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Ausgabe:

1969

Spalte:

61-63

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schicketanz, Peter

Titel/Untertitel:

Carl Hildebrand von Cansteins Beziehungen zu Philipp Jacob Spener 1969

Rezensent:

Deppermann, Klaus

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 1

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Fesseln der Philister" zu sprengen und die aller gelehrten Syntax gierung und zum Adel benutzte, um die Kirchenpatrone zu verspottende
Sprachkraft Luthers ein wenig im eigenen, zeitnahen anlassen, vakante Stellen mit Pietisten zu besetzen. Für die Inten-
Idiom zum Klingen zu bringen. Ich vermisse auch ein festeres sität der Beziehungen zwischen Spener und Canstein ist besonders
Zupacken und Durchbrechen konventioneller Ansichten. Die Ge- erhellend die Schilderung der letzten Lebensmonate Speners, in
schichte braucht kritische Anschaulichkeit, wenn die Vergan- denen der Patriarch der Pietisten Canstein zum Vormund für seine
üenheit zur Gegenwart reden soll. beiden noch unmündigen Kinder und zum Verwalter seines lite-
Jcder kennt die Misere der heutigen kirchenhistorischen Bildung, rarischen Nachlasses einsetzte sowie ihm als einzigem seine kühnster
die Geschichte wird nur lebendig, wenn sie e r z ä h 11 wird, sten Hoffnungen hinsichtlich einer „Besserung auf Erden" an-
"nd der historische Essay ist m. E. heute die einzige pädagogisch- vertraute.

didaktische Möglichkeit, sie den Menschen unserer Zeit überhaupt Für Canstein erwies sich die Vormundschaft und Nachlaßver-

nahezubringen. Darum soll man in ihm weder das Knistern ge- waltung als mühseliges Geschäft, das mit erheblichem Ärger

enrter Pergamente noch den magistralen Lehrton vernehmen, verbunden war. Die beiden Mündel führten keineswegs das von

Der wissenschaftliche Autor braucht nicht zu befürchten, daß er in ihnen erwartete gottselige Leben in aller Ruhe und Ehrbarkeit,

einen sein Ansehen schädigenden unakademischen „Journalismus" sondern zechten recht munter auf Christi Kreide -, ein bemerkens-

j inkt, wenn er sich bemüht, bei den Menschen unserer Zeit das werter Hinweis auf die auch hier vorhandene Diskrepanz zwischen

eresse für die Geschichte an konkreten Beispielen zu wecken. Erziehungsideal und Erziehungswirklichkeit. Die Herausgabe der

Kantzenbach verfügt über beste Kenntnisse der Zeit zwischen postumen Werke Speners durch Canstein wurde von den übrigen

Erweckung und Restauration. Es ist zu wünschen und zu hoffen. Erben Speners mit Ungeduld und Mißtrauen verfolgt,

oaf) er die in dem Bändchen vorgelegten Studien einmal in einem Im Schlußteil seiner Arbeit analysiert Sch. Cansteins Bemühun-

esamtbild jener Epoche zur Darstellung bringt, das für Kirche gen um eine Biographie Speners, nämlich die Entstehung und den

und Wissenschaft in gleicher Weise Erkenntnisreife und Darstel- Inhalt der von Canstein verfaßten großen Vorrede zu den „Letzten

lungskunst verbindet. Theologischen Bedenken" Speners von 1711, die eine Schilderung

Berlin Karl Kupisch , des Lebenslaufes, der „Gnadengaben" und der Theologie Speners

enthält, und die» Studien zu einer wesentlich erweiterten Spener-
Biographi& von 1718/19, welche allerdings bruchstückhaft blieb.

Schicketanz( Peter: Carl Hildebrand von Cansteins Beziehun- Das Manftskripf der unvollendeten zweiten Spener-Biographie

9en zu Philipp Jacob Spener. Witten: Luther-Verlag 1967. 192 S. Cansteins war bisher der Forschung unbekannt und ist von Sch.

gr. 8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, im Auftrag d. unter den Archivalien neu entdeckt worden. Der Verfasser ordnet

Historischen, Kommission zur Erforschung des Pietismus hrsg. die beiden biographischen Versuche "Cansteins in das hochent-

Cari hiidebrand v. Canstein (1667-1719), der Gründer der nach wickelte Geschichts- und Selbstbewußtsein des hallischen Pietismus

ihm benannten Bibelanstalt, zählt zu den einflußreichsten Vertretern ein, als dessen Motive er nennt:

des hallischen Pietismus. Trotz seiner großen Bedeutung für die 1) die aus dem theologischen Ansatz des Pietismus (Einheit von

Entwicklung der Franckeschen Anstalten, für die er sein Vermögen Wort und Tat) sich ergebende Notwendigkeit, die Wirksamkeit der

°Pferte und zahlreiche Geldquellen erschloß, und trotz seiner Ver- neuen Lehre am Leben des führenden Vertreters zu demonstrieren,

dienste um die Verbreitung des Bibelstudiums in Deutschland da nach Speners eigener Ansicht der Wahrheitsbeweis einer Lehre

