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Ausgabe:

1969

Spalte:

53-54

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Raeder, Siegfried

Titel/Untertitel:

Die Benutzung des masoretischen Textes bei Luther in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Psalmenvorlesung (1515 - 1518) 1969

Rezensent:

Beintker, Horst

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 1

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KIRCHENGESCHICHTE: REFORMATIONSZEIT

R a e d e r, Siegfried: Die Benutzung des masoretischen Textes bei
Luther in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Psalmenvorlesung
(1515-1518). Tübingen: Mohr 1967. VIII, 117 S. gr. 8n
= Beiträge zur historischen Theologie, hrsg. v. G. Ebeling, 38.
DM26,-.

Die wichtigste Frage für die gegenwärtige protestantische Theologie
in bezug auf ihr Selbstverständnis im Gegenüber zur römisch
-katholischen Theologie nach Vaticanum II ist die theologische
Beurteilung ihrer Wurzeln in der Reformationszeit, weil daran
die sachgegründete Eigenbedeutung reformatorischer Erkenntnis
hängt. Ein Beitrag für die Herausstellung der Eigenbedeutung
Luthers für das Werden der reformatorisch-protestantischen Schriftauslegung
ist die zu besprechende Untersuchung des Tübinger
Kirchenhistorikers, der in BHTh 21 das Hebräische bei Luther bis
1515 als vertraut aus 15 verschiedenen Übersetzungen des hebräischen
Psalmentextes nachwies. Die Bezugnahme auf den hebräischen
Text selbst weist Racder gegen bisherige Urteile in der
vorliegenden Arbeit weiter nach. Die Auseinandersetzung führt er
insbesondere mit H. Vclz und G. Krause, dessen Annahme einer
»höchst rar" erfolgten »Urtextbenutzung" (3) auch noch für die erste
Psalmenvorlesung zurückgewiesen wird. Vielmehr habe Luther »anscheinend
etwa von der zweiten Hälfte seiner Psalmenvorlesung an
m seltenen Fällen und unregelmäßig den hebräischen Grundtext
benutzt". Doch ist, wie Raeder als gründlicher Kenner der frühen
Exegetica Lutheri m. E. richtig argumentiert, der Einfluß des
hebräischen Sprachgeistes und des Alten Testamentes gerade über
das Sprachliche auch schon unabhängig vom masoretischen Text
■nächtig geworden. Wenn Luther den masoretischen Text zu entziffern
versuchte, und „daneben, auf seine Hilfsmittel gestützt,
weiterhin auf indirektem Wege zur Kenntnis des Urtextes zu kom
nien suchte und dabei auch falschen Schlüssen zum Opfer fiel, so
zeigt dies nur, wie mühevoll und in seinen Augen vielleicht auch
nicht der Mühe wert es ihm war, stets den Urtext selbst zu
befragen" (4).

In der Tat ist Luthers Verhalten nidit unverständlich, trotz ungenügender
Ausrüstung den masoretischen Text heranzuziehen. Raeder
bemüht sich nachzuweisen, »daß Luther auch nach seiner ersten
Psalmenvorlesung, jedoch noch vor Erscheinen des Basler Hebrai-
curn Psalterium (1516] den masoretischen Text herangezogen hat"
(6). Methodisch überzeugend und in minutiöser Präzision legt
Raeder seine Untersuchungsergebnisse vor. Für die ausgewerteten
Lutherquellen (Römerbriefvorlesung, Psalmenbearbeitung von
•516', GalaterbriefVorlesung, Bußpsalmenauslegung, Hebräerbrief-
v°rlesung, Auslegung des 109. (110.) Psalms (1518)), Predigten des
Jahres 1517/18) sind ausführliche Register angelegt (100-117).

°ie untersuchten Quellen zeigen Luthers Rückgriff auf den
hebräischen Grundtext, vereinzelt in den Dictata super Psalterium,
'"ehr im Römerbriefkommentar, vor allem bei Psalmenzitaten,
erst recht bei der Psalmenbearbeitung von 1516, der Raeder überhaupt
die umfänglichsten Wortuntersuchungen und Vergleichungen
widmet. Hier liegt gewiß eine entscheidende Wende in Luthers
Entwicklung'. Einzelnes kann dazu nicht ohne eigene Quellen-
uiterpretation bemerkt werden. Mir scheint die vorsichtige Argumentation
stichhaltig und die vorgeschlagene Einzeldatierung der
Stücke im ganzen zutreffend zu sein. Ob Luthers Selbstbezeichnung
a's collector Psalterii soviel ausgibt, wie Raeder S. 25 rekonstruiert,
lst mir etwas fraglich. Man muß weitere Indizien für die zeitliche
Ansetzung der einzelnen Psalmenauslegungsstücke zu gewinnen
■suchen, wenngleich die beobachteten Fortschritte in bezug auf das
Hebräische gewichtig sind (24-57.81-96).

Uberzeugend und für den ganzen von mir eingangs angedeuteten
Sachverhalt wichtig ist Reeders Ergebnis: „Luther studiert den
Urtext, weil es ihm schon" 1516 darum geht, „die Hebraica proprie-
tas bestimmter Vokabeln genau zu erfassen. Von diesem Anliegen

') Bei der Psalmenbearbeitung von 1516. dem Stück zu Ps 1 und Ps 4 im Dreide
ncr Psalter, den Scholien zu Ps 23-35 und dem Vatikan. Fragment ist mein Ansatz
z,'9runde gelegt und bestätigt (cf WZ Grcifswald t, H. 8-9. 1951/52, S. 70-78).

