Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1969

Spalte:

790-791

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jüngel, Eberhard

Titel/Untertitel:

Predigten 1969

Rezensent:

Winkler, Eberhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

789

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 10

790

an Kranken (§ 8), Tröstung der Sterbenden und Trauernden (§ 9).
Der sorgfältigen Abwehr von Gesetzlichkeit und moralischer
Richterlichkeit wird man nur zustimmen können, denn jegliche
Form von Klerikalismus, ob die behördliche oder die theologische,
ist der Verderb der Seelsorge. Der Verfasser wagt es erfreulicherweise
auch, die Kasuistik zum Zuge kommen zu lassen. Ich wüßte
nicht, wie man über Seelsorge lehrend reden könnte, ohne das
theoretisch Ausgesagte an praktischen Beispielen zu veranschaulichen
, wobei es selbstverständlich oberstes Gebot bleibt, daß
durch die kasuistische Darstellung das Beichtgeheimnis nicht verletzt
wird. Entweder muß man mit dem, den der Casus betrifft,
übereingekommen sein, daß er gegen eine zurückhaltende Veröffentlichung
nichts einzuwenden hat, oder man mufj den Fall so
darstellen, daß der zu interpretierende Vorgang klar herauskommt,
während die belanglosen Daten verändert werden. Mir scheint,
daß Thurneysen so verfährt. Zu den gebotenen Beispielen mufj
freilich gefragt werden, ob sie die heutige Situation des Seelsorgers
wiedergeben. Die Feststellung, daß der seelsorgerlich
Beratene anfing, die Bibel zu lesen und das Vaterunser oder
überhaupt zu beten, muß natürlich mit vollem Respekt entgegengenommen
werden. Aber man fragt sich zweierlei: ob damit die
Aufgabe der Seelsorge wirklich erfüllt ist und ob es nicht zahllose
seelsorgerliche Dienste gibt, die niemals bis zu diesem Ergebnis
führen, aber dennoch als Seelsorge anerkannt werden müssen.

Infolge ihres auf Bibel und Gebet gerichteten Tones machen
die Beispiele durchweg einen autoritativen (ich betone: nicht
autoritären!) Eindruck. Das zeigt sich bis in die Sprache hinein:

„Der Pfarrer macht ihm klar, daß ..." (S. 25).....und dann

kommt es dazu, daß er auch mein Zuhörer wird. Das heißt: ich
lege ihm am Ende unserer Gespräche eine Bibelstelle aus und
bete" (S. 42), „Ich nehme (!) zunächst die Frau für eine gewisse
Zeit aus der Familie heraus" (S. 111). Thurneysen will das „falsch
Pfarrherrliche" verbannt wissen. Dann muß es wohl in seiner
Sicht auch ein »richtig pfarrherrliches" Verhalten geben. In den
erwähnten Beispielen scheint es mir sichtbar zu werden, und das
muß respektiert werden. Vielleicht hängt es auch mit der Tradition
des Calvinismus zusammen; denn das Befehlen und Anordnen lag
Calvin näher als Luther. Ich frage mich nur, ob es heute noch
viele Menschen - auch sogenannte Kirchentreue - gibt, die darauf
ansprechen. Sicher spricht auch Thurneysens Grundthese mit,
Seelsorge sei eine bestimmte Weise der Verkündigung des Wortes
Gottes. Daß sie das auch sein kann, wird niemand ernstlich bezweifeln
. Will man sie jedoch nur so sehen, so wird man zu einer
falschen Bewertung der Theologie gedrängt. Daß ein Mann einer
trauernden Witwe, weil er „einen guten Katechismusunterricht
genossen" hat, durch Auslegung von Joh. 10 und 11 Trost bringt,
stellt Thurneysen unter den Begriff Theologie; der Mann sei
durch den Katechismusunterricht „theologisch gerüstet" gewesen
(S. 34). Das ist dann jedenfalls ein Begriff von Theologie, der aus
dem Bereich der Wissenschaften herausfällt. Die Folge wird jedoch
sein, daß man von der wissenschaftlichen Schulung des Pfarrers
aus Rangstufen theologischer Vorbildung sieht. Selbst das Lob für
den durch guten Katechismusunterricht „theologisch" Gerüsteten
schmeckt schon ein wenig nach dem, was ich akademischen Klerikalismus
nenne. Der erwähnte Tröster würde es vermutlich als
peinlich und nicht ganz glaubwürdig ansehen, wenn man ihm
sagen würde, er habe wie ein rechter Theologe gehandelt; denn
ein derartiges Lob wirkt auf den Belobigten degradierend.

Solche kritischen Erwägungen sollen keineswegs den Verfasser
als Klerikalisten verdächtigen, sie wollen nur verständlich machen,
warum ich seine theologischen Voraussetzungen nicht teilen kann,
wie ich überhaupt finde, man sollte mit dem Vorwurf des Klerikalismus
etwas vorsichtiger umgehen. Darüber wird noch zu
reden sein. Zunächst sei noch hervorgehoben, daß Thurneysen
erfreulicherweise auch auf den „Ort" seelsorgerlicher Gespräche
eingeht. Ich finde in diesem Abschnitt (der unter dem § 7 „Beratung
in Ehefragen" versteckt ist, aber natürlich für alle anderen
Bereiche der Seelsorge gilt) sehr viel Vertrautes, dem ich nur
zustimmen kann. Gegen die Formulierung „Das Zimmer soll auch
einigermaßen (!) geordnet sein" (S. 97) erheben sich mir allerdings
Bedenken.

