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Ausgabe:

1969

Spalte:

782-784

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pertiet, Martin

Titel/Untertitel:

Das Ringen um Wesen und Auftrag der Kirche in der nationalsozialistischen Zeit 1969

Rezensent:

Meier, Kurt

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781

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 10

782

Meier, Kurt: Kirche und Judentum. Die Haltung der evangelischen
Kirche zur Judenpolitik des Dritten Reiches. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht (Lizenzausg. d. Verlags Niemeyer,
Halle) [1968]. 153 S. 8°. Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes
, hrsg. v. H. Brunotte u. E. Wolf, Ergänzungsreihe,
Bd. 7.

Das Buch hat drei Teile: einen darstellenden, der als Thema
durch den Untertitel des Buches gekennzeichnet ist, ihm folgt ein
Dokumententeil (I. zur Judenpolitik des Dritten Reiches; II. zur
Haltung der ev. Kirche in der Judenfrage); der letzte Teil bringt
eine forschungsgeschichtliche Untersuchung über die Interpretationen
, die Luthers Judenschriften gefunden haben.

Obwohl der darstellende Hauptteil dem Kenner der Materie
nichts Neues bringt, so ist diese Zusammenfassung des z.T. weit
zerstreuten Stoffes doch keineswegs nur eine Reportage, sondern
in der Verarbeitung des bereits Vorhandenen eine historische und
theologiegcschichtliche Interpretation. Es ist bekannt, daß die ev.
Kirche in Deutschland vor 1933 keine einheitliche Auffassung in
der Stellung zur Judenfrage besaß. Treitschke und vor allem
Stoecker haben nach 1918 im nationalen deutschen Protestantismus
unterschwellig fortgewirkt, nur in wenigen Gebieten, die stärker
von Pietismus und Erweckung berührt waren, haben eschatolo-
gischc Motive und ein missionarisches Moment einen latenten,
wenn auch inaktiven Antisemitismus überdeckt. Die Propaganda
des Nationalsozialismus stellte die deutsche Christenheit und ihre
Kirchenführer, Pastoren und Theologen vor eine Frage, der sie,
von wenigen einzelnen abgesehen, biblisch-theologisch kaum gewappnet
waren. Auch die Bekennende Kirche hat trotz Pfarrernotbunderklärung
(die sich ja nur auf die Judenchristen bezog)
manche theologische Unsicherheit gezeigt und ist erst sehr spät,
in Einzelstimmen sowie durch mutige Erklärungen der letzten
Preußensynoden, zu klaren Stellungnahmen gekommen. Die Arbeit
von Meier kann in ihrer gedrängten Zusammenfassung des geschichtlichen
Verlaufs vielen, namentlich jüngeren Gliedern der
Kirche, eine wertvolle Hilfe für eigene Urteilsbildung bieten.
Freilich hätte ich an manchen Stellen gewünscht, dafj er das
kritische Räsonncment noch vernehmlicher zum Ausdruck gebracht
hätte. An ihm gut bekannten Unterlagen hätte es nicht gefehlt.
In dem gut ausgewählten Dokumentenanhang hätte ich gewünscht,
dafj als erstes gedrucktes Beweismittel für die nie zweifelhafte
Stellung der Vertreter der dialektischen Theologie ein Auszug
aus dem vorzüglichen Aufsatz von Richard Karwehl, Politisches
Messiastum (ZZ 1931,419-443) gebracht worden wäre. Für das
Jahr 1933 ist auch nicht nur Bonhocffer zu nennen, sondern vor
ihm Heinrich Vogel, den Meier nicht erwähnt, mit seinem Aufsehen
erregenden Artikel „Kreuz und Hakenkreuz", und schließlich
Ende des Jahres Karl Barth selber mit seiner Predigt über
Rom. 15,5-13 (ThExh, 1933, H. 5).

Der angehängte Exkurs über Luthers Judenschriften ist verständlich
. Denn sowohl Julius Streichers Kolonnen wie orthodoxe
Lutheraner haben sich, wenn auch unter verschiedenen Araumen-
tationen auf den Wittenberger Meister berufen. Meier gibt eine
sehr eingehende Erörterung der theologischen Diskussion der
letzten rund anderthalb Mcnschcnalter. Sie ist überaus interessant
und lehrreich. Ich muß iedoch gestchen, daf) mir nicht deutlich
wurde, zu welchem Urteil der Verfasser nun selber kommt. M. E.
wt das Urteil über Luthers Judcnschriften weder ein biographisches,
noch ein theologisches Problem. Die Ehrfurcht vor dem Reformator
darf nicht dazu führen, ihn auf alle Fälle „verstehen" zu wollen.
°ie Binsenwahrheit, dafj wir ihm heute in seinen Spätschriften
nicht zu folgen vermögen, bedarf keiner besonderen Ecoründung.
Traurig genug, daß das Luthertum meinte, ihm darin überhaupt
einmal folgen zu müssen. Die Stellungnahme zu diesen Schriften
'•egt auf derselben Ebene wie die zu seinen Schriften zum Bauernkrieg
und zu Thomas Müntzer. Würde man Luther unbefangener
gegenübertreten und seine zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedenen
Äußerungen mit erheblich weniger theologischem Tiefsinn auf
~* Waagschalen der Gerechtigkeit zu verlegen suchen, dafür aber
das bei ihm nicht wegzudenkende historisch politische und nicht
zuletzt sozial-politische Moment stärker bedenken - der Reformator
verliert dabei gar nichts - dann würde das Rätselraten,
ob und warum er sich gewandelt oder nicht gewandelt habe,
erheblich an Gewicht verlieren. Denn nicht alles, was Luther
gesagt oder geschrieben hat, war immer theologisch. Und was

heißt schließlich „theologisch" - bei Luther? Das sollte jedenfalls
der Historiker der Kirche bedenken.

