Jesu Bewegung mit der zelotischen
„konvergiert", und auf die Tatsache, daß die mit ihm
Gekreuzigten den von Josephus für die Zeloten gebrauchten Namen
„Räuber" erhalten, doch nur schwach, wenn überhaupt gestützt.

Diese Ergebnisse für die Geschichte Jesu gewinnt Br. aus weit
gespannten Erörterungen der Römischen Exekution Jesu (Kap. I),
der Geschichte und Ziele des Zelotismus (Kap. II, III), des palästinensischen
Judenchristentums (Kap. IV) und einer Kritik der
Evangelienschreibung (Kap. V, TI). Zur Charakteristik von Wert
und Tragfähigkeit dieser als Beweisgrundlagcn für das Jesusbild
dienenden Ausführungen sei das Folgende herausgegriffen.

Das palästinensische Judenchristentum wird als eine rein jüdische
Sekte ebionitischer Prägung gekennzeichnet. Ihre escha-
tologische Erwartung ist die von zcalous Jews, die erwarten, daß
Jesus kommen werde, to restore Israels freedom from the Roman
yoke. Wie die Zeloten von den Nachkommen des Begründers Judas
geführt werden, so die Christen durch das Kalifat des Jakobus
und des Symeon. Ihre radikalen messianischen Erwartungen und
ihr sozialer status verbindet sie mehr und mehr mit den Zeloten,
mit denen sie schließlich im Jüdischen Kriege untergehen. Die
Flucht nach Pella ist Legende. Der niedere Priesterstand zählt
gleichzeitig zu ihren Anhängern wie zu denen der zelotischen
Sekte. Zu Paulus, seiner Präexistenz- und Welterlöser-Christologie,
seiner Gesetzeskritik und seiner universalistischen Ekklesiologie
steht dieses Christentum im striktesten Gegensatz. Beim Apostelkonzil
wird zunächst der Versuch gemacht, die Tatsache der Heidenmission
unter Kontrolle zu bringen und sie finanziell auszubeuten
. Als man jedoch den antijüdischen Charakter der pauli-
nischen Mission und Theologie durchschaut, wird die Gegenmission
eröffnet. Die von Paulus bekämpften Gegner sind also immer
diese Palästinenser unter Führung des Jakobus und Petrus, zwischen
denen nicht differenziert wird. Das „andere Evangelium"
von Gal. 1,6 ist das ihre.

Legitimer Ableger der Jerusalemer Gemeinde ist die Gemeinde
von Alexandria unter Führung des Petrus. Das erklärt, dafi
Paulus nie dorthin ging und dafi der Pauliner Lukas das alex-
andrinische Christentum als geistlos diffamiert. Petrus dagegen
soll nach alter Tübinger Manier als Antipauliner von Alexandria
über Korinth nach Rom gegangen sein und dort messianische Bewegungen
angezettelt haben, die wiederum antisemitische Reaktionen
der Hellenisten und der römischen Regierung hervorriefen.

Das gänzlich unzelotische Bild Jesu, das Mk (auch ein Pauliner
) entwirft und das durch ihn zum bestimmenden Bild aller
Evangelienschreibung wird, ist nach Br. eine apologetische Verzeichnung
der Geschichte Jesu und des geschichtlichen Jesus im Interesse
der römischen Gemeinde, die unmittelbar nach dem jüdischen
Krieg und unter den Impressionen des Triumphes des Titus in
Rom von jedem Anschein einer Verbindung ihres Heros Jesus
,T1it den jüdischen Aufständischen gereinigt werden mufjte. Dafi
Mk Jesus den entweihten Tempel eine „Räuberhöhle" nennen läßt,
•night well have been a current Roman expression for the Zealot-
held Temple (S. 238). Die Pharisäer macht Mk deshalb zu den
Feinden Jesu, weil die Römer mit ihnen eine deutlichere Vorstellung
als mit Jesu wirklichen Feinden, der Priesteraristokratie,
verbinden können (S. 249). Andererseits aber werden in diesem
Evangelium auch die römerfreundlichen Herodianer verunglimpft
(3,6; 12,13), da die Liaison des Titus mit der Herodäerin Berenike
,n Rom degoutiert wurde.

Unter ähnlichen Bedingungen wie Mk in Rom ist Mt in Alexandria
für die dortige Gemeinde geschrieben. Darum konnte der
Entwurf des Mk übernommen, sein jüdischer Charakter aber
mußte verstärkt werden. - Lk wiederum muß in so weiter Entfernung
von Mt geschrieben sein, dafi gegenseitige Kenntnisnahme
nicht möglich war. Nur so konnten beide so unterschiedliche
Darstellungen der Auferstehung geben. Wegen seines hellenistischen
Charakters und seines Paulinismus gehört Lk nach Achaja.

Nichtigstes gemeinsames Ergebnis der Evangelienschreibung ist
die Ausarbeitung des markinischen Jesusbildes zu dem eines
Pacific Christ, das von da ab zur etablierten christlichen Tradition
wurde und einen, wie sich nach dem Gesagten versteht, völlig un-
historischen Jesus wiedergibt.

