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Ausgabe:

1969

Spalte:

65-66

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Paus, Ansgar

Titel/Untertitel:

Religiöser Erkenntnisgrund 1969

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 1

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PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Paus, Ansgar: Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft und Wesen
der Aprioritheorie Rudolf Ottos. Leidem Brill 1966. XI, 238 S.
gr. 8°. Lw. hfl. 32,-.

Zu Rudolf Ottos Lebzeiten gab es eine rege Diskussion um seine
religionsphilosophischc und theologische Grundauffassung, vor
allem in den zwanziger Jahren; gegen Ende seines Lebens (gest.
7' 3. 1937) War es jedoch um ihn merklich stiller geworden. Der
Kirchenkampf warf Fragen auf, für die Rudolf Otto keine Antwort
z" haben schien. In neuerer Zeit aber ist zu beobachten, dar} die
Otto-Literatur wieder im Zunehmen begriffen ist. Auch hier zeigt
s'ch das theologiegeschichtliche Gesetz, daß abgerissene Fäden
'fgendeinmal wieder aufgenommen werden müssen. Die Fragestellung
des sogenannten theologischen Liberalismus gleicht einem
solchen abgerissenen Faden. Das vorliegende Buch von Ansgar
Paus wird der künftigen theologischen Erörterung dieser Fragen
von großem Nutzen sein; es bietet eine außerordentlich gründliche
und ergebnisreiche Untersuchung der religionsphilosophischen
Crundgedank en Rudolf Ottos.

Der Verfasser stellt sich die Aufgabe, die Aprioritheorie Ottos
auf Herkunft und Wesen zu untersuchen. Seine Ausgangsthese ist
d'e, daß der Begriff Apriori kennzeichnend ist für das mit Kant
Ansetzende neuere philosophische Denken überhaupt; daran
schliefet Paus die weitere These an, dafj sich von der Klärung der
Aprioritheorie aus das Ganze des religionsphilosophischen Denkens
von Otto hinlänglich erfassen und klären läßt. Das Buch
bringt m. E. den schlüssigen Beweis dafür, daß beide Einsätze
«ich.tig sind.

Der erste Teil des Buches ist der Vorgeschichte von Ottos Frage
nach dem religiösen Apriori gewidmet. Kants transzendentale Bestimmung
des Apriori wird in einer mit zahlreichen Zitaten belegten
und von umfangreicher Sekundärliteratur gestützen Analyse
dargestellt. Es kommt dem Verfasser darauf an zu zeigen, daß
Kants Verwendung des letztlich auf den aristotelischen Begriff
*p6tcpov <pu<jeu zurückgehenden „a priori" an der quaestio juris
Und nicht an der quaestio facti orientiert sei; für Kant gehe es
ausschließlich um die erkenntnistheoretische Legitimierung der
'ranszendentalen Apperzeption. Im Abgehen von diesem geradezu
aromatischen Sinn unterscheiden sich alle jene Denker von Kant,
Welche schließlich der Konzept ion des religiösen Apriori im Sinn
v°n Rudolf Otto vorgearbeitet haben. Ansgar Paus verschweigt
n'cht, daß Kant selbst an manchen Stellen vom bloßen Formalismus
semer ursprünglichen Apriori-Lehre abgewichen sei, legt aber mit
Recht großen Wert auf die Feststellung, daß die Weiterführung bei
Fries und Apelt jedenfalls einen wesentlichen Kantschen Grundgedanken
aufgibt.

Jakob Friedrich Fries versucht, wiewohl er sich als den eigentlichen
Wahrer des Kantschen Erbes gefühlt und bezeichnet hat,
den Formalismus der Apriorilehre material aufzufüllen, indem er
das logische Problem ins Anthropologische verschiebt. Damit wird
der Weg zur Psychologie beschritten, welchen dann Ernst Friedrich
APelt, der wohl bedeutendste Schüler von Fries, weiterverfolgt.
APelts Apperzeptionenlehre ist Erkenntnismetaphysik. Was aprio-
r'Sch ist, hat allgemeine und notwendige Geltung, und diese Geltung
erstreckt sich nun auch auf den Inhalt der Erkenntnis. Von
diesem Ansatz aus erklärt sich letztlich der metaphysische Rang
cs sogenannten „religiösen Apriori", welches dann, verbunden
j~' Schleicrmachers Religionsauffassung nach den Reden von 1799,
lc Crundlage des religionsphilosophischen Denkens von Ernst
Tr°eltsch und Rudolf Otto abgibt.

Im letzten Abschnitt des ersten Teils stellt Paus die Auffassung
jj nst Troeltschs vom religiösen Apriori dar, wobei er, ebenso
"aPP wie instruktiv, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwirnen
Troeltsch und Otto treffend herausarbeitet.