Berlin Karl K u p i s c h

P e r t i e t, Martin: Das Ringen um Wesen und Auftrag der Kirche
in der nationalsozialistischen Zeit. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1968. 339 S. gr. 8" = Arbeiten zur Geschichte des
Kirchenkampfes, in Verb. m. H. Brunotte u. E. Wolf hrsg. v.
K. D. Schmidt, 19. Kart. DM 34,-.

Bei der Arbeit handelt es sich um eine von der Hamburger
Theol. Fakultät 1964 angenommene Dissertation; sie trägt auch
darin den Stempel ihres Betreuers K. D. Schmidt, daß sie dessen
Vorliebe für problemgcschichtliche Darstellungsweise widerspiegelt
. Wie andere von ihm angeregte Monographien hilft auch die
vorliegende Untersuchung, ein Desiderium kirchlicher Zeitgeschichte
erfüllen: das Kirchenkampfgcschehen nicht lediglich
episodär zu sehen, sondern auf Probleme hin zu befragen, die
den übergreifenden Zusammenhang in seinen Wandlungen verdeutlichen
. Fragestellungen, deren konkrete Ausformung gewiß
situationsbedingt ist und als Applikation oder Auseinandersetzung
mit dem Zeitgeist verständlich wird, werden unter dem Blickpunkt
geistes- und theologiegeschichtlicher Genese gesehen. Daß
es gilt, die Wurzeln freizulegen, die etwa in dem theologischen
Umbruch nach dem ersten Weltkrieg, aber auch in Traditionen
des 19. Jahrhunderts ihren Nährboden haben, wird mehr und
mehr erkannt. Die (ebenfalls hamburgische) Promotionsschrift
von H.-J. Reese über „Bekenntnis und Bekennen im 19. Jahrhundert
und im Kirchenkampf", deren Publikation bevorsteht, zeigt
diese theologiegeschichtliche Verankerung schon im Thema.

Auch M. Pertiet bemüht sich im Rückgriff auf Erscheinungen
des vorigen Jahrhunderts, Traditionslinien deutlich zu machen.
Dabei entgeht er der Gefahr, bei dem Hinweis auf nationalkirchliche
Gedanken und Bestrebungen der nationalen Erhebung
der Befreiungskriege (Fichte, Jahn, E. M. Arndt) Ahnenreihen des
Nationalsozialismus zu konstruieren, wenngleich er im Anschluß
an die Literatur „Ähnlichkeit der Gedanken vor allem bei Arndt
und den Thüringer Deutschen Christen" (17) konstatiert. Es ist
wichtig genug, daß der Aufweis von partiellen Analogien den
historischen Kontext und soziologischen Ort nicht übersieht; auch
die Möglichkeit einer epigenetischen Entwicklung muß ins Auge
gefaßt werden und kann vor kurzschlüssigen geistesgeschichtlichen
Kausallinien bewahren. Die volkskirchlichcn Bestrebungen, die
ein enges Mit- und Zueinander von Kirche und Volk zum Ziele
hatten, sieht der Verfasser bei Schleiermacher und Wichern vorgezeichnet
. Die kirchlichen Einigungsbemühungen seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts werden als ein weiterer Strang volkskirchlichen
Verständnisses angesehen, das als Erbe des 19. Jahrhunderts
auch den Nachkriegsprotestantismus bestimmt und sich
im Drängen auf „Kirchenreform" auswirkt. Neben dem Leitbild
der „Nationalkirche" und der „Volkskirche" wird auch das Phänomen
der „Bekenntniskirche" im 19. Jahrhundert anvisiert. Die
durchaus differenzierte Ekklesiologie des „Neuluthertums" (Vilmar,
Löhe, Harleß, Theodosius Harnack u.a.) brachten ebenso Spannungsmomente
mit sich wie die Tatsache, „daß die konfessionellen
Theologen den objektiven Charakter der Kirche betonten,
während die von der dialektischen Theologie her bestimmten
Theologen den Ereignischarakter der Kirche hervorhoben": „So
gründeten sich die Entscheidungen und Stellungnahmen des konfessionellen
Luthertums im Kirchenkampf, wenn auch nicht ausschließlich
, so doch wesentlich, auf die Lehre von der Kirche, die
die lutherisch-konfessionelle Theologie des 19. Jahrhunderts in
Auseinandersetzung mit dem Kirchenbegriff Luthers und der
Bekenntnisschriften entwickelt hatte" (30).

Die für die Arbeit kennzeichnenden systematischen Fragestellungen
des Themas werden in den historischen Rahmen eingeordnet
und entsprechend angegangen. In präziser Diktion und
unter sorgfältiger Auswertung der Literatur rücken auch für die
Zeit nach 1918 die jeweils typischen Kirchenbegriffe ins Blickfeld:
das „ereignishafte" Kirchenverständnis der Dialektiker, Bonhocffers
damals freilich kaum beachtete Auffassung von der Offenbarungsrealität
der Kirche („Christus als Gemeinde existierend"), den
etwa von O. Dibelius literarisch vertretenen ekklesiologischcn
Positivismus des .Jahrhunderts der Kirche", sowie bruderschaft-