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Ausgabe:

1969

Spalte:

63-64

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Biblia pauperum 1969

Rezensent:

Jursch, Hanna

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 1

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pietistische Bewegung habe ihren Höhepunkt überschritten und
sei in die Verteidigungsstellung gedrängt. So nennt er 1718 als
speziellen Zweck der erweiterten Spener-Biographie, er wolle die
Nachwelt davon überzeugen, daß die Zeit .darinnen wir gelebt,
ein Tag des Heils gewesen ist", und zwar in Anbetracht »der
Gerichte, die Gott über seine Kirche kommen läßt" (als Folge
des Einbruchs des Papsttums und des Aufkommens neuer Irrlehren
innerhalb der evangelischen Kirche) (S. 149/50).

In all dem wird m. E. sichtbar, daß Canstein den Prozeß der Ver-
kirchlichung des Pietismus, die Rückwendung zur Rechtgläubigkeit
im Sinne des Konkordienbuches und die Ausscheidung der
ursprünglich auch in der Spenerschen Theologie vorhandenen
spiritualistischen Elemente weiter vorangetrieben hat. Wenn das
oben Erwähnte richtig ist, so muß man den Cansteinschen theologischen
Bemühungen eine gewisse Eigenständigkeit zuerkennen.

Welche Bedeutung man diesen Dingen beimißt, hängt freilich
davon ab, wie hoch man den Einfluß des Spiritualismus und des
Chiliasmus auf den Pietismus überhaupt ansetzt - und darüber
gehen die Meinungen in der Forschung bis heute auseinander.
Auf jeden Fall wird dadurch der Wert dieser soliden Arbeit, die
dem Verfasser unendliche Mühe gekostet hat, nicht gemindert.
Sie wird grundlegend sein für alle weiteren Forschungen über
Canstein.

Freiburg Breisgau Klaus Deppermann

GESCHICHTE DER
CHRISTLICHEN KUNST

B i b 1 i a Pauperum. Faksimileausgabc des vierzigblättrigen Ar-
menbibel-Blockbuches in der Bibliothek der Erzdiözese Eszter-
gom. Erläuternder Text von E. S o 11 e s z, übers, v. G. Engl. Ber-
iin: Union Verlag [1967], XXXV S. m. Abb., 39 färb. Taf. 4°. Lw.
M38,-.

Unser Jahrhundert hat sich der Erforschung der Armenbibeln
(Biblia Pauperum) mit besonderer Intensität angenommen. Ein
neuer Beweis dafür ist die Faksimile-Ausgabe des Esztergomer
Elockbuches. Sie bietet in der vorzüglichen Wiedergabe der Bilder
einen Genuß für jeden Kunstsinnigen, geht aber in der Zielsetzung
der Einführung von E. S. weit über die rein ästhetischen Belange
hinaus. Wir werden nicht nur über das vorliegende Exemplar, sondern
in Kürze über die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet
der BP unterrichtet. Der besondere Reiz der Blockbücher des
15. Jahrhunderts liegt darin, daß sie ihren Stoff dem Mittelalter
verdanken, während die Art der Darstellung ein neues Wirklichkeitserlebnis
verrät.

Die in den BP greifbare Tendenz typologischer Betrachtungsweise
im Bilde ist bereits im 12. Jahrhundert verbreitet (z. B. Altar
in Klosterneuburg). Die ältesten BP-Handschriften gehen nicht direkt
auf diese Zyklen zurück, aber ihr Archetyp dürfte vor der
Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Charakteristisch für
alle BP ist die Darstellung des Stoffes in Gruppen: Dem NT-Anti-
typus sind zwei AT-Typen und vier Propheten zugeordnet; jede
Bildgruppe wird durch drei Tituli, zwei Lektionen und vier Prophetensprüche
erklärt. Die BP-Handschriften des 14. Jahrhunderts, die
in der Regel 34 Bildgruppen enthalten, gehören je nach ihrer Komposition
der Österreichischen, Weimarer oder Bayrischen Handschriftenfamilie
an.

Der Name BP wurde im Mittelalter auch auf Werke ohne Bilder
und ohne typologischen Sinngehalt angewendet. Für die heute
so genannten BP gab es keine einheitliche Benennung. Problemarisch
ist vor allem die Bedeutung von pauper in diesem Zusammenhang
. Sollten die Ketzer, die die biblische Armut verwirklichen
wollten und sich vor allem auf das NT stützten, durch die
Typologie von der Einheit der Bibel überzeugt werden (Weckwerth) ?
Aber ist nicht - so möchte ich fragen - in der Zeit der größten
Verbreitung der BP-Handschriften im 14. Jahrhundert die Ketzergefahr
längst durch brutale Mittel gebannt? Sicher dienten die BP
Predigern und Mönchen zu didaktischen Zwecken.

