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Ausgabe:

1969

Spalte:

779-780

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pauck, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Harnack and Troeltsch 1969

Rezensent:

Schott, Erdmann

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Seite 1

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779

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 10

780

Angaben über spätere Nachdrucke. Hier bleiben keine Wünsche
offen und man sieht die lange wissenschaftliche Erfahrung des
Herausgebers.

Die Gliederung des Gesamtwerkes erfolgt nicht chronologisch,
sondern systematisch in sechs Abteilungen: 1. Schriften, von
Müntzer selbst in den Druck gegeben, 2. Briefwechsel, 3. Nachgelassene
Schriften und Aufzeichnungen, 4. Bekenntnis und Widerruf
, 5. Nachrichten zu Müntzers Leben, 6. Nachträge. Diese Einteilung
hat ihre sachlichen Gründe, wird doch so z. B. nicht das
ganze Briefcorpus auseinandergerissen oder auch die von Müntzer
selbst zum Druck gegebenen Schriften, die einen anderen Quellenwert
als etwa die nachgelassenen und damit später gedruckten
Werke haben. Andererseits wird es so schwerer, den Entwicklungsweg
vom jungen Müntzer bis hin zum radikalen Reformer
auf Grund seiner eigenen Aussagen, seiner Selbstzeugnisse zu
verfolgen. Trotzdem ist der von Franz eingeschlagene Weg durchaus
zu rechtfertigen, auch wenn dadurch die Kuriosität entsteht,
daß ausgerechnet Müntzers ,Sendbrief an die Brüder zu Stolberg'
vom Juli 1523 an der Spitze des gesamten Werkes steht. Dieser
Sendbrief hat bekanntlich den genauen weiteren Titel „... unfuglichen
auffrur zu meiden", d. h. Angehörigen, unbilligen' Aufruhr
zu vermeiden, wobei man „unfuglich" leider vergeblich im Glossar
sucht. Mit dieser Voranstellung soll keineswegs an einen antirevolutionären
Müntzer in Allstedt gedacht werden, doch liegt
damit schon die Gefahr einer solchen Systematisierung auf der
Hand, zumal man die Stücke aus der Frühzeit Müntzers ab 1514
erst am Schluß des Bandes findet.

Jeder Herausgeber wird den für ihn am besten gangbaren
Weg selbst herauszufinden haben, weswegen diese Erwägungen in
keiner Weise das hervorragende Verdienst von Günther Franz
an der Müntzerforschung schmälern sollen. Müntzers gesamte
Werke sind nunmehr endlich und endgültig in einer ausgezeichneten
, allen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werdenden
Ausgabe verfügbar, wofür dem Herausgeber hohe Anerkennung
zu zollen ist.

Berlin Hans-Ulrich Dolius

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Pauck, Wilhelm: Harnack and Troeltsch. Two Historical Theo-
logians. New York: Oxford University Press 1968. X, 131 S. 8°.
Lw. $ 4,50.

P. würdigt in zwei biographischen Skizzen Adolf von Harnack
und Ernst Troeltsch als „Geschichtstheologen". Er zeichnet kurz
Harnacks Lebensweg: Geboren in Dorpat 1851, Privat-Dozent in
Leipzig 1874, Professor in Gießen 1879, in Marburg 1886 und
seit 1888 in Berlin trotz Einspruch des Evangelischen Oberkirchenrates
. Die Ablehnung durch die offizielle Kirche ,/warf einen
Schatten auf Harnacks akademische Stellung" (S. 5). Obwohl er
Jahrzehnte lang der einflußreichste theologische Lehrer war, blieb
er doch von theologischen Prüfungen ausgeschlossen. 1890 wurde
Harnack Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften,
dort begeistert begrüßt von Theodor Mommsen. Zusätzlich zu
seinem Professorenamt übernahm er zwei weitere Ämter: 1906
das des Generaldirektors der Königlichen Bibliothek (= Preuß.
Staatsbibliothek) und 1911 das des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft (= Max-Planck-Gesellschaft). Aber in erster Linie
blieb er immer Kirchenhistoriker und Theologe (S. 13). Das Geheimnis
von Harnacks gewaltigem Einfluß sieht P. darin, daß er
„ein, ungewöhnlich begabter Lehrer" war (S. 14). Deshalb war er
das, was er war, und brachte er seine großen Werke in der Weise
hervor, wie er es tat. Als Lehrer war Harnack Historiker und als
Historiker Lehrer (S. 17). Als ein „Lehrer-Historiker" (S. 18) von
hohen Graden versuchte er nicht zu erzählen, „wie es eigentlich
gewesen" (S. 20), sondern bei aller Wahrung objektiver Forschung
das Wertvolle aus der Vergangenheit der gegenwärtigen Generation
zu vermitteln. In diesem Sinne nimmt nach ihm der
Historiker „die königliche Funktion eines Richters" wahr (S. 19).
Bestes Beispiel für diese Aufgabenstellung ist nach P. Harnacks
Dogmengeschichte (S. 22). Harnack schilderte die Entstehung und
Entwicklung des Dogmas, um zu zeigen, daß das Evangelium
heute von der Gleichsetzung mit dem Dogma befreit werden muß