Statt auf die hier skizzierten und viele andere erstaunliche Erkenntnisse
dieses Buches im einzelnen kritisch einzugehen, beschränke
ich mich auf einige grundlegende Einwände. 1. Von der
Redenquelle, deren Einarbeitung in Mt und Lk doch das Bild des
paeifie Christ weitgehend bestimmt, nimmt Br., soweit ich sehe,
nirgends ausdrücklich, jedenfalls nicht inhaltlich Notiz. Ja, wenn
ich ihn auf S. 309f. richtig verstehe, macht er die Seligpreisungen
und andere pazifische Logien der Bergpredigt zu apologetischen
Erfindungen des Mt für die Bedürfnisse der alexandrinischen Gemeinde
, die sich von den zelotischen Refugies zu distanzieren
hatte. Aber die nicht zu bezweifelnde Herkunft dieser Reden-Überlieferung
aus Palästina - und ihrem Grundtenor nach doch auch von
Jesus selbst - wirft die ganze Konstruktion Br. s um. - 2. Dasgrund-
sätzlich richtige Verständnis der Evangelien aus ihrem Sitz im Leben
der Gemeinden, in denen und für die sie geschrieben wurden,
führt bei Br. zu bösen Verzerrungen, da er dabei von gänzlich
ungesicherten, wenn nicht unwahrscheinlichen örtlichen und zeitlichen
Ansätzen ausgeht und zum andern und vor allem die nach
innen und auf die Verkündigung gerichtete Zielsetzung der Evangelien
außer Betracht läßt und sie ganz einseitig von einem nach
außen, auf apologetische Absicherung gerichteten Zweck her versteht
. - 3. Br. muß fortwährend einräumen, daß von wichtigen
Fakten und Ereignissen der Geschichte des Zelotismus, zu denen
er die Geschichte Jesu und der Judenchristen in Beziehung setzt,
in den von den Evangelien und Acta verarbeiteten Traditionen
nicht Notiz genommen ist. Die jeweils von ihm dafür gesuchten
Erklärungen sind teils schwach, teils untereinander widersprüchlich
, so daß sie aufs Ganze gesehen eher zu der Überzeugung führen
, daß dieses Bild einer engen Verknüpfimg Jesu und der Jerusalemer
Gemeinde mit dem Zelotismus stark überzeichnet, wenn
nicht ganz verzeichnet ist.

Br. bekennt sich durch laufendes Zitieren (vgl. den Index) und
gelegentlich auch expressis verbis (S. 364 A.4) zu Robert Eislers
Jesusbuch, das zwar an nicht ausreichender Befragung der christlichen
Quellen leide, aber als gelehrte Schatzkammer und wegen
seiner denkerischen Schärfe bleibenden Wert behalte. Man wird
leider urteilen müssen, daß auch dieser imposante Versuch, dem
besagten Mangel abzuhelfen, zu keinem überzeugenderen Resultat
geführt hat, und zwar wohl gerade deshalb, weil sich Br. bei der
nachgeholten Befragung der christlichen Quellen nicht von den
scharfsichtigen Grundgedanken Eislers lösen konnte und wollte.

Rostock Konrad Weis»

Neugebauer, Fritz: Die Entstehung des Johannesevangeliums
. Altes und Neues zur Frage seines historischen Ursprungs.
Berlin: Evang. Verlagsanstalt. 39 S. gr. 8° = Aufsätze und Vorträge
zur Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. v. E.
Schott U. H. Urner, 43, und Stuttgart: Calwer Verlag [1968].
Die Frage nach dem historischen Ursprung des vierten Evangeliums
gehört zu den großen, noch immer unerledigten Themen
der neutestamentlichen Wissenschaft. Nachdem auch kritische Antworten
sich nicht allgemein durchsetzen konnten, lag es nahe, es
wieder einmal mit einem Plädoyer für die altkirchliche, von
Irenaus (adv. haer. 111,11.1) repräsentierte Tradition zu versuchen
, derzufolge das Evangelium in polemischer Frontstellung gegen
den kleinasiatischen Gnostiker Kerinth geschrieben worden sei.
Dieses Plädoyer wird von N. mit eindrucksvoller Konsequenz vorgetragen
, dabei aber - abgesehen von der Andeutung im Untertitel
verschwiegen, daß es nur das jüngste in einer ganzen Reihe
ähnlicher älterer Plädoyers darstellt (vgl. Feine-Behm-Kümmel,
Einleitung S. 158). So bleibt dem Leser verborgen, in welchem
Umfang N. „Altes" und „Neues" zu seinem Thema vorträgt.

Sachlich hängt N.s Argumentation entscheidend an der Überzeugung
vom gezielt polemischen Charakter des Evangeliums.-
es setzt bereits dieselbe Situation wie der 1. Johannesbrief voraus
und bezieht sich überdies kritisch auf das Markus-Evangelium.
Selbst wenn man dies für zutreffend hält - Rez. vermag es
nicht -, bleibt zu fragen, ob die polemische Spitze des Evangeliums
(und auch des 1. Johannesbriefes!) sich tatsächlich speziell
gegen Kerinths Anschauungen richtet. Eine Bezugnahme auf Ke-
rinths dualistische Gotteslehre vermag auch N. nicht nachzuweisen
, sowie umgekehrt die aus Joh. 6 erschlossene Verachtung der
Eucharistie für Kerinth lediglich vermutet werden kann. Dafi sich
Joh. polemisch auf die doketische Vorstellung bezieht, der himm-