Ihre größte Verbreitung erreichten die BP erst im 15. Jahrhundert
in der Gestalt des Blockbuches. Unter den Blockbüchern verschiedener
Blattanzahl ist die 40blättrige die populärste geworden.
Die Erweiterung des Programms geht auf Anregung des Speculum
humanae salvationis zurück. Das 40b!ättrige Blockbuch zeiat weit
gehende Übereinstimmung mit der handschriftlichen BP im Museum
in Haag, hat aber auch gewisse Eigentümlichkeiten mit dem
Rotulos im Serail gemein, der wohl die Arbeit eines venezianischen
Künstlers ist. Aber ungleich stärker spiegeln die Blockbücher die
nördliche Lebensform wider. Das 40blättrige Blockbuch verrät
die nüchterne Wirklichkeitsschau der holländischen Kunst des
15. Jahrhunderts und zeigt Verwandtschaft mit zeitgenössischen
holländischen Meistern. Die allgemeinverständliche Sprache des
Holzschnitts war geeignet, den BP nun auch in bürgerlichen
Kreisen eine weite Verbreitung zu sichern.

Das 40blättrige Blockbuch der BP steht in Beziehung zu anderen
Blockbüchern jener Zeit. Der niederländischen Ausgabe der
Apokalypse gegenüber vertritt die BP eine spätere Entwicklungsphase
. Eine enge Verbindung besteht hingegen zwischen der BP
und' dem Blockbuch des Canticum canticorum, abgesehen von den
im wesentlichen durch die lyrische Stimmung bedingten Unterschieden
. Sehr nah steht der BP auch die erste Holzschnittausgabe
des Speculum humanae salvationis. Entwicklungsmäßig steht die
40blättrige BP in der Geschichte der niederländischen Blockbücher
zwischen Apokalypse und Speculum. Eine Motiwerbindung besteht
auch zwischen der BP und der Nürnberger Gregorsmesse mit holländischem
Text. Das 40blättrige Blockbuch der BP erweist sich
also als niederländischen Ursprungs. Die Datierung der Blockbücher
kann nicht durch Beweise gesichert werden. Aber man hat heute
die Schreibersche Spätdatierung: ab 1460, nach Gutenbergs Erfindung
, allgemein aufgegeben. Da sich die Herstellungstechnik
der Blockbücher in den Niederlanden auf jeden Fall früher durchgesetzt
hat als die Buchdruckerkunst und man die Gregorsmnssr
heute eher vor 1450 datiert, steht einer Datierung der BP-Blockbücher
in der ersten Jahrhunderthälfte nichts mehr entgegen.

Schreiber hat die Esztergomer Armenbibel nicht gekannt, daher
ist sie nicht international registriert worden. Sie gehört in
die 1. Schreibersche Gruppe. Das Exemplar ist schon im 15. Jahrhundert
in italienischen Besitz gekommen und bis ins 18. Jahrhundert
dort verblieben. Wie es nach Ungarn gekommen ist, ist nicht
mehr zu ermitteln. Es ist heute Eigentum der Bibliothek der Erzdiözese
als Teil der Simor-Bibliothek.

Das Esztergomer Blockbuch ist ein Exemplar der von Schreiber
als 1. Ausgabe bezeichneten 40blättrigen BP. Die Verf- zeigt
die Charakteristika der 8. Schreiberschen Ausgabe auf, um Stil
und Wert der 1. Ausgabe deutlich zu machen. Die 1. Ausgabe läßt
eine entwickeltere Technik erkennen. Die Darstellung hat an Wirklichkeitstreue
gewonnen. Die erste Ausgabe ist später als die sogenannte
8., sie ist um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu datieren.

18 Blätter des Esztcrgomc- Blockbuches tragen Wasserzeichen der
Champagne. Dieses Papier war in Frankreich und den Niederlanden
gebräuchlich. Das widerspricht der niederländischen Herkunft
des Buches nicht, da man hier vor der eigenen Papiererzeugung
das Material aus den verschiedensten Ländern bezog. Das Esztergomer
Blockbuch ist, wie es damals üblich war, nachträglich koloriert
worden. Der feinen Holzschneidetechnik entsprechen zarte
Farben. Die Kolorierung scheint von einer Hand, obwohl nicht
immer mit der gleichen Sorgfalt, ausgeführt zu sein. Bei Vorgängen
des Alltags werden frische Farben verwendet, bei tragischen Ereignissen
wird die Farbe der Stimmung angepaßt: Durch die symbolische
Kraft der Farben wird der Ausdruck gesteigert. Auch die
Ausmalung bestätigt die Entstehung der Esztergomer BP in den
Niederlanden.

Der Einführung ist ein sehr nützliches Register der Bibelstellen
für jede Bildgruppe hinzugefügt.

Zum Schluß einige Bemerkungen: Vielleicht wäre es gut, das
Wort Allegorie im Zusammenhang der BP zu vermeiden. Es handelt
sich um ein typologisches Werk, aber nicht um Allegorese. S. X
heißt es zur linken Szene des 13. Holzschnitts, daß hier außer dem
reuigen auch der büßende David dargestellt sei, „damit seine niedergebeugte
Gestalt den allegorischen Zusammenhang mit der
neutestamentlichen Szene besser zum Ausdruck" bringen könne
(NT: liegende Gestalt bei der Salbung Christi). Ich würde sagen:
um den formalen (nicht allegorischen!) Zusammenhang mit der
NT-Szene zum Ausdruck zu bringen. - Darstellungen aus der
Katakombenmalerei (S. IV) bereits typologisch zu verstehen, ist
meines Erachtens historisch nicht zu rechtfertigen.

Bild und Text sind in ausgezeichneter Weise zum Verständnis
spätmittelalterlicher Frömmigkeit geeignet.

Jena Hanna J u r s c h