Im Blick auf den zweiten Teil des Buches, der der konkreten
Seelsorge gewidmet ist, kann ich nur feststellen, daß mich vieles
mit dem Verfasser verbindet. Wenn der erwähnte holländische

Rezensent einen diametralen Gegensatz zu sehen meint, so kann
sich das nur auf die theologischen Voraussetzungen beziehen
(§ 1-6). Thurneysen zählt mich zu den Klerikalisten (S. 12),
während ich mich tatsächlich gegen den beamteten-behördlichen
wie auch gegen den akademisch-theologischen Klerikalismus wende.
Aber hier liegt eben der Unterschied. Thurneysen sieht diesen
zweiten Klerikalismus nicht, der heute bis in die säkularistische
Theologie hinein üppig ins Kraut schießt. Der Grund dürfte der
sein, daß der Verfasser nicht zwischen Amt und Beamtentum
unterscheidet. Dieser Fehler macht sich auf fast jeder Seite seines
Buches geltend. Das Amt, daß weder neben, noch über der Gemeinde
steht, muß neutestamentlich verstanden werden. Dazu
reicht natürlich ein lexikalischer Vergleich, wie oft Luther Amt
gesagt habe, wo im griechischen Text diakonia steht, nicht aus.
Das Amt nach neutestamentlichem Verständnis hat mit dem modernen
Begriff von Amt = Behörde oder = Beamtenstand nichts zu
tun. Es hat zwar auetoritas (vgl. dazu Richard Heinze, AUCTO-
RITAS in: Vom Geist des Römertums, Ges. Aufsätze 31960, S. 43 ff),
aber wahre Autorität gibt wahre Freiheit, sie läßt nicht nur ein
mehr oder minder großes Stück Freiheit, sondern gibt vollkommene
Freiheit. Solche vollkommene Autorität übt der Herr der
Kirche aus. Darum kann das Amt, das er seinen Sendboten gegeben
hat, nur in Demut geübt werden, und jedes Glied der
Gemeinde hat passiv und aktiv daran teil. Aus dem Dienst des
Amtes lebt die Gemeinde. So stehen also Amt und Gemeinde
zueinander in unlösbarer Korrelation, nicht aber der „Amtsträger"
und das „gewöhnliche Gemeindeglied", auch dann nicht, wenn der
Amtsträger „Theologe" ist und anderen zubilligt, daß sie auch
„Theologen" seien.

Weil Thurneysen das neutestamentliche Amt nicht kennt und
wohl gar (mit Bultmann) im Neuen Testament schon Ansätze zu
einem Beamtentum findet, unterscheidet er auch nicht zwischen
autoritärem Verhalten und autoritativem Dienen. Autoritär ist
alle Gewaltübung, die aus irgendeiner bewußten oder angemaßten
Überlegenheit hervorgeht, autoritativ jedoch die lebenweckende
Kraft der liebenden Hingabe. Daher meine Formulierung: „Es ist
der einzige Auftrag des Amtes, das allgemeine Priestertum zu
wecken und zu stärken" (a. a. O. S. 35).

Es würde sicher zu einer Förderung unseres seelsorgerlichen
Dienstes beitragen, wenn wir uns in der Erörterung dieses
Problems offener begegnen würden. Zum Schluß eine scherzhafte
Frage an den aufrichtig verehrten Verfasser: Schmeckt nicht der
Titel seines Buches etwas nach Pfarrherrlichkeit? Ich möchte mich
nicht dem ,.Vollzug" von Seelsorge „unterziehen", aber den Dienst
der Seelsorge lasse ich mir jederzeit gern gefallen. Ich schlage
dem Verfasser vor, die hoffentlich baldige 2. Auflage zu betiteln:
Seelsorge im Dienst.

Hamburg Wnlter U Ii s n d e 1

J ü n g e 1, Eberhard: Predigten. Mit einem Anhang •. Was hat die
Predigt mit dem Text zu tun? München: Kaiser 1968. 143 S. 8°.
Lw. DM 15,-.

Die Predigten des bekannten Systematikers werden in gleicher
Weise dem Text und der Wirklichkeit der Hörer gerecht. Bis
auf wenige Ausnahmen ist die Sprache klar, anschaulich und
lebendig, oft sehr einprägsam, kurz: rhetorisch vorbildlich. Hinsichtlich
der Gliederung kommen die Predigten der Homilie am
nächsten. Geschickt wird z. B. in der Predigt über Gen. 13 die
Homilie durch das strukturgebende Wort „Wir sind doch Brüder"
zusammengehalten. Die Länge der Predigten variiert zwischen vier
und acht Druckseiten, was einer Dauer von etwa 16 bis über
30 Minuten entspricht. Wenn eine verhältnismäßig umfangreiche
Predigt wie die über 2. Kor. 4,7-14 (S. 101-108) mit Spannung
gelesen werden kann (und sicher auch gehört wurde), beweist
sie homiletisches Können des Predigers. In der genannten Predigt
ist das anschauliche Beispiel der Einleitung strukturbestimmend.
Auch die alte rhetorische Forderung, die Rede müsse eine Steigerung
aufweisen, wird oft erfüllt. Der Schluß ist meist sprachlich
besonders sorgfältig und eindringlich gestaltet.

Dankbare Erwähnung verdienen die im Anschluß an die einzelnen
Predigten mitgeteilten Gebete. Ohne gemachte Modernität
finden sie eine unserer Zeit gemäße und zugleich würdige Sprache.
Wie in den Predigten verzichtet Jüngel auf Verfremdungseffekte