(S 23). Er hoffte, theologischen Dogmatismus durch historisches
Verstehen ersetzen zu können (S. 27). Er steht dabei in einer Linie
mit Johann Salomo Semler, Ferdinand Christian Baur und Albrecht
Ritsehl (S. 26). Jedoch würde man ihn mißdeuten, wenn man
meinte, er sehe das Wesen des Christentums schlechthin in den
Lehren Jesu (S. 28). Auch die Person Jesu, allerdings entkleidet
von allem metaphysischen Glanz des Dogmas, erkennt er als
einzigartig an: Jesus ist für ihn nicht „ein Meister unter anderen,
sondern der Meister" (S. 31). Harnacks Programm findet sich am
knappsten in einem Memorandum an den Kultusminister vom
27.11.1888 ausgesprochen: „Das Dogma muß durch die Geschichte
gereinigt werden" (S. 34). Die Reformatoren gingen nicht weit
genug: sie ließen das Dogma unangetastet (S. 35). Das traditionelle
dogmatische Christentum muß durch ein undogmatisches
ersetzt werden. Dazu ist vor allem dreierlei nötig: die Entfernung
des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon, die Absage, an
das altkirchliche christologische Dogma und die Einheit der
Christenheit (Harnack setzte auf die ökumenische Bewegung große
Hoffnungen).

Von Ernst Troeltsch spricht P. mit der Begeisterung eines
Jüngers. Er bekennt, durch Troeltsch' Vorlesungen in den Jahren
1920 und 1921 in Berlin den Anstoß bekommen zu haben, sich
der Theologie als "a full-time Student" zuzuwenden (S. 45).
Troeltsch, 1865 in Augsburg als Sohn eines Arztes geboren, begann
1884 das Studium der Theologie in Erlangen. Gemeinsam mit
seinem Freunde Wilhelm Bousset ging er von dort nach Göttingen,
wo damals noch Albrecht Ritsehl lehrte. Troeltsch und Bousset
waren „Ritschis letzte Schüler" (S. 55). Aber sie empfanden bald
die Einseitigkeit Ritschis und öffneten sich dem Einfluß von Paul
de Lagarde, der die Kontinuität zwischen Reformation und Neuzeit
bestritt (S. 56). 1890 wurde Troeltsch Privat-Dozent in Göttingen
, 1892 Professor in Bonn und 1894 in Heidelberg, wo er bis
1915 den Lehrstuhl für Systematische Theologie innehatte. Zwei
wichtige Probleme wollte Troeltsch lösen: 1. das Wesen der Religion
im Zusammenhang mit der menschlichen Geistesentwicklung,
2. die historische Entwicklung des religiösen Geistes in seiner
Einbettung in den universalen Lebensprozeß (S. 58). Das zweite
Problem war zu umfassend, als daß ein Einzelner es hätte lösen
können. Daher schränkte es Troeltsch ein auf das Christentum in
seinem Zusammenhang mit der westlichen Kulturgeschichte.
Troeltsch lehnte den Supranaturalismus in jeder Form ab; das
Christentum war für ihn eine Religion unter anderen Religionen
(S. 62). Ein Freund der Kirchenleitungen war Troeltsch nicht; sie
waren ihm zu konservativ und zu autoritär (S. 64). An der These
von der Absolutheit des Christentums konnte Troeltsch von seinen
Voraussetzungen her nicht festhalten ■ Alle Hochreligionen beanspruchen
„Absolutheit", diese Absolutheitsansprüche relativieren
sich gegenseitig, wenn Troeltsch auch bereit war, dem Christentum
wegen seiner Ethik eine gewisse Superiorität zuzuschreiben
(S. 68). Die enge Freundschaft mit Max Weber, die 1914 in die
Brüche ging, inspirierte Troeltsch zu seinem Hauptwerk: „Die
Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen". 1915 folgte
Troeltsch einem Ruf an die Philosophische Fakultät in Berlin, wo
er eine lebhafte wissenschaftliche und politische Tätiqkeit entfaltete
. 1922 erschien sein letztes großes Werk: „Der Historismus
und seine Probleme". Tief davon durchdrungen, daß in der modernen
Welt alles menschliche Leben historisiert worden ist, versuchte
er zu zeigen, wie „Historie durch Historie überwunden
werden kann" (S. 85). um dadurch der Anarchie d"r Werte, dem
Skeptizismus und Nihilismus zu entgehen. Durch lebendige historische
Entscheidungen muß das Kulturerbe von jeder Gegenwart
angeeignet werden, „es muß verstanden, gewertet und beurteilt
werden".

Ein Appendix „Harnacks Würdigung durch Troeltsch und
Troeltschs Würdigung durch Harnack" enthält den Beitrag von
Troeltsch zur Harnackfestschrift 1921: „Adolf von Harnack und
Ferdinand Christian Baur" und die Grabrede, die Harnack am
3.2.1923 Troeltsch gehalten hat, - beide in englischer Übersetzung
.

P.s lebendig geschriebenes Buch ist geeiqnet, die Fragen und
Aufgaben, die uns durch Harnack und Troeltsch gestellt sind, der
heutigen Generation nahezubringen.

Halle / Saale Entmann Schott