Zahlt er bis heute zu den Stiefkindern der Pietismusforschung, was in den von ihr ausgelösten Wirkungen besteht,

um so erstaunlicher ist, als das Archiv der Franckeschen Stiftungen 2) die Zurückweisung der Verleumdungen der Gegner,

zahlreiche Manuskripte Cansteins enthält. Schuld daran ist die 3) die Werbung von Freunden, insbesondere zur finanziellen

schwer lesbare, einem Stenogramm ähnelnde Handschrift des Frei- Unterstützung des Waisenhauses - und schließlich und vor allem

herrn, die jeden, der sie zum ersten Male sieht, von einer weiteren 4) die Bezeugung der Lebenskraft des Evangeliums und des

Beschäftigung abschreckt. Wirkens Gottes in der Gegenwart.

s° sind hundert Jahre seit der ersten Canstein-Biographie von Aus dem paradigmatisch-paränetischen und dem apologetischen

Carl Heinrich Christian Plath (1861) vergangen, bis ein zweiter For- Charakter der Biographien Cansteins ergibt sich zwangsläufig,

scher, peter Schicketanz sich an das mühevolle Geschäft der syste- daß man vergebens in ihnen nach einer lebendigen Schilderung

matischen Dechiffrierung der Cansteinschen Hiroglyphen machte, der Individualität Speners sucht.

Als erstem Gelehrten dürfte es ihm gelungen sein, den gesamten Trotz dieses Mangels meint Sch., daß Canstein den Kern der

Briefwechsel Canstein - Francke und die wichtigsten übrigen Spenerschen Theologie richtig erfaßt habe und als völlig selbst-

Cansteiniana annähernd, vollständig zu entziffern. (Der Text der loser Interpret und Zeuge seines „geistlichen Vaters" gelten dürfe.

K°rrespondenz liegt heute druckfertig in maschinenschriftlicher ..An keiner Stelle der vorliegenden Arbeit mußte der Gedanke

Form vor.) Sch. hat damit die Basis für jede weitere Wissenschaft- ernsthaft erwogen werden, ob eine sachliche Differenz zwischen

'che Beschäftigung mit Canstein geschaffen. Nach dieser vorbild- Spener und Canstein vorliege" (S. 146). Hier erhebt sich die Frage,

"chen Grundlegung hat er selbst einen zentralen Bereich im Leben ob durch diese vollständige Identifizierung Cansteins mit Spener

cansteins, nämlich seine Beziehungen zu Philipp Jacob Spener, die theologischen Bemühungen des Freiherrn ganz zutreffend be-

2um Gegenstand einer Darstellung gewählt. urteilt werden oder ob man nicht doch zwischen beiden etwas

. °er Verfasser schildert, wie Canstein etwa 1691 durch die Lek- nuancieren muß. Gegen eine solche' Identifizierung sprechen

türe von Speners „Die lautere Milch des Evangelii" und durch ein m. E. folgende Umstände:

C-elübde, das er in Brabant während des Pfälzischen Krieges ab- 1) Im Gegensatz zu Spener setzt Canstein den Akzent nicht auf

'^3te, als er im Feldlager an der Ruhr erkrankt war, sich zum die Wiedergeburtslehre, sondern auf die Rechtfertigungslehre, und

tatigen Christentum im Sinne des Pietismus bekehrte. Seit 1694 sieht in der Rechtfertigung die eigentliche Gottseligkeit (cf. S. 108) -

entwickelten sich engere persönliche Beziehungen zwischen Spener eine deutliche Rückkehr zur ursprünglichen lutherischen Position.

Und Canstein. Drei Jahre später lernte Canstein August Hermann 2) Dementsprechend übergeht Canstein die spiritualistischen Ein-

Francke kennen und blieb mit ihm in enger Freundschaft bis zu flüsse auf die Anfänge der pietischen Bewegung. Er weigert sich,

feinem Tode verbunden. Durch diese doppelte Bindung war es die Briefe Speners an den Schwärmer Johann Wilhelm Petersen

dem Freiherrn möglich, an Speners Stelle in Berlin die Korrespon- auch nur zur Kenntnis zu nehmen, obwohl sie ihm zugeschickt

denz zwischen den Pietisten in der brandenburgischen Hauptstadt worden waren (cf. S. 119), pointiert statt dessen Speners Warnungen

Und dem hallischen Waisenhaus zu führen, vor allem in der Zeit vor den Weissagungen der Rosamunde v. Asseburg und seine Vor-

1700 bis 1705, als Speners körperliche Kräfte rasch verfielen, sieht bei der Auslegung der Apokalypse (S. 135) und läßt Speners

j-anstein übernahm auch die Vertretung der Wünsche Franckes am Beziehungen zu dem Hauptvertreter der lutherischen Orthodoxie

eriiner Hof, dem er zwar selbst nicht angehörte, welchen er aber in Berlin, Franz Julius Lütgens, in einem günstigeren Licht er

"oer seinen Freund, den Generalleutnant Dubislav Gneomar v. scheinen als wohl sachlich gerechtfertigt war (S. 71).

f'ätzmer. beeinflussen konnte. Er bemühte sich ferner um die Aus- 3) Während Spener von der pietistischen Bewegung eine Regene

r.eitung des Pietismus in Brandenburg und in Ostpreußen (Unter- ration der gesamten Christenheit erwartete und optimistisch in die

^zung Theodor Gehrs und Heinrich Lysius', der Bahnbrecher Zukunft blickte, hat Canstein am Ende seines Lebens ein anderes

des Pietismus in Königsberg), indem er seine Beziehungen zur Re- Gegenwartsverständnis, das bestimmt wird von dem Gefühl, die