* Eine sorgsame Heranziehung der Ergebnisse Raeders erfolgt im Zusammen
J*l der von mir vorbereiteten Edition der Vatikanischen Fragmente in WA. Ober
d'« murj die im Vorwort und brieflich angekündigte SpezialStudie über Psalm 5
•'Wartet werden.

her übt er an der Vulgata heftige Kritik, weil sie die verschiedenen
Bezeichnungen für ,Sünde' konfus und inkonstant wiedergäbe. Die
von Reuchlin angegebenen und in den Übersetzungen vorliegenden
Äquivalente hebräischer Worte dienen Luther nur als Basis für
theologisch-exegetische Begriffsanalysen. Dabei geht Luther von
der Deutung aus, die das Alte Testament in den Schriften des Neuen
Testaments erfahren hat". Wenn Vf. seine Aufgabe auch nicht in der
Darstellung der „theologischen Auswirkungen der Benutzung des
Urtextes" (82) sah und sich auf den Nachweis der Kenntnis und Be
nutzung hebräischer Vokabeln und Grammatik bei Luther beschränkte
, so bringt seine Arbeit dennoch nicht nur quellenkritische
und philologische Ergebnisse. Man empfängt unter dem Einzel
Studium dieser äußerst sorgsamen Darstellung den Eindruck, daß
und wie Luther als Lehrer der Heiligen Schrift der Bibel selbst -
und das heiße, wie Vf. im Vorwort bemerkt, „auch dem Alten
Testament" - trotz Traditionsgebundenheit „durchaus echte Erkenntnisse
abgewonnen hat, die ihn in den Stand setzen, sich von
der Herrschaft sehr mächtiger Traditionen zu befreien". - Es ist
Raeder wohl zuzustimmen, daß „in diesem exegetisch-theologischen
Ringen Luthers" dem Sprachlichen, „vor allem dem Hebräischen,
durch das ja Terminologie und Denkweise der Bibel geprägt sind,
eine Bedeutung" zukomme, „die nicht unterschätzt werden sollte".
Aber gerade dies wird ein weiterzuführender DiskussionspunHt
bleiben.

Jena Horst B e i n t k e r

Hennig, Gerhard: Cajetan und Luther. Ein historischer Beitrag
zur Begegnung von Thomismus und Reformation. Stuttgart:
Calwer-Verlag (1966). 183 S. gr. 8° = Arbeiten zur Theologie,
hrsg. v. T. Schlatter mit A. Jepsen u. O. Michel, II, 7. Lw.
DM 18,-.

Über C. als Kontroverstheologen ist in letzter Zeit öfters geschrieben
worden1; um so erfreulicher, daß nun dem Thema C. und
Luther eine Monographie gewidmet worden ist. Das klar und leserlich
geschriebene Buch (nur selten verunstaltet durch Wortgreucl
wie „sakramentaler Verbismus", oder „Kontritionalismus", z. B.
S. 52f, 80) hat den großen Vorzug, nicht so sehr den Thomismus
überhaupt, sondern streng historisch die Theologie C.s mit der Reformation
zu konfrontieren, d. h. eine Begegnung zu beschreiben,
die wirklich stattgefunden hat.

Es ist erstaunlich viel, was der Vf. gefunden hat. Er setzt bei der
Lehre von Papst und Kirche ein, wie C. sie gegen Pisa und Almain
ausarbeitete. Schon hier sieht man die themistische Lehre von der
Kirche, in der sich die Christusherrschaft durch die päpstliche
Petrusgewalt verwirklicht. Dem entspricht auch C.s Reformideal,
die Kirche zu diesem ihrem päpstlichen Wesen zurückzuführen,
wenn nötig, auch durch eine Reform des Papsttums selbst (S. 36).

Von hier aus geht Vf. auf C.s Augsburger Legation ein. Vor allem
aber analysiert er die 15 damals entstandenen Traktate C.s. Wesentlich
ist auch hier, wo es hauptsächlich um die Sakramentslehre
geht, der bereits erwähnte ekklesiologische Grundgedanke. Das
Handeln Gottes hängt mit der letztlich päpstlichen Vollmacht des
Priesters zusammen; zugleich aber bedingt die Sakramentslehre
einen Zweifel des Gläubigen am eigenen Heil, weil (nach thomi-
stischem Grundsatz) das Handeln Gottes zwar sicher, die Mitwirkung
des Gläubigen aber um so zweifelhafter wird, je mehr er sich
in echter Demut beurteilt. Obwohl C. damals erst wenige Texte L.s
kannte, dieser auch seine Position damals noch nicht voll ausgearbeitet
hatte, habe C. den Gegensatz klar erkannt. Das Entscheidende
war für L. das aus sich selbst gültige göttliche Promissionswort
, das der Christ nur im gewissen Glauben aufnehmen kann.

Auch das Augsburger Gespräch und L.s schriftliche Verantwortung
- beides Zeichen, daß C. über seinen Auftrag hinaus zu einem
theologischen Gespräch bereit war - machten diesen Gegensatz
deutlich, z. B. anläßlich der Interpretation der Extravagante „Uni-
genitus" v. J. 1343, der Frage um die Autorität von Schrift und
Kirche. Dasselbe gilt ebenfalls für die folgenden Jahre: Für L. bringen
sie den Weg „vom Wort des Sakraments zum Sakrament des

') Johannes Beumer: Suffiziens und Insuffizienz der hl. Schrift nach...
Cajetan (in: Gregorianum 1964. S. 816-824): O. de la B rosse: Le Pape et le
Concile (= Unam Sanctam Bd. LVIII) Paris 1965. A. W a 1 z: Von Cajetans Gedanken
über Kirche und Papst (In: Volk Gottes. Festgabe für J. Häfer, Freiburg i. B.
1967, S 336-360).