Der zweite Teil ist dem Problem des religiösen Apriori bei Ru-
°" Otto gewidmet. In vier Kapiteln erläutert Paus zunächst die
0raussetzungcn der Ottoschen Religionsphilosophic, sodann die
Psychologisch-phänomcnologischen Grundkategorien dieser Reli-
S'onsphilosophie, weiter die Struktur des religiösen Apriori, und
_ "eßlich das Verhältnis von religiösem Apriori und Geschichte,
etragen ist Ottos Religionsphilosophic von einer durchgängigen
''anschaulichen Basis, die Paus treffend als .transzendentalen
ealimus" kennzeichnet. Es ist eine „realistische" Denkweise, zu
rstehen im Sinn des mittelalterlichen Realismus, sie ist charakterisiert
durch die Auffassung, „wonach die mit den Sinnen
wahrnehmbarer Außenwelt das Bild einer anderen Welt ist" (S. 84).
Nur innerhalb dieses Realismus trägt das religiöse Apriori, was es
soll, hat also einen sowohl subjektiv-psychologischen wie transzen-
dental-ontologischen Rang. Von dieser Grundauffassung aus gelangt
Otto, wie Paus einleuchtend zeigt, in die Na1'" der Mystik,
insbesondere derjenigen von Meister Eckhart; dabei versteht es
sich für Otto immer von selbst, daß die christliche Religion die
reinste Ausprägung des religiösen Apriori ist. Innerhalb dieses
Horizontes kreist Ottos Denken vor allem um die beiden polaren
Brennpunkte, welche für die religiöse Erkenntnis strukturbestimmend
sind; es sind die Transzendenz Gottes einerseits - Gott als
das „Ganz-Andere" -, die religiöse Erfaßbarkeit Gottes im numino-
sen Gefühl andererseits (s. bes. S. 163ff.).

Der dritte Teil des Buches bringt die Kritik und die weiterführenden
Ausblicke des Verfassers. Der erste Einwand von Paus
richtet sich gegen die Methode, welche Otto auf Grund seiner Abweichung
von Kants Apriori-Theorie nicht zu einer wirklichen
Gesamterfassung des Phänomens Religion vordringen lasse; das
zweite Bedenken richtet sich gegen den Begriff der Anlage, welche
bei Otto infolge seiner noch allzusehr dem positivistischen Entwicklungsbegriff
verhafteten Psychologie eine zu starke Bedeutung
gewinne. Paus versucht über diese Schwächen der Ottoschen
Religionsphilosophie hinauszukommen durch den Rückgriff auf
das aristotelisch-scholastische Schema von Akt und Potenz, um zu
jener ontologischen Begründung der Religionsphilosophie zu gelangen
, welche allein es möglich mache, das empirische Phänomen
der Religion auf eine philosophisch erhellbare transzendentale
Realität zurückzuführen.

Es darf hervorgehoben werden, daß der Verfasser dem geistesgeschichtlichen
Rang der Ottoschen Konzeption voll gerecht wird.
Er wendet sich mit guten Gründen gegen zahlreiche Einwände, die
in den letzten Jahrzehnten gegen Ottos Apriori-Theorie vorgebracht
worden sind. Seine eigene Kritik entbehrt jeder polemischen
Schärfe und ist als wertvoller Beitrag zu einer Weiterführung der
Ottoschen Ansätze zu betrachten. Dennoch wünschte ich mir eine
noch stärkere Hervorhebung des von Paus nur sehr zurückhaltend
angedeuteten eigentlichen Grundproblems: Otto hat sich nämlich
um eine Nuance zu stark dem Neukantianismus verschrieben und
auch in seinen späteren Jahren diese Selbstbegrenzung nicht zu erweitern
versucht. Ob dagegen freilich die scholastische Akt-Potenz-
Lehre zu wirklich weiterführenden Lösungen verhilft, sei wenigstens
als Frage vorgebracht.

Es hätte den Rahmen zweifellos gesprengt, wenn Ansgar Paus
noch die religionshistorische Leistung Ottos ausführlich gewürdigt
hätte,- in dieser liegt nämlich die eigentliche Bedeutung von Ottos
Lebenswerk. Die Religionsphilosophie bestimmt zwar durchgängig
die Struktur der Ottoschen Gesamtanschauung, dennoch stellt sie
nicht mehr dar als die formale Propädeutik, die durch den Inhalt
an nicht wenigen Stellen relativiert wird, so, wie mir scheint, besonders
in „Reich Gottes und Menschensohn".

Die Gründlichkeit der vorliegenden Untersuchung ist über jeden
Zweifel erhaben. Der Apparat von Zitaten- und Quellenverweisen
ist außerordentlich umfangreich und verhilft zu einem umfassenden
Verständnis der Ottoschen Religionsphilosophie innerhalb der
zeitgenössischen Philosophie und Theologie; allerdings will mir
scheinen, daß hier des Guten etwas zuviel getan wurde. Die Fußnoten
und Anmerkungen entsprechen in Umfang und Ausführlichkeit
dem, was man von guten Dissertationen erwartet, doch wäre
hier bei der Buchausgabc eine Straffung angebracht gewesen.

An zwei Stellen berührt Paus noch ein weiteres Gebiet, welches
er im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich
behandeln konnte: es ist der Grenzbereich zwischen der Religionsphilosophie
und der Tiefenpsychologie, in welchen man durch das
religiöse Apriori unausweichlich hineingeführt wird (S. 141, 218).
Es wäre zu wünschen, daß der Verfasser sich in einer weiteren
Untersuchung auf diesen Bereich einließe, um von hier aus die
Darlegung abzurunden.

Das Werk von Ansgar Paus verdient auf jeden Fall stärkste Beachtung
. Es bietet eine tragfähige Grundlage für jede Weiterarbeit
an den religionsphilosophischen Voraussetzungen der Religionswissenschaft
, und trägt damit wesentlich dazu bei, das Lebensweik
Rudolf Ottos auch fernerhin fruchtbar werden zu lassen.

Saarbrucken Ulrich Mann